- Ära Kádár
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Die Ära Kádár prägte die Ungarische Volksrepublik zwischen 1957 und 1989. Der Name geht auf den Politiker János Kádár zurück, der das Land unter verschiedenen politischen Titeln vom 7. November 1956 bis zu seiner Absetzung am 20. Mai 1988 de facto leitete. Sein Einfluss auf die noch wenig erforschte neuste Geschichte des Landes ist immens; bereits zu Lebzeiten hatte er dem Regime seinen Namen verliehen.
Neben dem Begriff Ära Kádár (Kádár-korszak) werden auch die Ausdrücke Kádárismus (kádárizmus) und Kádár-System (Kádár-rendszer) als Synonyme verwendet.
Inhaltsverzeichnis
Konsolidierung zwischen 1956 und 1963
Nach der Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstands, während dessen Mátyás Rákosi sein Amt niederlegte, wurde Kádár von Moskau als politischer Führer Ungarns eingesetzt. Mit grausamer Vergeltung restaurierte er die Institutionen der Diktatur und gründete die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (MSZMP). So gelang es ihm auch, die sich neu formierenden stalinistischen Gegner im Zaum zu halten.
Die Politik der Vereinten Nationen und Westeuropas war in der sogenannten „ungarischen Frage“ eindeutig. Es sollte keine Rückkehr zur Politik vor 1956 geben und Rákosi, Ernő Gerő und ihre Genossen sollten in Ungarn keinen Einfluss mehr haben. Die Legitimation Kádárs, und damit des Regimes, war an den UNO-Beitritt gebunden. Allerdings verurteilten die Vereinten Nationen das System in ihrer Stellungnahme und die „ungarische Frage“ stand bis zum Kádár-Kompromiss auf der Tagesordnung.
Die ÁVH Staatsschutzbehörde – die am 6. September 1948 gegründete Abteilung des Innenministeriums, die Nachfolgeorganisation der vormaligen ÁVO (Magyar Államrendőrség Államvédelmi Osztálya, „Staatsschutzabteilung der Ungarischen Staatspolizei“) – wurde nach dem Volksaufstand 1956 nicht neu organisiert. Die ehemaligen Mitglieder der ÁVH konnten sich bei anderen exekutiven Staatsorganen melden. Sie wurden häufig bei der sich neu formierenden Polizei übernommen. Zu Beginn des Jahres 1957 wurde zudem eine neue, paramilitärisch strukturierte, bewaffnete Organisation gegründet. Es handelt sich hierbei um eine Einheit mit dem Namen Munkásőrség (Arbeiterwache). Sie war von Militär und Polizei unabhängig und unterstand direkt dem Zentralkomitee der Partei. Ihre Mitglieder waren meist Fabrikarbeiter, die eine ideologische wie praktische Schulung, einen Waffenschein und Handfeuerwaffen erhielten, und in grauen Uniformen bei Massenveranstaltungen neben der Polizei mit der Erhaltung der öffentlichen Ordnung beauftragt waren. Die Organisation Munkásőrség hatte bald 60 Tausend Mitglieder; einen Einsatzbefehl für ihre Dienste an der Waffe hat es nie gegeben.[1]
Im Interesse des Kompromisses mit der UNO erließ Kádár 1956 eine allgemeine Amnestie für die Verurteilten. Es dauerte aber bis zum 15. März 1963, bis etwa 80% der Gefangenen freigelassen wurden. Im Austausch wurde Ungarn international anerkannt und die Delegation und der Empfang von Botschaftern ermöglicht. Das System gestattete mehr private Freiheiten und Karrieremöglichkeiten, die strengen Barrieren politischer Aktivitäten wurden aber beibehalten. Dennoch wurde die „ungarische Frage“ im Austausch für die erweiterten Freiheiten von der Agenda der Vereinten Nationen gestrichen.
Der späte Kádárismus 1963-1979
Die Parteiführung nahm bis 1963 einen autoritären Stil an und strebte nicht mehr nach totalitärer Diktatur und vollständiger Überwachung. Kádár verkündete „wer nicht gegen uns ist, ist mit uns“ („aki nincs ellenünk, az velünk van”). Es war nicht mehr verpflichtend, an das System zu glauben, aber oppositionelle Handlungen, egal ob mit Worten oder in anderer Form, waren weiterhin verboten.
Einige Themen waren in der gelenkten Öffentlichkeit Tabu: die Legitimität und die ideologischen Grundlagen des Systems durften nicht in Frage gestellt werden, beispielsweise die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats oder die sowjetische Besatzung. Auch die innerhalb von Fabriken bestehende Arbeitslosigkeit, die weiter existierende Armut, die Bewertung der harten Linie Kádárs 1956, sowie die Person János Kádár selbst waren indiskutabel.
Die meisten Themen konnten jedoch praktisch in der unter Parteieinfluss stehenden Presse von Teilen der Intellektuellen kontrovers diskutiert werden. Andererseits breitete sich die Überwachung durch den ungarischen Staatssicherheitsapparat in der Bevölkerung aus und das Netz von Denunzianten wuchs, erreichte jedoch nicht annähernd Ausmaße wie in der DDR.
Die Wirtschaftspolitiker des Kádár-Regimes beschäftigte seit Beginn der 1960er Jahre die Umstellung der Produktion von der extensiven auf die intensive Phase, d. h. die Steigerung der Effizienz, Qualitätsverbesserung und Anpassung an den Markt. Mit der Planung der Reformen wurde der Wirtschaftspolitiker Rezső Nyers beauftragt. Seine Reformpläne wurden im Mai 1966 anerkannt und mit Beginn des Jahres 1968 eingeführt. Ähnliche Reformgedanken beschäftigten in den 1960er Jahren auch die Führung der sozialistischen Bruderländer DDR (Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung), Tschechoslowakei (Ota Šik: Der dritte Weg) und Bulgarien; dort wurde jedoch eine radikale Umgestaltung der Planwirtschaft nicht in die Praxis umgesetzt.
Die Wirtschaftsreformen unter Kádár (új gazdasági mechanizmus) brachten drei maßgebliche Veränderungen mit sich: 1. Verringerung der staatlichen Planung, mehr Autonomie für die Betriebe; 2. Reform der Preisentstehung (freie Preisentwicklung innerhalb staatlich festgelegter Höchst- und Minimalpreise); 3. Modifizierung der Löhne und Gehälter.[2] Vor dem Hintergrund der Restalinisierungspolitik von Leonid Breschnew wurde jedoch der Einfluss der ungarischen Reformsozialisten Rezső Nyers, Lajos Fehér, Jenő Fock und György Aczél ab 1972 eingeschränkt und der Reformeifer von Kádár stark relativiert.[3]
Das späte Kádár-Regime war von steigendem Lebensstandard gekennzeichnet, beispielsweise war es unter Vorbehalten erlaubt bis zu dreimal im Jahr in den Westen zu reisen, es wurden Unterstützungen für den Wohnungsbau gezahlt sowie die gesundheitliche Versorgung bessert. Die Quelle des Wachstums war die Produktion, die auf dem landwirtschaftlichen Sektor regelrecht aufblühte, in anderen Bereichen jedoch nur langsam weiterentwickelte.
Das Land geriet aber immer mehr in wirtschaftliche Abhängigkeit vom Westen. Bis einschließlich 1973 war der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe nicht in der Lage, ausreichende Hilfeleistungen zu geben. Obwohl es in Widerspruch zum System stand, begann die Parteiführung ab 1973 regelmäßig westliche, vor allem japanische Kredite aufzunehmen, um den wirtschaftlichen Mangel auszugleichen. Diese Zwiespältigkeit wurde bis zum Zerfall des Kádár-Regimes aufrechterhalten. Westliche Journalisten beschrieben die Atmosphäre dieser Jahre mit dem Ausdruck „die fröhlichste Baracke“ des Kommunismus (a legvidámabb barakk).
Niedergang des Kádár-Systems 1979-1989
Die Brisanz der wirtschaftlichen Probleme, die Verschuldung und die steigende Abhängigkeit von westlichen Importen erhöhte das Unsicherheitsgefühl der kommunistischen Führung. Eine wichtige Lehre aus dem Volksaufstand von 1956 war es, den Lebensstandard nicht zu senken, auch wenn die wirtschaftliche Basis für diesen Standard nicht vorhanden war.
Im Jahr 1982 war der Staat nahe am Bankrott. Einen Ausweg boten Kredite des Internationalen Währungsfonds und die Weltbank, was bedeutete, dass Ungarn in die beiden größten kapitalistischen Organisationen eintreten musste. Dementsprechend wurde das Land 1982 Mitglied des IMF und ein Jahr später der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Die Auslandsverschuldung von 9 Mrd. US-Dollar in 1982 stieg bis 1989 auf 20 Milliarden.
Die Regierung blieb weiter der Partei untergeordnet und das Parlament blieb bis zu den ersten freien Wahlen in derselben Formation. Nach 1979 erschien aber die erste oppositionelle Gruppe, und auch innerhalb der Partei begannen erste Reformen. Langsam breitete sich die demokratische Opposition aus. Ihre großen beiden Flügel waren die ländlich orientierten und die städtisch-liberalen Gruppen, was eine traditionelle Konfliktiline in der ungarischen Parteienlandschaft widerspiegelt. Im Jahr 1981 wurde mit dem Beszélő eine oppositionelle Zeitschrift gegründet. Es folgten die Zeitschriften Hírmondó im Jahr 1984, Magyar Demokrata (1986) und Hitel (1989). Ab 1985 ebnete die Politik des neuen sowjetischen Parteisekretärs Gorbatschow den Weg für einen friedlichen Systemwechsel.
Die ungarische Regierung und die Weltbank schlossen am 1. Juli 1988 den ISAL-Vertrag (Ipari szerkezetátalakítási kölcsön, „Darlehen für industrielle Umstrukturierung“), in dessen Rahmen unter anderem gesellschaftspolitische Gesetze akzeptiert wurden. So wurde es möglich, staatliche Unternehmen in Aktiengesellschaften umzuwandeln, natürliche Personen konnten Aktien kaufen und hatten Stimmrechte. Auch die Gründung von Kleinunternehmen wie einer GmbH (Kft.) war möglich. Die Einkommenssteuer wurde umstrukturiert, Subventionen für die Eisenindustrie und Kohlebergwerke sowie Preisunterstützungen für Produzenten und Verbraucher gesenkt.Im Jahr 1987 wurde in Lakitelek die erste oppositionelle Partei, das Ungarisches Demokratisches Forum (MDF) gegründet. Die Partei wurde vom Regime nicht verfolgt, da so die Verhandlungen am Runden Tisch mit einem legalen Gesprächspartner abgehalten werden konnten. 1988 wurden sogenannte „Fachwohnheime“ (Szakkollégium) gegründet, in denen Studenten politisch aktiv waren. Bekannte Kollegien sind das István Bibó Szakkollégium der ELTE und das László Rajk Szakkollégium an der Corvinus-Universität. Einige ihrer Mitglieder kandidierten für die sogenannten „Intellektuellen der Fachkollegien“ (szakkollégiumi értelmiség), darunter Viktor Orbán, Gábor Fodor, László Urbán und auch einige Dozenten wie István Stumpf. Die meisten sind bis heute im politischen Leben vertreten.
Am 23. Oktober 1989 rief Mátyás Szűrös die Republik Ungarn aus, womit die frühere Staatsform endgültig endete. Dieses Ereignis erlebte Kádár nicht mehr mit. Er starb am 6. Juli 1989.
Literatur
- Huszár, Tibor: Kádár János politikai életrajza Bd. 2. Szabadtér Kiadó-Kossuth Kiadó, Budapest 2003, ISBN 963-09-4444-8.
- Romsics, Ignác: Magyarország története a XX. században. Osiris Kiadó, Budapest 2005, ISBN 963-389-719-X.
- Andreas Schmidt-Schweizer: Der Kádárismus – das „lange Nachspiel“ des ungarischen Volksaufstandes. In: Rüdiger Kipke (Hrsg.): Ungarn 1956. Zur Geschichte einer gescheiterten Volkserhebung. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006, ISBN 978-3-531-15290-5, S. 161–187.
- Valuch, Tibor: Hétköznapi élet Kádár János korában. Corvina kiadó, 2006, ISBN 963-13-5410-5, ISSN 17874076.
- Valuch, Tibor: Magyarország társadalomtörténete a XX. század második felében. Osiris kiadó, 2005, ISBN 963-389-813-7, ISSN 1218-9855.
- Valuch, Tibor: A lódentõl a miniszoknyáig. A XX. század második felének magyarországi öltözködéstörténete. Corvina kiadó zusammen mit 56-os alapítvány („Stiftung 56-er“), 2005, ISBN 963-13-5363-X.
- Valuch, Tibor: Múlt századi hétköznapok. Tanulmányok a Kádár-rendszer kialakulásának idõszakáról. 1956-os Intézet Közalapítvány, 2005, ISBN 963-210-508-7.
- Thomas Ross: Kein Haß gegen Janos Kadar. In: Die Zeit, Nr. 51/1962
Weblinks
- Ungarn 1956 - Geschichte und Erinnerung. Biografien wichtiger politischer Akteure. Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Collegium Hungaricum Berlin, Fachportal Zeitgeschichte-online, abgerufen am 2. Dezember 2008 (deutsch).
- Rundfunkansprache von Janos Kádár, 4. November 1956. Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Collegium Hungaricum Berlin, Fachportal Zeitgeschichte-online, abgerufen am 2. Dezember 2008 (deutsch).
- Interview mit Ministerpräsident János Kádár, 1. November 1956. Zeitgeschichte-online, abgerufen am 2. Dezember 2008 (deutsch).
- János Kádár diskutiert mit den Arbeitern, „Népszabadság" (Budapest), 15. November 1956. Zeitgeschichte-online, abgerufen am 2. Dezember 2008 (deutsch).
- Die Niederschlagung der Revolution und die Vergeltungsmaßnahmen der Regierung Kádár. Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, 29. Januar 2007, abgerufen am 2. Dezember 2008 (deutsch).
- Lauer, Kathrin: Prozess um Ungarn-Aufstand – „Ich bitte nicht um Gnade“. Süddeutsche, 16. Juni 2008, abgerufen am 2. Dezember 2008 (deutsch).
- Rainer, János M.: Imre Nagy und János Kádár im Jahre 1956. Europäische Rundschau, 2006, S. 9, abgerufen am 2. Dezember 2008 (PDF, deutsch).
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