Gesetzesstaat

Gesetzesstaat

Gesetzesstaat“ (oder „Gesetzgebungsstaat[1]) wird vor allem von Vertretern eines materiellen Rechtsstaats-Verständnisses verwendet, um – in der Regel pejorativ und eher beiläufig – auf das Bezug zu nehmen, was von anderen oder in elaborierteren Formulierungen als „formeller Rechtsstaat“ bezeichnet wird:

Die bloß formale Bindung der Staatsgewalt an das Gesetz reicht offensichtlich nicht aus, um den Rechtsstaat zu bewahren. Hinzutreten muss die inhaltliche Bindung an eine höherrangige Wertordnung, zum Beispiel an das Naturrecht. Das formale Prinzip des Gesetzesstaates muss ergänzt werden durch das inhaltliche, materielle Rechtsstaatsprinzip.

Horst Pötzsch: Deutsche Demokratie, Abschnitt „Grundlagen“, Unterabschnitt „Rechtsstaat“ [15. Dezember 2009] auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung unter: [1] [letzter Zugriff am 1. Feb. 2011]

Der formelle Rechtsstaat kann insoweit zusammenfassend und verkürzt als ‚Gesetzesstaat’ bezeichnet werden.

Frank Schindler: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Paulus van Husen im Kreisauer Kreis. Verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Beiträge zu den Plänen der Kreisauer für einen Neuaufbau Deutschlands, Schöningh: Paderborn/München/Wien/Zürich, 1996 (zugl. Diss. Uni Hamburg, 1995), im internet auszugsweise (S. 61 – 74 [67 in FN 36]) unter: [2]

Auffällig ist dabei, daß diese Verwendungsweise sowohl vorkam, um die Weimarer Republik als Gesetzesstaat abzuwerten und für das nationalsozialistische Deutschland zu beanspruchen, ein Rechtsstaat zu sein (Lange 1934, 3; Schmitt 1934, 714; vgl. den Artikel Deutscher Rechtsstaat) als auch umgekehrt, um den Nationalsozialismus als Gesetzesstaat zu kritisieren: „Der Rechtsstaat wurde [unter den Nazis] Gesetzesstaat, und das Gesetz konnte jeden Inhalt annehmen, auch den des Unrechts.“[2]

Von Vertretern eines formellen Rechtsstaats-Verständnisses wird dagegen selten von „Gesetzesstaat“ oder „Gesetzgebungsstaat“ gesprochen, um ihre eigene Position affirmativ so zu bezeichnen. Erst neuerdings wurde vorgeschlagen, „für eine liberale Staatskonzeption – analog zur angelsächsischen rule of law und dem französischen État légal – den Begriff des demokratischen Gesetzesstaates zu verwenden“[3].

In einem deutlich anderen Kontext – aber anscheinend mit durchaus ähnlicher Bedeutung – taucht der Ausdruck „Gesetzesstaat“ im deutschen Titel eines Buches der linkssozialdemokratischen israelischen Schriftstellerin und Politikerin Schulamit Aloni auf: Hesder – Vom Gesetzesstaat zum Halachastaat. „Gesetz“ scheint (auch) hier für eine liberal-formelle und Halacha für eine substantialistsch-konservative Rechtskonzeption zu stehen.[4]

Demgegenüber ist allerdings für die deutsche juristische und rechtspolitische Diskussion zu berücksichtigen, daß nicht nur konservative, sondern vielfach auch liberale und linke politische Positionen unter Berufung auf ein substantialistisches, überpositives Rechts-Verständnis vertreten werden.

In Österreich beschrieb René Marcic die Entwicklung Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat als eine positiv zu wertende.

Literatur

  • Heinrich Lange: Vom Gesetzesstaat zum Rechtsstaat. Ein Vortrag, Mohr: Tübingen, 1934.
  • René Marcic: Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat. Recht als Maß der Macht / Gedanken über den demokratischen Rechts- und Sozialstaat, Springer: Wien, 1957.
  • Carl Schmitt: Nationalsozialismus und Rechtsstaat, in: Juristische Wochenschrift 1934, 713 - 718.
  • Detlef Georgia Schulze: Rechtsstaat versus Demokratie. Ein diskursanalytischer Angriff auf das Heiligste der Deutschen Staatsrechtslehre. In: der/dies. / Sabine Berghahn / Frieder Otto Wolf (Hrsg.), Rechtsstaat statt Revolution, Verrechtlichung statt Demokratie? Transdisziplinäre Analysen zum deutschen und spanischen Weg in die Moderne. (StaR P. Neue Analysen zu Staat, Recht und Politik. Serie A. Band 2), Westfälisches Dampfboot, Münster 2010, S. 553–628 (536-564: Abschnitt „I. Der Wortlaut: Rechtsstaat, nicht Gesetzesstaat“)

Einzelnachweise

  1. „Das liberale Bürgertum hat im Namen des Rechtsstaates gegen d[…]en absoluten Staat gekämpft. […]; er [der Kampf] endete im 19. Jahrhundert mit der Unterwerfung der Exekutive unter das Gesetz. Nunmehr verlegt sich der Kern des staatlichen Wesens in die Legislative. Der Staat wird ein Gesetzesstaat (was leicht mit Rechtsstaat verwechselt wird, obwohl es etwas ganz anderes ist, wenn man den Gesetzesbegriff formalisiert).“ (Carl Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung [1929], in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 - 1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Duncker & Humblot: Berlin, 2. Aufl.: 1973 = 1. Aufl. 1958, 63 - 109 [99] – Hv. i.O.).
  2. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 1, Beck: München, 2. Aufl.: 1984 (1. Aufl.: 1977), 773, FN 66).
  3. Vgl. Detlef Georgia Schulze / Sabine Berghahn / Frieder Otto Wolf, Rechtsstaatlichkeit – Minima Moralia oder Maximus Horror?, in: dies. (Hg.), Rechtsstaat statt Revolution, Verrechtlichung statt Demokratie? Transdisziplinäre Analysen zum deutschen und spanischen Weg in die Moderne (StaR P. Neue Analysen zu Staat, Recht und Politik. Serie A. Band 2), Westfälisches Dampfboot: Münster, 2010, S. 9 - 52 (19).
  4. Vgl. Union progressiver Juden in Deutschland e.V. via Artikel Halacha, FN Halacha#cite_note-0 1
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