Gezeichnet (Dazai Osamu)

Gezeichnet (Dazai Osamu)

Gezeichnet (jap. 人間失格, Ningen Shikkaku, dt. etwa: „als Mensch disqualifiziert“) ist ein Roman von Dazai Osamu. Er wurde 1948 in der Zeitschrift Tembō (展望) als dreiteilige Serie veröffentlicht. Gezeichnet gilt neben Lauf, Melos, lauf!, Villons Frau und Die sinkende Sonne als Meisterwerk Dazais. Der Roman rangiert in der Liste der meistgelesenen Bücher in Japan auf Platz 2, hinter Kokoro von Natsume Sōseki.

Inhaltsverzeichnis

Überblick

Der Roman ist in fünf Teile gegliedert. Den Hauptteil bilden drei nachgelassene Hefte mit Aufzeichnungen des Protagonisten Ōba Yōzo. Die vorgeblich wahrheitsgemäße Wiedergabe der Aufzeichnungen ist eingeklammert von Prolog und Epilog eines namenlosen Erzählers. Da der Erzähler namenlos ist und es sich um einen Ich-Roman (私小説, shishōsetsu) handelt, dient die Verwendung von Jibun (自分, ich selbst) und Wata(ku)shi (, ich) zur Unterscheidung des Protagonisten vom Erzähler. Der Protagonist erzählt von sich selbst mit Jibun, während der Erzähler das Personalpronomen Watakushi verwendet.[1]

Inhalt

Prolog (はしがき, Hajigaki)
Mit dem ersten Satz: "Ich habe drei Fotografien von ihm gesehen" gibt der Erzähler sowohl die Gliederung, als auch die Entwicklungsstufen der Handlung vor. Die erste Fotografie entstammt der Kindheit des Protagonisten. Sie zeigt ihn mit einem häßlichen Grinsen oder grimassenhaften Lächeln, mit einem nichtssagendes Gesicht, das Missfallen erregt. Die zweite Fotografie, in der Schul- oder Studienzeit[2] aufgenommen, zeige den noch namenlosen Protagonisten mit einem subtileren und zugleich auch papiernen Lächeln, raffiniert und täuschend zugleich. Die dritte und letzte Fotografie sei die widerwärtigste; sie zeige ihn ergraut und verwahrlost in einer Zimmerecke sitzend. Das Lächeln ist vollständig geschwunden und das Gesicht sei so ausdruckslos geworden, dass es sich jeder Erinnerung daran, dass es sich der Möglichkeit sich das Gesicht zu merken, entziehe.

Die nachfolgend dargebotenen Hefte verstehen sich als Aufzeichnungen des Protagonisten, die aus den Lebensabschnitten entstammen, denen auch die Fotografien zugeordnet sind. Der Leser wird hierüber vom Erzähler allerdings erst im Epilog informiert.

Aufzeichnung – Heft 1 (第一の手記)
Die Hauptfigur Ōba Yōzo bemerkt in seiner Kindheit das Fehlen jeder Fähigkeit zur Empathie mit seinen Mitmenschen. Dieser Mangel verunmöglicht ihm nicht nur den Aufbau sozialer Beziehungen und Bindungen, er empfindet diesen Mangel auch als ein Gebrechen, das unbedingt geheimgehalten werden muss. Als Mittel der Geheimhaltung wählt Ōba die Clownerie. Scherzend abzulenken von seinem Mangel ermöglicht es ihm, sich unentdeckt in der Gesellschaft zu bewegen, zugleich bewirkt sie aber auch den Eindruck vollständiger Entfremdung. Die Unfähigkeit zu der erwarteten gesellschaftlichen Anpassung kulminiert im Eröffnungssatz: "Ich habe ein schändliches Leben geführt".
Aufzeichnung – Heft 2 (第二の手記)
Die Angst entdeckt zu werden führt Ōba zusehends in die Isolation. Er vernachlässigt sein Studium, lernt während eines Zeichenkurses Horiki kennen, mit dem er gemeinsam ein ausschweifendes Leben im Rotlichtmilieu führt. Ausgedehnte Trinkgelage und der Besuch bei Prostituierten bestimmen den Alltagsrhythmus dieses Lebensabschnitts. Ōba lernt so die Prostituierte Tsuneko kennen, die er überredet, sich gemeinsam mit ihm bei Kamakura von einer Klippe zu stürzen, um Doppelselbstmord zu begehen. Während Tsuneko bei diesem Vorhaben ertrinkt, wird Ōba hingegen gerettet.
Aufzeichnung – Heft 3 (第三の手記)
Durch den Einfluss seines Vaters entgeht Ōba einer Anklage wegen des verschuldeten Todes von Tsuneko. Shibuta, in dessen Haus in Ōkubo er wohnt, wird ihm als "Aufpasser" zugeteilt. In der Folge scheint sich Ōbas Leben zu normalisieren. Er lebt zusammen mit Shizuko und deren Tochter Shigeko und verdient als Comiczeichner seinen Lebensunterhalt. Als Ōba zusehends vereinsamt, beginnt er wiederum exzensiv zu trinken. Er beginnt Morphium zu konsumieren und wird abhängig. Den Tiefpunkt erreicht er, als er den sexuellen Übrgriff[3] auf Yoshiko, die er aus einem Kiosk gegenüber seiner Stammbar kennt,[4] erleben muss. Unfähig etwas zu tun, von Schuld geplagt, verfällt er vollständig seiner Sucht und landet zum Ende des 3. Heftes hin in einer Nervenheilanstalt. Drei Jahre später, der Vater ist mittlerweile verstorben, holt ihn sein Bruder aus der Anstalt und bringt ihn in seine Heimat zurück, wo er abgeschieden in einem eigens für ihn gekauften Haus wohnt. Die tief empfundene Einsamkeit und innere Isolation spiegeln sich am Ende der Erzählung auch in der Abgeschiedenheit seines Wohnhauses wider. Hier entsteht die letzte Fotografie, die ihn in völliger Apathie und Teilnahmslosigkeit zeigt, als menschlichen Ausschuss[5].
Epilog (あとがき, Atogaki)
Der Ich-Erzähler berichtet wie er zufällig bei einem Barbesuch in Kyōbayashi, eine ihm aus der Vorkriegszeit bekannte Barbesitzerin wiedersieht, die zugleich Inhaberin der Stammbar des Protagonisten war. Sie übergibt ihm drei Hefte und drei Fotografien, die Ōba Yōzo bei ihr zurückgelassen habe.

Handelnde Personen

Ōba Yōzo (大庭葉蔵)
Hauptperson des Romans. Als letzter Sohn einer reichen Familie in der Tōhoku-Region geboren, als Kind von schwacher gesundheitlicher Konstitution, wünscht sich Ōba Yōzo Maler zu werden, was ihm von seinem Vater untersagt wird. Als Frauenschwarm beschrieben, abhängig von Alkohol und Morphium, vereinsamt und verwahrlost er unaufhaltsam.
Takeichi (竹一)
Klassenkamerad Ōbas in der Mittelschule; er erkennt in der Clownerie Ōbas die Maskerade. Er prophezeit Ōba zudem, dass er ein Frauenschwarm und erfolgreicher Maler werde.
Horiki Masao (堀木正雄)
ist der sechs Jahre ältere, engste Freund Ōbas, den er im Mal- und Zeichenunterricht kennenlernt. Er führt Ōba ein in eine Welt, die sich um Alkohol, Prostitution und Pfandleihhäusern kreist.
Tsuneko (ツネ子)
ist eine 22-jährige Servicekraft in einem Kaffeehaus, die aus Hiroshima stammt, mit einem Mann verheiratet ist, der im Gefängnis sitzt und die aus Einsamkeit und dem Gefühl der Verzweiflung heraus gemeinsam mit Ōba den Versuch eines Doppelselbstmords unternimmt, bei dem jedoch nur sie ihr Leben verliert.
Shizuko (シズ子)
ist Redakteurin einer Zeitung und lebt gemeinsam mit ihrer Tochter Shigeko nach Ōbas misslungenem Selbstmordversuch gemeinsam mit ihm in einer eheähnlichen Beziehung. Sie ermutigt ihn, seinen Lebensunterhalt mit dem Zeichnen von Comics zu verdienen.
Shigeko (シゲ子)
Fünf Jahre alte Tochter Shizukos.
Madamu (マダム)
Besitzerin von Ōbas Stammbar, von kleiner Statur mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Sie übergibt dem Erzähler die Fotografien und Aufzeichnungen Ōbas.
Yoshiko (ヨシ子)
18-jährige Tochter eines Kioskbesitzers, der gegenüber von Ōbas Stammbar einen Tabakwarenladen betreibt. Sie verkörpert den Inbegriff von Vertrauen und Zuversicht und sie wird Opfer eines sexuellen Übergriffs.
Shibuta (渋田), auch Flunder (, Hirame)
als Trödler und Antiquitätenhändler ist der 40-jährige Shibuta der persönliche Laufbursche von Ōbas Vater. Er wird Ōba nach dessen Selbstmordversuch als „Aufpasser“ zur Seite gestellt.
Der Vater (namenlos)
Der Erzähler (namenlos)

Stilmittel

Osamu bedient sich unterschiedlicher Stilmittel, um die Authentizität und Wahrheit der Erzählung zu belegen. Er führt einen Erzähler ein, der den fiktionalen Protagonisten durch die Schilderung der Umstände, unter denen er zu den Aufzeichnungen gelangt ist, den Anstrich einer real existierenden Person gibt. Bemerkenswerterweise handelt es sich dabei ebenfalls um einen Ich-Erzähler, anstelle eines allwissenden Erzählers.

Zudem fügt er Details in die Handlung ein, die sich mit Osamus realem Leben in Zusammenhang bringen lassen. Die geschilderten Selbsttötungsversuche, Tablettensucht und Ausschweifungen finden sich auch als Ereignisse in Osamus Leben. Mithin wird so der Eindruck einer Parallelisierung realer Schriftsteller-Existenz und fiktionaler Handlung erzeugt.

Im Mittelpunkt des Handlungsverlaufs steht die tagebuchartige Innenansicht des Protagonisten. Im Kontrast zu den gesellschaftlichen Verhältnissen und Lebensumständen entwickelt sich eine Form der bitteren Ironie, die ins Groteske gesteigert ist. Die Hauptfigur ist eine zerrissene Persönlichkeit, vergleichbar einem Betrachter, außerhalb der Welt verortet, mehr reagierend als aus eigenem Wollen heraus agierend. In diesem tragischen Zwiespalt verharrend ist der Untergang, ähnlich dem Wallenstein Schillers scheinbar determiniert und nahezu zwangsläufig.

Literaturgeschichtliche Einordnung

Gezeichnet ist eine japanische Ich-Erzählung (私小説, Shishōsetsu), die charakteristisch ist für den japanischen Naturalismus (自然主義文学, Shizen Shugi Bungaku). Das Werk erschien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der gemeinhin das Ende der modernen und den Beginn der japanischen Gegenwartsliteratur kennzeichnet.[6] Das literarische Leben, das während des Krieges aufgrund der Zensur im Wesentlichen zum Erliegen gekommen war, begann sich wieder zu regen. Japan hatte im Verlaufe des Krieges zwei Atombombenabwürfe erlitten. In seiner Neujahrsansprache an die Nation ningen-sengen (1946), die im Rundfunk übertragen wurde, hatte der Tennō seiner Göttlichkeit entsagt. Im gleichen Jahr erschien Sakaguchi Angos Essay über den Verfall der Moral (Darakuon). Kennzeichnend für das Lebensgefühl jener Zeit preist er die Schönheit der Zerstörung, propagiert die totale Desillusionierung und die Dekadenz.[7] Mit Gezeichnet, das erst nach Osamus Freitod veröffentlicht wurde, wie auch mit Shayō (dt. Die sinkende Sonne, 1947) zählt Osamu zu den wichtigsten und meist gelesenen Vertretern der Nachkriegsliteratur und des Shishōsetsu.

Rezeption

„Für westliche Leser ist aufschlussreich, dass der Suizid im Lande der begeisterten Selbstmörder sehr wohl als Schande gelten kann. Von aktuellster Bedeutung als Korrektur allfälliger Japan-Klischees und als Antidot gegen die weltweite mediale Lach- und Fun-Gesellschaft: Dieser Roman reißt mit der Innenansicht der Clownrolle, die das isolierte Kind verzweifelt spielt, um wenigstens so zu den Menschen zu gehören, und mit leitmotivischer Insistenz die hinter dem Lachen verborgenen Abgründe auf. Das «verlorene Lachen», das der traurige Humorist Gottfried Keller so eindrucksvoll beschrieben hat, findet bei Dazai ein japanisches Pendant. Genauer: hier wird es nicht eigentlich verloren, es gefriert. Die lachende wie die lächelnde Maske Japans wird von Dazai zerbrochen.“

Ludger Lütkehaus: Neue Zürcher Zeitung vom 9. April 1998

Erwähnte Personen

Erwähnte Orte

Verfilmungen

  • 2009 wurde das Buch anlässlich des 100. Geburtstags von Dazai Osamu unter der Regie von Arato Genjirō verfilmt. Filmstart: Juli 2009, seit Februar 2010 wird der Film in allen großen japanischen Kinos gezeigt.
  • 2009: Im Rahmen der 12-teiligen Aoi-Bungaku-Serie wurde Gezeichnet als eine von sechs Anime-Adaptionen moderner japanischer Literatur im japanischen Fernsehen ausgestrahlt.

Ausgaben

  • Dazai Osamu: Gezeichnet. Übersetzt von Jürgen Stalph. Insel Verlag, Frankfurt 1997, ISBN 3-458-16871-0.

Manga-Adaptionen

  • Ningen shikakkuvMangaka: Hikochi Sakuya
  • Ningen shikakku – Mangaka: Furuya Usamaru (als Serie in der Manga-Zeitschrift Shūkan Komikku Banchi – Hrsg. von Coamix)
  • Ningen shikakku kai – Mangaka: Ninose Yasunori (als Serie in der Manga-Zeitschrift Champion Red – Hrsg. von Akita Shoten)

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Siehe japanische Textausgabe Abschnitt 1 und 2
  2. In der deutschen Übersetzung ist von Gymnasial- oder Studienzeit die Rede.
  3. Gezeichnet deutsche Ausgabe, S.113
  4. Gezeichnet deutsche Ausgabe, S.102
  5. „Ōba Yōzo, als Mensch gewogen und für zu leicht befunden. Durchgefallen. Ich hatte aufgehört als Mensch zu gelten“

    , Gezeichnet deutsche Ausgabe, S.129
  6. Andere literaturgeschichtliche Einteilungen orientieren sich auch an den japanischen Regierungszeiten Taishō und Shōwa oder gar am großen Kantō-Erdbeben von 1923 zur Abgrenzung der Epochen und zur Periodisierung.
  7. Irmela Hijiya-Kirschnereit: Japanische Gegenwartsliteratur. München 2000, S.28
Japanische Namensreihenfolge Japanischer Name: Wie in Japan üblich, steht in diesem Artikel der Familienname vor dem Vornamen. Somit ist Dazai der Familienname, Osamu der Vorname.

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