Schuld und Sühne

Schuld und Sühne
Raskolnikow und Marmeladow. Illustration von Michail Petrowitsch Klodt, 1874.

Schuld und Sühne (russisch: Преступление и наказание), in älteren Übersetzungen auch Raskolnikow, in neueren Verbrechen und Strafe, ist der 1866 erschienene erste große Roman von Fjodor Dostojewski.

Inhaltsverzeichnis

Titel

Der russische Originaltitel des Romans, Преступление и наказание (Prestuplenie i nakazanie), lässt sich nicht exakt ins Deutsche übertragen. Der geläufigste Übersetzungstitel ist Schuld und Sühne, trifft mit seiner stark moralischen Orientierung jedoch nicht die russischen Termini, die eher aus dem juristischen Sprachgebrauch stammen. Genauer ist die Übersetzung als Verbrechen und Strafe, die aber wiederum den durchaus vorhandenen ethischen Gehalt der russischen Begriffe nicht ganz erfasst. Dieser Titel wurde unter anderem von Swetlana Geier in ihrer viel beachteten Neuübersetzung von 1994 verwendet. In anderen Sprachen wie dem Englischen, Französischen und Polnischen wurde dieser Titel schon immer bevorzugt verwendet (Crime and punishment, Crime et châtiment bzw. Zbrodnia i kara). Der Roman wurde im Deutschen teilweise auch unter dem Namen seiner Hauptfigur, Rodion Raskolnikow, herausgegeben.

Handlung

Raskolnikow-Haus in St. Petersburg

Schauplatz des Romans ist Sankt Petersburg um 1860. Protagonist ist der bitterarme, aber überdurchschnittlich begabte Jura-Student Rodion Romanowitsch Raskolnikow. Die Mischung aus Armut und Überlegenheitsdünkel spaltet ihn zunehmend von der Gesellschaft ab. Unter dem Eindruck eines von ihm zufällig belauschten Wirtshausgesprächs entwickelt er die Idee eines „perfekten Mordes“, die seine Theorie von den „außergewöhnlichen“ Menschen, die im Sinne des allgemein-menschlichen Fortschritts natürliche Vorrechte genießen, zu untermauern scheint. Er selbst, jung und talentiert, doch mit Armut geschlagen, sieht sich als solchermaßen Privilegierten, der auch in der Situation eines „erlaubten Verbrechens“ Ruhe und Übersicht zu wahren weiß.

Diesem Selbstanspruch stehen die bedrückenden, beengten äußeren Umstände entgegen. Raskolnikows Kleidung ist zerlumpt und er haust in einem Zimmer von sargähnlicher Enge. Die prekäre finanzielle Situation zwingt ihn, sich an jene alte wucherische Pfandleiherin zu wenden, der sein Mordplan längst gilt. Diese ist für ihn nur eine geizige und herzlose Alte, die allein dafür lebt, ein immer größeres Vermögen zusammenzuraffen, um es für ihr Seelenheil zu verwenden – das Vermögen soll nach ihrem Tod der Kirche zufallen. Für Raskolnikow ist sie der Inbegriff einer „Laus“, einer wertlosen Person, über deren Leben die wirklich großen Menschen hinweggehen dürfen.

Dieser Weltanschauung verhaftet, verfestigt sich in Raskolnikow die Vorstellung des Mordes an der Pfandleiherin immer mehr, bis er schließlich, veranlasst durch einen Brief seiner Mutter über das ungerechte Los seiner Schwester, zu dem zwanghaften Entschluss kommt, tätig zu werden. Später kaschiert er seine inneren Widerstände, welche ihn während der gesamten Ausführung begleiten, durch ideologische Motive. So berichtet er Sonja, einem jungen Mädchen, welches sich auf Grund von Geldnöten ihrer Familie prostituiert: „Ich wollte damals erfahren, so schnell wie möglich erfahren, ob ich eine Laus bin, wie alle, oder ein Mensch.“ „Ein Mensch“ bedeutet hier für ihn: Ein großer Mensch, ein Napoleon, den er als Beispiel einer solchen „erlaubten“ Rücksichtslosigkeit anführt.

Er besucht die Alte unter einem Vorwand und erschlägt sie mit einem Beil. Ihre zufällig erscheinende Schwester, eine geistig zurückgebliebene, Unschuld symbolisierende Person, erschlägt er ebenfalls. Nur mit großem Glück kann er unentdeckt entkommen. Seine nervliche Anspannung erlaubt ihm auch nicht, sich des Geldes der Alten zu bemächtigen. Er ist seinen eigenen Ansprüchen, wie er feststellen muss, nicht gewachsen. So fällt er nach vollzogener Tat in einen mehrtägigen fiebrigen Dämmerzustand, er ist nicht der Mensch ohne Gewissen, der er zu sein glaubte. Außerdem hat ihn die Mordtat verändert: Wenngleich Raskolnikow mit seinem Verbrechen unentdeckt geblieben ist, empfindet er als Doppelmörder die gesellschaftliche Abspaltung innerlich nun umso schmerzhafter.

Nach dem Mord findet er keine Ruhe mehr, selbst seine eigene Mutter verwirft er. So dauert es nicht lange, bis er von einem Ermittlungsrichter als Schuldiger erkannt wird, obwohl dieser Raskolnikows Täterschaft nicht zu beweisen vermag. Beiden, dem Täter wie dem Ermittler, ist dies bewusst, auch wenn es nicht offen ausgesprochen wird. Stattdessen steigert sich das intellektuelle Gefecht zwischen den Widersachern zu einem subtilen psychologischen Spiel, welches Raskolnikow, wiewohl er nach dem äußerlichen Stand der Untersuchungen beruhigt sein könnte, immer mehr in die Enge treibt. Die gläubige, sich für ihre Familie aufopfernde Prostituierte Sonja, welche er kennen und später auch lieben lernt, rät ihm schließlich, sich zu stellen, um für seine Sünden zu „bezahlen“. Raskolnikow, der selbst schon etliche Male den Gang zur Polizei erwogen und wieder verworfen hat, stellt sich tatsächlich.

Im Epilog wird die achtjährige Haft Raskolnikows in einem sibirischen Arbeitslager als geradezu physiologische, langwierige, auf der intensiven Erfahrung der Zeit beruhende Befreiung von der Vergangenheit in Petersburg entworfen. Am Ende des Romans entdeckt er seine Liebe zur (mitgereisten) Sonja, was in der Erzählung mit Auferstehungsmetaphern einhergeht. Auf die vieldiskutierte Frage, ob Raskolnikow am Ende zum christlichen Glauben findet, gibt der Roman jedoch keine eindeutige Antwort. Im letzten Absatz wird eine mögliche Fortsetzung der Geschichte angedeutet, die Dostojewski allerdings nie verfasst hat.

Die Erzählzeit des Romans ist umgekehrt proportional zur erzählten Zeit, also der zeitlichen Ausdehnung der entsprechenden Teile dieser 'Handlung': Der erste Teil, der „Schuld“-Teil des Romans (d.h. im Wesentlichen bis zum Ende der Mordtat), umfasst nur - je nach Ausgabe - knapp 100 Druckseiten, der zweite bis sechste Teil, der „Sühne“-Teil, ist dagegen fast fünfmal so lang.

Interpretation

Raskolnikows Ideologie

Raskolnikow ist anfangs eine „quasi-ideologische“ Figur, weil er seine Ideen und Vorstellungen von Sein und Welt über die Wirklichkeit selbst stellt. Vom eigenen Genie überzeugt, veröffentlicht er in einer Literaturzeitschrift einen Artikel, in dem er den außergewöhnlichen Menschen Rechte über die gewöhnlichen Menschen einräumt. Seine These gipfelt in der Behauptung, außergewöhnliche Menschen hätten das Recht und die moralische Pflicht, die gewöhnlichen Menschen zu ihren höheren Zwecken zu gebrauchen.

Raskolnikow verwirft die Welt, da sie ihm unvollkommen erscheint. Erst durch sein eigenes ideelles Scheitern aufgrund seines Gewissenskonfliktes wird er schließlich fähig, mit Hilfe von Sonja einen unvoreingenommeneren Blick auf die Wirklichkeit zu werfen und sie als das zu entdecken, was sie laut Dostojewski ist: komplexer, humaner – von Raskolnikow abgesehen – und damit reicher als seine Ideale.

Autobiografische Reminiszenzen

Dostojewski stand in den 1840er-Jahren zunächst atheistischen, sozialrevolutionären Ideen und Kreisen nahe. Dafür verhaftet und zum Tode verurteilt, kam er in ein sibirisches Gefangenenlager und musste dann den Militärdienst ableisten. In diesem Gefangenenlager kam Dostojewski in den Besitz eines Neuen Testaments, welches er nun aufmerksam studierte. Nach seiner Gefangenschaft vollzog sich der Wandel vom atheistisch zweifelnden Revolutionär zum Christen. Raskolnikows Wandlung ist das Abbild dieser Wandlung Dostojewskis.

Bedeutung der Namen

Wie auch in anderen Romanen Dostojewskis tragen die Wurzeln der im Roman benutzten Namen oft eine sprechende Bedeutung:

  • Raskolnikow von расколоть = zerspalten, knacken
  • Semjon Sacharowitsch Marmeladow von Marmelade und сахар = Zucker
  • Luzhin von лужа = Pfütze
  • Razumichin von разум = Verstand
  • Lebesjatnikow von лебезить = scharwenzeln
  • Kapernaúmow: Schneider, bei dem Sófja Semjónowna wohnt; bezieht sich auf die Glaubensstärke des Hauptmann von Kapernaum

Entstehungsgeschichte

Dostojewski begann die Arbeit an Schuld und Sühne im Spätsommer 1865 während eines Auslandsaufenthalts, als er sich aufgrund seiner Spielsucht in einer prekären finanziellen Situation befand. Vor dieser Auslandsreise hatte er mit seinem Verleger einen Vertrag abgeschlossen, der diesem gegen einen Vorschuss von 3000 Rubeln die Exklusivrechte an einer dreibändigen Werkausgabe zusicherte und Dostojewski darüber hinaus verpflichtete, bis zum 1. November 1866 einen neuen Roman vorzulegen. Hätte Dostojewski diese Frist nicht eingehalten, wäre sein Verleger berechtigt gewesen, alle Werke der kommenden neun Jahre ohne Zahlung eines Honorars zu veröffentlichen. Da die Fertigstellung von Schuld und Sühne während dieser Zeit nicht gelang, unterbrach Dostojewski die Arbeit am Roman zwischenzeitlich, um den kürzeren Roman Der Spieler einzuschieben, den er innerhalb von 26 Tagen fertigstellte. Nach dieser Unterbrechung wandte er sich wieder Schuld und Sühne zu, den er Ende 1866 fertigstellte.[1]

Die ersten Skizzen zu Schuld und Sühne stammen aus dem September 1865 und unterscheiden sich in einigen Punkten wesentlich von der Endfassung. So bediente sich Dostojewski anfangs Raskolnikows als Ich-Erzähler, erst später wechselte er zu einer Erzählperspektive in der dritten Person. Die gesamte Figurengruppe um Sonja und Marmeladows Familie tritt noch nicht auf, ebenso die Figuren Swidrigajlow und Porfirij und damit das „psychologische Duell“ zwischen Raskolnikow und dem Untersuchungsrichter. In der ursprünglichen Form des Manuskripts stellt sich der Mörder allein deshalb, weil er dem psychischen Druck nicht standhält; Beweise gegen ihn liegen nicht vor. Auch Raskolnikows Motive für den Mord änderten sich im Laufe der Arbeit am Manuskript: in der Anfangsfassung geht es ihm allein darum, Geld zu erbeuten, um seine Familie zu unterstützen, während der Zusammenhang mit politischen Ideen erst im weiteren Verlauf von Dostojewskis Arbeit auftritt. Dadurch resultierende Inkonsequenzen in der Erklärung von Raskolnikows Motiven lassen sich noch in der veröffentlichten Endfassung finden.[2]

Musikalische Bearbeitungen und Dramatisierungen

Leo Birinski hat die Tragödie Raskolnikoff nach Dostojewskis Roman ungefähr im Jahre 1910 geschrieben. Gedruckt: ungefähr 1912 vom Drei Masken-Verlag in München. Uraufführung: 9. April 1913 im Fürstlichen Hoftheater Gera. Weitere deutschsprachigen Aufführungen: Residenz-Theater Berlin (18. Oktober 1917), Wiener Kammerspiele (7. Dezember 1917). Übersetzungen: Kroatisch (1916, Osijek), Slowenisch (1922, Maribor), Tschechisch (2007, Praha).

Emil Nikolaus von Reznicek ließ sich 1925 und 1930 von dem Roman zur Komposition zweier Raskolnikoff-Ouvertüren anregen.

Gioacchino Forzano hat ein musikalisches Drama nach Dostojewskis Roman geschrieben, das 1929 von Walter Dahms ins Deutsche übersetzt wurde. Die Musik stammt von Arrigo Pedrollo.

Eine Oper wurde 1948 von Peter Sutermeister geschrieben. Die Musik stammt von seinem Bruder, Heinrich Sutermeister.

1962 produziert und sendet der Bayrische Rundfunk in Koproduktion mit Hessischem Rundfunk und Südwestfunk die Hörspielbearbeitung von Leopold Ahlsen mit Oskar Werner als Raskolnikov.

Bernard-Marie Koltès hat 1971 ein Stück nach den Motiven um den Protagonisten des Romans geschaffen, Procès ivre, das im selben Jahre in Straßburg am Théatre du Quai unter Koltès uraufgeführt wurde.

Frank Castorf dramatisierte den Roman 2005 an der Volksbühne Berlin.

Für die Salzburger Festspiele 2008 inszenierte Andrea Breth am Salzburger Landestheater eine vierstündige Theaterfassung unter dem Titel „Verbrechen und Strafe“ mit Jens Harzer in der Rolle des Raskolnikov (Uraufführung 26. Juli 2008).

Verfilmungen

  • 1910 – Prestuplenje i nakasanje – Regie: Wassili Gontscharow (Russland)
  • 1913 – Prestuplenje i nakasanje – Regie: I. Wronski (Russland)
  • 1917 – Raskolnikov – Regie: Alfréd Deésy (Ungarn)
  • 1923 – Raskolnikow – Regie: Robert Wiene (Deutschland)
  • 1935 – Schuld und Sühne (Crime and punishment) – Regie: Josef von Sternberg – mit Peter Lorre, Edward Arnold und Marian Marsh (USA)
  • 1935 – Crime et châtiment – Regie: Pierre Chenal (Frankreich)
  • 1945 – Brott och straff – Regie: Erik Faustman (Schweden)
  • 1956 – Schuld und Sühne (Crime et châtiment) – Regie: Georges Lampin (Frankreich)
  • 1962 – Raskolnikoff - Regie Hermann Wenninger – mit Oskar Werner, Fernsehfilm, Musik Bernd Scholz (BRD)
  • 1970 – Schuld und Sühne (Prestuplenje i nakasanje) – Regie: Lew Kulidschanow (Sowjetunion)
  • 1983 – Rikos ja rangaistus (Schuld und Sühne) – Regie: Aki Kaurismäki (Finnland)
  • 1988 – Schuld und Sühne (Crime et châtiment) – Regie: Andrzej Wajda (BRD)
  • 1994 – Sin compasión (Ohne Erbarmen) – Regie: Francisco J. Lombardi (Peru)
  • 1998 – Schuld und Sühne (Crime and punishment) – Regie: Joseph Sargent – (mit Patrick Dempsey, Ben Kingsley und Julie Delpy) (USA/Ungarn)
  • 2000 – Crime and Punishment – Du sollst nicht töten (Crime and punishment) – Regie: Menahem Golan (mit Crispin Glover, Vanessa Redgrave und John Hurt) (USA)
  • 2002 – Crime and Punishment – Regie: Julian Jarrold (GB)
  • 2007 – Prestuplenje i nakasanje – Regie: Dmitri Swetosarow (Russland)

Übersetzungen ins Deutsche

Die Titel der jeweiligen Übersetzungen beziehen sich auf die Erstausgabe. Spätere Ausgaben der gleichen Übersetzung wurden teilweise unterschiedlich betitelt.

Wilhelm Henckel als Raskolnikow, nach der 5.russ. Aufl., 2.dt. Aufl. Leipzig: Friedrich, 1887 dazu eine Rez. von 1887 [1]
Hans Moser (ca. 1888) als Raskolnikow's Schuld und Sühne
Paul Styczynski (ca. 1891) als Schuld und Sühne
E. K. Rahsin (1906) als Schuld und Sühne ISBN 3-492-04002-0
Adam Kotulski (ca. 1907) als Raskolnikow oder: Schuld und Sühne
Michael Feofanoff (ca. 1908) als Rodion Raskolnikoff
Hermann Röhl (1912) als Schuld und Sühne ISBN 3-15-002481-1
Alexander Eliasberg (1921) als Verbrechen und Strafe
Gregor Jarcho (1924) als Verbrechen und Strafe
Bernhard Dedek (1925), Übersetzung und Bearbeitung, als Raskolnikow. Schuld und Sühne
Werner Bergengruen (1925) als Schuld und Sühne
Valeria Lesowsky (ca. 1930) als Raskolnikow (Schuld und Sühne)
Alexander Eliasberg (1948) als Schuld und Sühne
Fega Frisch (1952 oder früher) als Schuld und Sühne
Richard Hoffmann (vor 1960) als Schuld und Sühne ISBN 3-538-06910-7
Benita Girgensohn (1963) als Schuld und Sühne
Brigitte Klaas (1980) als Schuld und Sühne ISBN 3-442-07531-9
Margit und Rolf Bräuer (1994) als Schuld und Sühne ISBN 978-3-7466-6102-5
Swetlana Geier (1994) als Verbrechen und Strafe ISBN 3-250-10174-5 und ISBN 3-596-12997-4
Hermann Röhl (2007) als Schuld und Sühne ISBN 978-3-458-35213-6

Einzelnachweise

  1. Maximillian Braun: Dostojewskij – Das Gesamtwerk als Vielfalt und Einheit, Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen (1976), S. 105 f.
  2. Maximillian Braun: Dostojewskij – Das Gesamtwerk als Vielfalt und Einheit, Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen (1976), S. 117 ff.

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