Europäische Interessenvertretung

Europäische Interessenvertretung

Europäische Interessenvertretung oder Lobbyismus (aus dem Englischen übernommene Bezeichnung) ist eine Tätigkeit, mit der Interessenvertreter versuchen, Exekutive und Legislative durch Öffentlichkeitsarbeit und Public Affairs zu beeinflussen. Auf europäischer Ebene hat der Vertrag von Lissabon für die Interessenvertretung eine neue Dimension eröffnet, die sich von den meisten nationalen unterscheidet. Die europäische Lobbyismus-Tätigkeit ist, mehr als persönliche und oft informelle Kontakte zwischen nationalen Behördenvertretern und Interessenvertretern, zunehmend ein Teil des Entscheidungsprozesses und damit der Rechtsetzung. Sie ist Teil einer neuen europäischen partizipativen Demokratie.

Inhaltsverzeichnis

Grundlagen

Definition

Die Europäische Kommission hat, in einer Mitteilung vom 21. März 2007, eine Definition von Interessenvertretung auf europäischer Ebene veröffentlicht (diese folgt dem Verständnis aus dem Grünbuch vom 3. Mai 2006): Interessenvertretung ist „alle Tätigkeiten, mit denen auf die Politikgestaltung und den Entscheidungsprozess der europäischen Organe und Einrichtungen Einfluss genommen werden soll“.[1]

Die Interessenvertretung oder Lobbyismus ist entweder ein Teil der Arbeit in Institutionen oder Aufgabe von Organisationen, für die die Interessenvertretung ihre 'raison d'être' ist. Die wichtigsten Akteure in der europäischen Interessenvertretung sind nationale, europäische oder internationale Verbände aus allen Bereichen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, Privatunternehmen, Anwaltskanzleien, Berater für öffentliche Angelegenheiten (Politikberatung) sowie Nichtregierungsorganisationen und Denkfabriken (Think-Tanks).

Zwei verschiedene Schemen von Europäische Interessenvertretung sind wahrnehmbar:

  • Aktionen der Interessenvertreter neben den EU-Organen in Brüssel
  • Aktionen auf nationaler Ebene mit Verbänden und Firmen über europäische Fragen

Charakteristik der europäischen Ebene

Der europäische Entscheidungsprozess entwickelt sich immer mehr zu einem Ergebnis zwischen Gesetzgebung der europäischen Organe und informeller Handlungen von Interessenvertretern.

Die europäische Interessenvertretung hat andere Charakteristika als auf nationaler Ebene:

  • Eine transnationale Interessenvertretung
  • Eine direkte Wirkung von Interessenvertretung auf die Arbeit der EU-Organe
  • Eine immer anerkannte ausgeübte Tätigkeit: die Einflussnahme auf die Politikgestaltung und den Entscheidungsprozess
  • Verläuft im Rahmen der europäischen Transparenzinitiative
  • Eine sehr frühzeitige Beteiligung von Interessengruppen: Zu jedem Gesetzgebungsverfahren führt die Kommission frühzeitig umfangreiche Konsultationen durch und lädt Verbände dazu ein, ihre Position darzustellen. Bevor überhaupt ein Richtlinienentwurf verfasst wird, gibt es meistens ein so genanntes Grünbuch oder Weißbuch, auf Basis dessen umfangreiche Beratungen stattfinden. [2]

Rechtsgrundlagen: Artikel 11 des Vertrags über die Europäische Union

Nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon hat die Interessenvertretung einen legalen Rahmen mit Art. 11 EU-Vertrag bekommen. Im Einzelnen regelt Artikel 11 die partizipative Demokratie in folgenden Elementen: einen horizontalen zivilgesellschaftlichen Dialog (Artikel 11 Abs. 1 EUV) und einen vertikalen zivilgesellschaftlichen Dialog (Artikel 11 Abs. 2 EUV), die bereits bestehenden Konsultationspraktiken der Kommission (Artikel 11 Abs. 3 EUV) sowie die neue Europäische Bürgerinitiative (Artikel 11 Abs. 4 EUV).

Umsetzung des Art. 11 EUV bei den EU-Organen

Die Interessenvertretung ist eine Rechtsvorschrift, die die EU-Organe bindet. Die Europäische Kommission hat das Verfahren zur Implementierung von Art. 11 EU-Vertrag Abs. 4 (Europäische Bürgerinitiative) in einem Grünbuch veröffentlicht und im November 2009 eingeleitet.[3] Es folgte ein Entwurf der Kommission für eine Verordnung zur konkreten Ausgestaltung, die am 15. Dezember 2010 vom Europäischen Parlament mit 628 Ja-Stimmen gegen 15 Nein-Stimmen und 24 Enthaltungen angenommen wurde. Die Zustimmung des Rats der Europäischen Union folgte am 14. Februar 2011.[4] Die Europäische Bürgerinitiative gilt ab dem 1. April 2012.

Für die anderen Absätze des Artikels 11 steht eine Implementierung noch aus. Dies gilt vor allem für Art. 11 EU-Vertrag Abs. 2. Verschiedene europäische Institutionen haben im März 2010 die Europäische Kommission aufgefordert, einen strukturierten zivilen Dialog auf europäischer Ebene einzurichten. So haben die Gruppe "Verschiedene Interessen" des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses und zahlreiche Organisationen und Netze der Zivilgesellschaft über rein formale Konsultationsverfahren hinaus gehende Vorschläge für strukturierte Wege und offene Kanäle eingebracht, über die sich die Organisationen der Zivilgesellschaft Gehör verschaffen können.[5] Noch weiter geht die Europäische Bewegung International, die im September 2010 Konsultationsprozesse zur Umsetzung von Art. 11 Abs. 2 forderte.[6]

Weitere Initiativen

Neben diesen Schritten und im Vorgriff auf die Vertragsbestimmung, gründete das Europäische Parlament die Agora[7] als Instrument für einen vertikalen zivilen Dialog. Vorher hatte das Parlament einen Bericht über die Perspektiven für den Ausbau des zivilen Dialogs nach dem Vertrag von Lissabon[8] geschrieben, das der erste Schritt in der Implementierung der Europäische Bürgerinitiative war. Die partizipativen Prinzipien werden allerdings nicht von allen EU-Organen gleichermaßen umgesetzt.[9]

Entwicklungen und Strategien der Einflussnahme

Die Europäische Transparenzinitiative

  • Erstellung eines freiwilligen Registers
  • Ein gemeinsamer Verhaltenskodex[10]

Doppelte Interessenvertretung: nationale und europäische Ebene

Die Verbindung zwischen lokaler und europäischer Ebene ist heute nicht nur durch staatliche Organen entwickelt: lokale und nationale Organisationen sichern die Verbindung bis zur Europäischen Ebene.

Siehe auch

Literatur

  • Rainer Eising, Beate Kohler-Koch (Hrsg.): Interessenpolitik in Europa. Nomos, Baden-Baden 2005, ISBN 3-8329-0779-3.
  • Justin Greenwood: Interest Representation in the European Union. 2. Auflage. Basingstoke 2007.
  • Bernd Hüttemann: Europäisches Regieren und deutsche Interessen. Demokratie, Lobbyismus und Art. 11 EUV, Erste Schlussfolgerungen aus „EBD Exklusiv“, 16. November 2010 in Berlin. In: EU-in-BRIEF. Nr. 1, Berlin 2011, ISSN 2191-8252 (PDF online).
  • Sylvia-Yvonne Kaufmann: Interessenvertretung im Europäischen Parlament. In: Jörg Rieksmeier (Hrsg.): Praxisbuch: Politische Interessenvermittlung. Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-531-15547-0, S. 234-238.
  • Tomasz Kurianowicz: Kein Rückzug ins Nationale: Eine Diskussion über europäische Bürgerbeteiligungen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 29. Juni 2011, S. Natur und Wissenschaft, N 4 (online, abgerufen am 25. Juli 2011).
  • Irina Michalowitz: Lobbying in der EU. Wien 2007, ISBN 978-3-8385-2898-4.
  • Roland Sturm, Heinrich Pehle: Das neue deutsche Regierungssystem. Die Europäisierung von Institutionen, Entscheidungsprozessen und Politikfeldern in der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-14632-7.
  • Werner Weidenfeld (Hrsg.): Deutsche Europapolitik - Optionen wirksamer Interessenvertretung. Europa Union Verlag, Bonn 1998
  • Werner Weidenfeld, Wolfgang Wessels (Hrsg.): Jahrbuch der Europäischen Integration 2010. Nomos Verlag, Baden-Baden 2010

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Europäische Transparenzinitiative.
  2. Sylvia-Yvonne Kaufmann: Interessenvertretung im Europäischen Parlament. In: Jörg Rieksmeier (Hrsg.): Praxisbuch: Politische Interessenvermittlung. Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-531-15547-0, S. 234-238., hier S. 237.
  3. DIE EUROPÄISCHE BÜRGERINITIATIVE.
  4. Pressemitteilung des Rats vom 14. Februar 2011
  5. Pressemitteilung des EWSA vom 24. März 2010
  6. European Movement International: The Treaty of Lisbon and its Article 11
  7. AGORA - Video auf Abruf.
  8. Bericht über die Perspektiven für den Ausbau des zivilen Dialogs nach dem Vertrag von Lissabon.
  9. Vgl. Sylvia-Yvonne Kaufmann zum Art. 11, in: Europäisches Jahr der Freiwilligentätigkeit Bürgerschaftliches Engagement als gesellschaftlicher Kitt. EurActiv.de, 15. April 2011, abgerufen am 15. April 2011.
  10. Mitteilung der Kommission vom 27. Mai 2008 – Europäische Transparenzinitiative – Rahmen für die Beziehungen zu Interessenvertretern (Register und Verhaltenskodex) (KOM(2008) 323 endgültig – Nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

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