Mord an Familie Kraemer

Mord an Familie Kraemer

Der Mord an Familie Kraemer war ein Kriminalfall, der sich am Mittwochabend, den 19. Januar 1977, in Braunschweig-Mascherode ereignete. Der 43 Jahre alter Täter Ferenc S. nahm den Volksbank-Mitdirektor Wolfgang Kraemer sowie dessen Ehefrau und drei der vier gemeinsamen Kinder gefangen, um ein Lösegeld zu erpressen. Anschließend ermordete er seine fünf Opfer. Nach einem Indizienprozess wurde S. fast sechzehn Monate später zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Es handelte sich deutschlandweit um den ersten Fall seit mindestens 1945, bei dem ein Bereicherungstäter bei seiner Tat fünf Menschen ermordet hat.

Inhaltsverzeichnis

Tat

Am 19. Januar 1977 wurden der Volksbankdirektor Wolfgang Kraemer (46), seine Ehefrau Brigitte Kraemer (40) sowie die gemeinsamen Kinder Stefan (16), Nele (11) und Martin (6) in ihrem Einfamilienhaus In der Kohliwiese 4, am südöstlichen Eingang von Mascherode, vom 43 Jahre alten Ferenc S. festgehalten. Der Täter versuchte so, von der Volksbank ein Lösegeld in Höhe 165.000 DM zu erhalten. Nach der Zahlung des Lösegelds erdrosselte er die Familie am Abend mit Bindfäden, um sie als mögliche Tatzeugen auszuschalten. Die älteste Tochter des Ehepaars war zur Tatzeit in Regensburg, wodurch sie der Entführung entging. Sie war als 20-Jährige die einzige Überlebende der Familie.

Nach der Tat wurde ein Schriftstück gefunden, in dem die Freilassung von Mitgliedern der Baader-Meinhof-Gruppe gefordert wurde, wodurch offenbar die Aufmerksamkeit auf die zu dieser Zeit aktive Terrororganisation Rote Armee Fraktion gelenkt werden sollte. Ein linksterroristischer Hintergrund konnte jedoch bald ausgeschlossen und das Schriftstück als falsche Fährte identifiziert werden.[1]

Nach einer Rekonstruktion stellte sich das Tatgeschehen folgendermaßen dar:

Martin Kraemer wurde zuletzt am 19. Januar 1977 gegen 14:30 Uhr beim gemeinsamen Spiel mit seiner Schwester gesehen, die nach einem Besuch bei einer Freundin gegen 18:30 Uhr nach Hause ging. Stefan wurde gegen 16:30 Uhr bei der Fahrt auf seinem Moped zuletzt gesehen. Ein Zeuge gab an, dass sich Stefan mit ihm treffen wollte, jedoch die Verabredung nicht einhielt. Gegen 17:10 Uhr fragte er bei Brigitte Kraemer nach dem Verbleib Stefans. Obwohl das Moped in der Garage stand, gab Frau Kraemer an, Stefan sei nicht zuhause. Dies war zugleich die letzte Sichtung Brigitte Kraemers, die zuvor gegen 16 Uhr mit einem roten VW-Käfer nach Hause gefahren war. Wolfgang Kraemer kehrte gegen 18:30 Uhr von seiner Arbeit bei der Volksbank heim.

Kurz vor 21 Uhr rief Kraemer bei einem Prokuristen der Volksbank an, und teilte ihm mit, dass er von mit einer Schusswaffe bewaffneten Männern bedroht werde, die ein Lösegeld zwischen 700.000 DM und 1.000.000 DM verlangten. Dieser Betrag konnte nicht vom Prokuristen besorgt werden, sodass nach Verhandlungen Kraemers mit dem oder den Tätern ein Lösegeld von 165.000 DM vereinbart wurde. Gegen 22:30 Uhr wurde das Lösegeld vom Prokuristen an der Haustür des Einfamilienhauses an Wolfgang Kraemer übergeben. Auf Drängen Kraemers benachrichtigte der Prokurist bis zum nächsten Morgen jedoch nicht die Polizei.[2]

Zeugen gaben später an, am Abend der Tat zwei Autos gehört zu haben, die sich vom Haus entfernten. Das Fahrzeug von Brigitte Kraemer wurde später am Hauptbahnhof gefunden.

Als die Polizei am Morgen des 20. Januars 1977 am Tatort eintraf, fand sie in Keller, Erdgeschoss und erstem Stock des Hauses fünf Leichen vor, die sich als Familie Kraemer herausstellten.

Letzte Lebenszeichen (19. Januar 1977)
Name Sichtung Uhrzeit (ca)
Wolfgang (46) Lösegeldübergabe durch Prokurist 22:30 Uhr
Brigitte (40) Gespräch mit Freund von Stefan 17:10 Uhr
Stefan (16) Fahrt mit seinem Moped 16:30 Uhr
Nele (11) Heimkehr von einer Freundin 18:30 Uhr
Martin (6) Spiel mit Schwester Nele 14:30 Uhr

Ermittlungen

Am Morgen nach der Tat gründete die zuständige Kriminalpolizei eine Sonderkommission, die zeitweilig aus bis zu 80 Ermittlern bestand. Bei einer Anfrage nach ähnlichen Taten an das Auskunftssystem POLAS benannte der Computer den Ungarnflüchtling Ferenc S. als Tatverdächtigen, da S. 1970 in Bielefeld vier Personen gefesselt und eingesperrt hatte. Am 23. Dezember 1976 war S. aus einer Strafhaft in Fuhlsbüttel entlassen worden und verbrachte bereits zwölf der zwanzig Jahre in Deutschland hauptsächlich wegen Einbrüchen im Gefängnis.

Vier Tage nach der Tat wurde Ferenc S. in Hamburg festgenommen. Es wurde die Untersuchungshaft angeordnet. Der Festgenommene leugnete die Tatbeteiligung. Die Ermittlungen führten aufgrund der gegen S. sprechenden Indizien schließlich zur Anklage. Der ehemalige Mithäftling von S., Klaus-Heinz P., wurde ebenfalls festgenommen, jedoch wieder freigelassen. P. belastete S. schwer, wurde jedoch von Medien als möglicher Mittäter wahrgenommen.[3]

Weitere Reaktionen

Nach der Tat wurde vom Braunschweiger Oberstadtdirektor Hans-Günther Weber und von vielen Braunschweiger Bürgern die Wiedereinführung der Todesstrafe für Morde gefordert.[2]

Mehrere Personen wurden von Sensationshungrigen und Journalisten belästigt und eingeschüchtert, um an Informationen über den Mordfall zu gelangen; so waren etwa mehrere Menschen unter Einsatz körperlichen Drucks bis vor die Vorstandszimmer der Volksbank gelangt. Des Weiteren wurden Fotos der Familie Kraemer mit unethischen Mitteln beschafft. Teilweise wurden auch falsche Angaben über die Opfer gemacht, so wurde etwa Wolfgang Kraemer fälschlich klischeehaft als Tennisspieler hingestellt. Auch für die Trauerfeier versuchten Angehörige der Regenbogenpresse, sich unter falschen Angaben Details zum Trauerfeierort zu verschaffen. Aus ähnlichen Gründen mussten sogar zwei Anwälte das Mandat für S. aufgeben.[1]

Strafprozess

Der Strafprozess begann ein Jahr später am 2. Februar 1978 vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Braunschweig unter dem Vorsitzenden Richter Manfred Flotho. Die überlebende Tochter trat, vertreten durch ihren Anwalt Lehmann, als Nebenklägerin auf. Die Staatsanwaltschaft wurde von Karl-Heinz Reinhardt vertreten. Der Angeklagte Ferenc S. wurde von den Strafverteidigern Leonore Gottschalk-Solger, Peter Gottschalk und Reinhard Daum verteidigt. [4][3]

Für das Verfahren wurden vom Gericht 131 Zeugen und 19 Sachverständige geladen. Neben 27 Bänden mit insgesamt 6750 Seiten Prozessakten wurden auch 41 Aktenordner mit Spuren für das Verfahren verwendet.

In dem Indizienprozess wurden von der Verteidigung Argumente gegen den Zeugen P., der in einer gemeinsamen Wohnung mit S. lebte, wie auch gegen die von der Staatsanwaltschaft vorgebrachten Indizien geäußert.[3]

Neben den, teilweise unten aufgeführten, Indizien wies auch das Verhalten von S. auf ihn als Täter hin. So hatte er nach Angaben eines früheren Mithäftlings am 17. Januar 1977 versucht, diesen zu einer Geiselnahme mit Erpressung zu überreden, um an Geld zu gelangen. Dazu hätten die beiden Wohnungen von Prominenten in Hamburg beobachtet.[1]

Am 12. Mai 1978[5] wurde Ferenc S. wegen Mordes in fünf Fällen, räuberischer Erpressung und erpresserischen Menschenraubs zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Zusätzlich wurde S. wegen eines Einbruchs und versuchten Totschlags vom 26. November 1970 in Hamburg, wo er auf eine unerwartete Zeugin gezielt geschossen hatte, zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Bei ihrem erstinstanzlichen Urteil schloss die Strafkammer am Landgericht Braunschweig nicht aus, dass ein weiterer Täter an der Tat beteiligt war. Da jedoch von der Beute nur 8000 DM fehlten, kam nach Überzeugung der Strafkammer nur er als Haupttäter in Betracht. Von mehreren Journalisten wurde nach dem Urteil die Täterschaft von S. angezweifelt.[3] Die Verteidigung legte Revision ein, die am 23. März 1979 vom 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in West-Berlin verworfen wurde.[6]

S. sitzt seine Strafe weiterhin ab und kann frühestens 2012 nach 35 Jahren Haftdauer entlassen werden.[4]

Indizien

Die folgenden Indizien wurden in der Presse thematisiert.[7][1]

Indizien (Auswahl)
Name Bedeutung Ort Fundzeit (durch Zeugen oder Polizei)
Adresse von S. S. bestritt Aufenthalt in Braunschweig Von S. auf der Rückfahrt per Bahn von Braunschweig nach Hamburg für eine Studentin aufgeschrieben 20. Januar 1977: Tatnacht, nach der Tat1
Zigarettenkippen „Reval“ Nach Speichelprobe: Blutgruppe stimmt mit Blutgruppe von S. überein Am Tatort gefunden 20. Januar 1977, morgens
angebliches RAF-Schreiben Ähnliches Schriftstück wurde von einer Zeugin Monate vor der Tat bei S. gesehen Am Tatort gefunden 20. Januar 1977, morgens
VW-Käfer Auto von Frau Kraemer, vermutlich als Fluchtfahrzeug genutzt Hauptbahnhof Braunschweig 20. Januar 1977, morgens2
Kassenbelege Zwei Metallkassetten wurden kurz nach 9:30 Uhr an Morgen nach der Tat in Hamburg von einem Mann gekauft. Kaufhof, Hamburg kurz nach 9:30 Uhr am 20. Januar 1977
Zigaretten „Reval“ dieselbe Marke wie am Tatort Festnahme von S. 23. Januar 1977?
Zigarettenschachtel „Reval“ dieselbe Marke wie am Tatort Festnahme von S. 23. Januar 1977?
Stoffhandschuhe unbekannt Festnahme von S. 23. Januar 1977?
Adressen unbekannt Festnahme von S. 23. Januar 1977?
Bindfaden Gleiche Beschaffenheit wie für die Erdrosselung benutzter Bindfaden Hausdurchsuchung bei S. oder Festnahme von S., Wohnung S. und P. 23. Januar(?) oder 4. Februar 1977
Metallkassette 1 In der Wohnung von S. und P. gefunden, mit Kaufhof-Aufkleber. Inhalt: 16.500 DM Hausdurchsuchung bei S. 4. Februar 1977
Metallkassette 2 Bei Steckenabfahrt mit Zeuge P. gefunden, der die Strecken mit S. gefahren haben wollte. Inhalt: 139.000 DM, Seriennummern teilweise bei Volksbank Braunschweig registriert bei Autobahnauffahrt Hörn 4. Februar 1977?
Banderolen Banderolen der Volksbank Braunschweig, angekohlt Hausdurchsuchung bei S., Wohnung S. und P., im Papierkorb 4. Februar 1977

1 Die Polizei rekonstruierte, dass in der Nacht drei Fahrtmöglichkeiten von Braunschweig nach Hamburg bestanden. Der direkte Zug wäre um 9:29 Uhr in Hamburg angekommen.

2 Standzeit durch Schneehöhe ermittelt. Es hatte in der Tatnacht von 23 bis 1 Uhr geschneit.

Einzelnachweise und Quellen

  1. a b c d Die Zeit: Der Faden wurde ihm zum Strick. 6. Mai 1977. Onlineversion abgerufen am 14. August 2011. (Seiten: 1, 2, 3, 4, 5)
  2. a b Der Spiegel: Nicht richtig, aber ich bin zufrieden. Printausgabe vom 20. Februar 1978. Onlineversion abgerufen am 14. August 2011
  3. a b c d Der Spiegel: Zwischen Wahrscheinlichkeit und Gewißheit. Printausgabe, 22. Mai 1978. Onlineversion abgerufen am 14. August 2011
  4. a b Thomas Parr via newsclick.de: Als Ferenc S. das Lösegeld hatte, brachte er die Familie kaltblütig um. Abgerufen am 14. August 2011
  5. Rhein-Zeitung: Lösegeld gefordert - Entführungsopfer tot. Abgerufen am 14. August 2011
  6. Der Spiegel: Urteil: Ferenc S.. Printausgabe, 26. März 1979. Onlineversion abgerufen am 14. August 2011
  7. Hamburger Abendblatt: Fünffacher Mord: Aber S. schweigt. Printausgabe vom 28. Januar 1978. Onlineversion abgerufen am 14. August 2011

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