Großer Amerikanischer Straßenbahn-Skandal

Großer Amerikanischer Straßenbahn-Skandal
Pacific Electric Railway Straßenbahnen auf einem Schrottplatz gestapelt, 1956

Als Großer Amerikanischer Straßenbahn-Skandal (engl. Great American streetcar scandal) wird die systematische Zerstörung des auf der Straßenbahn basierenden öffentlichen Personennahverkehrs in 45 Städten der USA unter Führung der General Motors Company, der größten US-Automobilbaugesellschaft, ab den 1930er bis in die 1960er Jahre bezeichnet. Die Verkehrsunternehmen wurden aufgekauft, um eine Stilllegung der Straßenbahnstrecken zu Gunsten des Automobilverkehrs zu erreichen, damit Fahrzeuge und Betriebsstoffe aus eigener Produktion abgesetzt werden konnten.

Bis ein Urteil des Obersten Gerichtshofes 1956 diese Praxis, Schienennetze stillzulegen, endgültig untersagte, hatte sich die Zahl der Straßenbahnzüge in den USA bereits von 37.000 auf 5.300 verringert. Dass dahinter ein organisiertes Netzwerk von Automobilkonzernen steckte, wurde erst 1974 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Bradford Snell, ein Anwalt der US-Regierung, verfasste für den Anti-Monopol-Ausschusses im Senat einen Bericht auf Basis der Gerichtsakten von 1956.[1]

Inhaltsverzeichnis

National City Lines

Das kleine Busunternehmen National City Lines, welches seit 1920 aktiv war, wurde zu einer Holding, in welche Gesellschaften wie General Motors, Firestone Tire, Standard Oil of California, Phillips Petroleum, Mack und die Federal Engineering Corporation verdeckt investierten und im Gegenzug exklusive Lieferverträge für Fahrzeuge, Reifen und Öl erhielten.[2] Weitere gleichartige Firmen waren die Pacific City Lines (an der Westküste der USA ab 1938) und American City Lines (in Großstädten ab 1943).[3][4] Zwischen 1936 und 1950 kaufte National City Lines mehr als 100 elektrisch betriebene Verkehrssysteme in 45 Städten der USA[5], darunter Detroit, Cleveland, New York City, Oakland, Philadelphia, St. Louis, Salt Lake City, Tulsa, Baltimore und Los Angeles[6], und ersetzte sie mit Bussen von General Motors. American City Lines fusionierte 1946 mit National City Lines.

1950 wurden General Motors, Firestone and Standard Oil dafür einer kriminellen Verschwörung für schuldig befunden. Die Strafe betrug lediglich 5000 Dollar für die Unternehmen, Einzelpersonen erhielten Strafen von 1 Dollar.

Ursachen

Im 19. Jahrhundert begann der Nahverkehr in US-Städten zunächst mit schienengebundenen Pferdebahnen, später mit Kabelstraßenbahnen (Cable Cars). Um 1890 begann der Einsatz von Straßenbahnen mit elektrischem Antrieb. Für die benötigte Elektrizität errichteten die Unternehmen Kraftwerke. Sie fingen an, ihre überschüssigen Strom an Verbraucher zu verkaufen, und mit der Zeit verlagerte sich der Schwerpunkt der Unternehmen auf die Energieversorgung. Die erzielten Gewinne im Transportgeschäft wurden oftmals für Investitionen in Stromverteilungsnetze investiert. Langfristige Investitionen in Streckennetz und Fahrzeugpark wurden dafür zurückgestellt. Um 1916 war der Verschleiß an Fahrzeugen im US-Durchschnitt höher als die Ersatzinvestitionen.[7]

Der Public Utility Holding Company Act von 1935, ein Kartellrechtsgesetz, verbot den Energieversorgern als regulierten Unternehmen den Betrieb von unregulierten Geschäftsfeldern. Darunter zählten viele Straßenbahnbetriebe. Bei der Wahl zwischen den Geschäftsbereichen wurde das gewinnträchtige Energiegeschäft bevorzugt und die Straßenbahnen verkauft.[8][9] Regulierungen der Fahrpreise und der Arbeitsbedingungen schränkten die Handlungsfähigkeit der Verkehrsunternehmen zusätzlich ein.

Die mit der Massenmotorisierung einsetzende Suburbanisierung verschob die Verkehrsströme und führte zu einer schnellen Vermehrung der PKW-Nutzer. Die mit Straßenbahnlinien zu erzielenden Gewinne sanken so nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Zeitgeist einer autogerechten Stadt erleichterte die Begründung für Stilllegungen.

Aufklärung

1970 stellte der Student der Harvard Law School Robert Eldridge Hicks die Ereignisse zusammen um die Hintergründe des Skandals aufzudecken. Die Ergebnisse wurden zuerst 1973 in Politics of Land veröffentlicht. Mit der Aussage vor dem Anti-Monopol-Ausschusses des Senats der Vereinigten Staaten und der Vorstellung seines Berichtes („American ground transport:...“)[10][11] wurden die Recherchen des US-Regierungsanwaltes Bradford Snell der Öffentlichkeit bekannt. Er betonte die zentrale Rolle von National City Lines für die Stilllegung der Straßenbahnen.

Auswirkungen

Nach den öffentlichkeitswirksamen Ausführungen von Bradford Snell wurde der Skandal von einigen als wesentlicher Grund für das Verschwinden der Straßenbahn in den USA angesehen. So wurde diese Theorie nachfolgend im Buch Fast Food Nation von Eric Schlosser und im Film Falsches Spiel mit Roger Rabbit verarbeitet. Der Einfluss ist jedoch umstritten. Robert C. Post schrieb, dass landesweit von der Verschwörung nur 10 Prozent, also ungefähr 60 von 600 Verkehrssystemen, betroffen waren, wobei auch von den übrigen annähernd 90 Prozent den Straßenbahnbetrieb einstellten.[12] Cliff Slater kam in seinen Forschungen zur Verkehrsgeschichte in den USA zur Schlussfolgerung, dass Busse auch ohne das Handeln von General Motors die Straßenbahn ersetzt hätten.[4] Randal O'Toole vom Cato Institute, einer libertär ausgerichteten Denkfabrik, argumentiert, dass die Straßenbahn aufgrund der Entwicklung des Verbrennungsmotors und der Massenmotorisierung verschwand.[13]

Vergleichbare Entwicklungen in Westeuropa zeigen, dass auch ohne das Handeln von General Motors eine Vielzahl von Straßenbahnlinien durch mangelnde Gewinnmargen von der Stilllegung bedroht waren und der Niedergang der Straßenbahn begonnen hatte. Während die Straßenbahn in europäischen Großstädten jedoch zum Teil durch U-Bahnen ersetzt wurde, kamen in den USA aufgrund der Interessen von General Motors überwiegend Busse zum Einsatz. Durch sinkendes Angebot und steigende Fahrpreise wurde der öffentliche Personennahverkehr unattraktiver und verlor in vielen Städten die frühere Bedeutung. Neben den fehlenden öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur ist der Große Amerikanische Straßenbahn-Skandal daher eine Ursache für die geringe Verbreitung von öffentlichen städtischen Massenverkehrsmitteln in den USA.

Einzelnachweise

  1. Armin Thurnher: Vor 20 Jahren im Falter: Wie Los Angeles um das größte Straßenbahnnetz der Welt kam. Falter, Nr. 18/09, 29. April 2009, S. 3
  2. Walter C. Lindley (31. Januar 1951): UNITED STATES v. NATIONAL CITY LINES, Inc., et al.. United States Court of Appeals for the Seventh Circuit. Abgerufen am 5. April 2009.
  3. Robert Eldridge Hicks: Politics of land: Ralph Nader's study group report on land use in California. 1973, S. 410–412, 488. Compiled by Robert C. Fellmeth, Center for Study of Responsive Law. Grossman Publishers.
  4. a b Cliff Slater: General Motors and the Demise of Streetcars. In: Transportation Quarterly, Vol. 51. No. 3, Summer 1997, S. 45–66, <[1]>
  5. Paul Matus (1999): American Ground Transport: Street Railways: “U.S. vs. National City Lines” Recalled. thethirdrail.net. Abgerufen am 7. Juli 2010.
    Reprinted with permission from September, 1974 issue of Third Rail. Matus quotes from Bradford C. Snell's 1974 report to Congress.
  6. Columbus and Transportation Facilities. Ohio State University. Abgerufen am 30. November 2008.
  7. Susan Hanson, Genevieve Giuliano: The Geography of Urban Transportation. Guilford Press, 3. Aufl., 2004, ISBN 1-59385-055-7, S. 315
  8. Chicago Transit & Railfan Web Site: Streetcar and Bus Ownership: Holding Companies. Abgerufen am 28. Januar 2010.
  9. Van Wilkins (1995): The Conspiracy Revisited. The New Electric Railway Journal. Abgerufen am 27. Mai 2009.
  10. Bradford C. Snell: American ground transport: a proposal for restructuring the automobile, truck, bus, and rail industries, S. 103, Washington: U.S. Govt. Print. Off. 1974
  11. Onlineversion American ground transport: a proposal for restructuring the automobile, truck, bus, and rail industries
  12. Robert C. Post: Urban Mass Transit: The Life Story of a Technology. Greenwood Publishing Group 2007, ISBN 9780313339165
  13. Randal O'Toole: A Desire Named Streetcar: How Federal Subsidies Encourage Wasteful Local Transit Systems. the CATO Institute. Abgerufen am 1. Januar 2011.

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