Zerfallskanal

Zerfallskanal

Als Zerfallskanal bezeichnet man in der Physik eine Möglichkeit eines instabilen Teilchens oder Systems - zum Beispiel eines Elementarteilchens, eines radioaktiven Atomkerns oder eines Compoundkerns - in bestimmte andere Teilchen zu zerfallen, d. h. sich umzuwandeln. Als Teilchen zählen dabei auch z.B. Photonen; ein Zerfall muss nicht mit einer Abgabe von Masse verbunden sein.

Beispielsweise hat der Atomkern von Kalium-40 (in seinem Grundzustand) drei Zerfallskanäle: Er kann sich umwandeln

Mehr als ein Zerfallskanal am selben System wurde zuerst an einem Radionuklid entdeckt, das sowohl Alpha- als auch Betastrahlung abgibt (siehe unten, Geschichtliches). Viele andere Radionuklide weisen z. B. die beiden Zerfallskanäle Alphazerfall und Spontanspaltung auf. Allgemein werden solche Fälle mit zwei Kanälen manchmal als dualer Kernzerfall bezeichnet.

Inhaltsverzeichnis

Zerfallskonstante und Verzweigungsverhältnis

Jeder Zerfallskanal ist gekennzeichnet durch eine bestimmte Zerfallskonstante λ (griech. Buchstabe Lambda), d. h. Wahrscheinlichkeit pro Zeiteinheit für den Zerfall in diesen Kanal. Ihre Dimension ist die einer inversen Zeit, die übliche Maßeinheit 1/s.

Gibt es mehrere Zerfallskanäle, so addieren sich deren einzelne (partielle) Zerfallskonstanten zu einer totalen Zerfallskonstante λ tot. Diese ist die Wahrscheinlichkeit pro Zeiteinheit dafür, dass das System in irgendeinen der Kanäle zerfällt:

 \lambda_1 + \lambda_2 + \lambda_3 + \dots = \lambda_\mathrm{tot} \,.

Der Wert von λ – bei Bestehen mehrerer Kanäle stets λtot – bestimmt im Zerfallsgesetz, wie schnell oder langsam die Substanzmenge (und damit auch ihre Aktivität) abnimmt.

Die Größe

B_i = \frac{\lambda_i}{\lambda_\mathrm{tot}}

heißt Verzweigungsverhältnis (engl.branching fraction oder branching ratio) des Kanals i. Sie wird z. B. in Prozent angegeben und beschreibt, welcher Bruchteil aller Zerfallsereignisse in diesen Kanal führt.

Lebensdauer, Halbwertszeit, Zerfallsbreite

Der Kehrwert der totalen Zerfallskonstante ist die mittlere Lebensdauer τ (griech. Buchstabe tau):

 \tau = \frac{1}{\lambda_\mathrm{tot}}.

Nach der Zeit τ ist nur noch der Bruchteil 1/e = 1/2,71828... der anfänglichen Substanzmenge vorhanden.

Die Halbwertszeit T1/2 ist kürzer, etwa 69 % von τ:

T_{1/2} = \tau \cdot \ln 2 = \tau \cdot 0{,}6931\dots

Sehr kurze Lebensdauern werden insbesondere in der Teilchenphysik oft in der Form von Zerfallsbreiten gemessen und angegeben.

„Partielle Halbwertszeit“

Formal lässt sich auch zu jeder partiellen Zerfallskonstante eine entsprechende „partielle Lebensdauer" und „partielle Halbwertszeit“ berechnen. Dies wäre die Zeit, in der die Substanzmenge auf 1/e bzw. 1/2 abnähme, wenn der betreffende Zerfallskanal allein existierte. Da in Wirklichkeit die anderen Zerfallskanäle nicht „abgeschaltet“ werden können, sind diese partiellen Zeitdauern fiktive, nicht beobachtbare Größen. Trotzdem wird die partielle Halbwertszeit wegen ihrer Anschaulichkeit in manchen Lehrbüchern erwähnt.[1] Sie kann aus der gemessenen Halbwertszeit (die dann „effektive“ oder „totale“ Halbwertszeit genannt wird) zusammen mit den gemessenen Verzweigungsverhältnissen berechnet werden.

Zerfallskanäle innerhalb einer Zerfallsart

Bei radioaktiven Umwandlungen müssen manchmal auch noch innerhalb der gleichen Zerfallsart des gleichen Nuklids verschiedene Fälle unterschieden werden, wie beispielsweise

  • Alphazerfälle zu verschiedenen Energieniveaus des Tochterkerns,
  • Spontanspaltung mit Erzeugung eines bestimmten Spaltprodukts oder Spaltfragmentpaars
  • oder mehrstufige Gammazerfälle (sog. Kaskaden), die über verschiedene Zwischenniveaus verlaufen und daher Gamma-Spektrallinien verschiedener Energien ergeben.

Sie werden i. Allg. nicht als Zerfallskanäle bezeichnet, unterliegen aber den gleichen Regeln. Bei Gammalinien wird die dem Verzweigungsverhältnis entsprechende Größe, die Zahl der Photonen dieser Energie pro Zerfall, oft Intensität genannt und mit I oder Iγ bezeichnet.[2]

Datensammlungen

Für Elementarteilchen bekommt man eine Übersicht der verschiedenen Zerfallskanäle und Zerfallswahrscheinlichkeiten in dem von der Particle Data Group herausgegebenen Review of Particle Physics oder in dessen Kurzfassung, dem Particle Physics Booklet.

Für Radionuklide sind Halbwertszeiten und Zerfallskanäle z. B. in der Karlsruher Nuklidkarte angegeben. Verzweigungsverhältnisse und weitere Daten finden sich in dem umfangreichen Buch Table of Isotopes.[2]

Geschichtliches

Zwei verschiedene Zerfallskanäle desselben Radionuklids wurden erstmals 1906 von Otto Hahn während seines Aufenthalts im Laboratorium von Lord Rutherford in Montreal (Kanada) an dem Bismut-Isotop Bi-212 entdeckt (das Nuklid wurde damals noch zunächst als Thorium B, kurz darauf als Thorium C bezeichnet).[3][4][5].
Die nebenstehende Abbildung zeigt das Zerfallsschema von Bi-212[6].

Alpha- und Beta-Zerfallskanäle (dualer Kernzerfall) von Bi-212

Literatur

Einzelnachweise

  1. Lieser, Karl Heinrich, Einführung in die Kernchemie (1991); ISBN 3-527-28329-3
  2. a b Richard B. Firestone, Coral M. Baglin, ed.: Table of isotopes. 8th ed., 1999 update. New York: Wiley, 1999. VI, 218 S.; ISBN 0-471-35633-6-
  3. Hahn, Otto, Physikalische Zeitschrift Bd. 7, S. 412-419, 456-462 (1906)
  4. Rutherford, Ernest, Radioaktive Substanzen und ihre Strahlungen, S. 479 (1913)
  5. Hahn, Otto, Vom Radiothor zur Uranspaltung, S. 24/27 (1962)
  6. Lieser, Karl Heinrich, Einführung in die Kernchemie (1991); ISBN 3-527-28329-3

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем сделать НИР

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Elektroneneinfang — ist eine Art der Radioaktivität, bei der ein Atomkern sich in einen stabileren Kern umwandelt, indem er ein Elektron aus einer inneren Schale (Orbital) der Elektronenhülle einfängt. Als Formelsymbol des Vorgangs wird EC (für engl. electron… …   Deutsch Wikipedia

  • GIM-Mechanismus — Der GIM Mechanismus (nach Sheldon Lee Glashow, John Iliopolus, Luciano Maiani: 1970) gehört in die Teilchenphysik. Historisch gesehen war er der Grund, der zur Vorhersage des Charm Quarks führte. Man wusste damals, dass der Zerfallskanal ein sehr …   Deutsch Wikipedia

  • Radioaktivität — DIN 4844 2 Warnzeichen D W005 Warnung vor radioaktiven Stoffen oder ionisierenden Strahlen (auch auf abschirmenden Behältern)(1) …   Deutsch Wikipedia

  • Spontane Spaltung — (spontane Kernspaltung, auch Spontanzerfall, Spontanteilung; engl.: spontaneous fission) ist eine Kernspaltung, die als radioaktiver Zerfall eintritt. Ein schwerer Atomkern (Ordnungszahl 90 oder höher) teilt sich dabei ohne äußere Einwirkung also …   Deutsch Wikipedia

  • Zerfallswahrscheinlichkeit — Die Zerfallswahrscheinlichkeit gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Elementarteilchen in einem bestimmten Zerfallskanal zerfällt. Eine Übersicht der verschiedenen Zerfallskanäle und Zerfallswahrscheinlichkeiten bekommt man in dem von der… …   Deutsch Wikipedia

  • Anti-K-Meson — K− Klassifikation Boson Hadron Meson Eigenschaften Ladung −1 e Ruheenergie 493,677±0,013  …   Deutsch Wikipedia

  • Anti-Kaon — K− Klassifikation Boson Hadron Meson Eigenschaften Ladung −1 e Ruheenergie 493,677±0,013  …   Deutsch Wikipedia

  • Antikaon — K− Klassifikation Boson Hadron Meson Eigenschaften Ladung −1 e Ruheenergie 493,677±0,013  …   Deutsch Wikipedia

  • Branching Ratio — Die Zerfallsbreite ist eine besonders in der Kern und Elementarteilchenphysik verwendete Größe, die zur Beschreibung des Zerfalls kurzlebiger Teilchenzustände und Resonanzen genutzt wird. Nach dem Zerfallsgesetz gilt für eine Anzahl N gleicher,… …   Deutsch Wikipedia

  • Dilepton — Mit Dilepton bezeichnet man ein Paar von Teilchen, bestehend aus einem Lepton und einem Antilepton, seinem Antiteilchen. Dileptonen resultieren aus elektromagnetischen Zerfallsprozessen oder Zerstrahlungen. So hat zum Beispiel das neutrale Rho… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”