Murka

Murka
Hafenanlagen von Odessa
Russische Briefmarke von 1999. Motiv: der Sänger Wladimir Wyssozki
Waleri Leontjew (St. Petersburg, 2004)
Sława Przybylska (2010)
Die deutsch-russische Band Apparatschik (2008)
Wladimir Schirinowski (2009)

Murka (russisch Мурка), übersetzt Katze und darüber hinaus auch als allgemeiner Kosename gebräuchlich, ist der Titel eines bekannten russischen Chansons aus dem Jahr 1923. Im Unterschied zu einigen anderen bekannten russischen Liedern wie etwa Katjuscha, Kalinka, Moskauer Nächte, Dorogoi dlinnoju oder Bublitschki konnten sich verwestlichte bzw. internationale Versionen des Stücks bislang nicht etablieren. In Russland selbst ist das Lied nach wie vor sehr populär und zählt zu den beliebtesten russischen Schlagern des 20. Jahrhunderts.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Die Ur-Version von Murka entstand Anfang der 1920er Jahre in Odessa, zu Beginn der NEP-Ära.[1] Als Texturheber gilt der Komponist und Autor Jakow Jadow, dem auch die beiden Lieder Bublitschki und Gop-so-smykom zugeschrieben werden. Während Jadows Urheberschaft für Bublitschki als gesichert gilt, besteht in Bezug auf Murka keine endgültige Klarheit.[2] Im Hinblick auf die Herkunft der Melodie gibt es ebenfalls Unsicherheiten; so wird in einigen Quellen der Komponist Oskar Strok aufgeführt.[3] Auch der Name des Lieds, der Name der Hauptfigur (die Räuberprinzessin beziehungsweise Bandenanführerin Murka) sowie der Text selbst wurden im Lauf der Jahre zum Teil erheblich variiert.

Als typisches Gaunerchanson (blatnyje pesni, oder in der politisch korrekten heutigen Bezeichnung russisches Chanson) war das Lied erst unter dem Titel Ljubka (übersetzt: Liebchen) bekannt; die beschriebene Person firmierte unter dem Namen Mascha.[1] Als moritatähnliche Geschichte behandelt das Lied die Geschichte einer Bandenanführerin, die ihre Bande an die Tscheka verrät und – nachdem die Bande Ratschlag gehalten und die Verräterin verurteilt hat – von dieser exemplarisch liquidiert wird. Der Text des Lieds erfuhr im Verlauf seiner Geschichte unterschiedliche Abwandlungen und Erweiterungen. Während die ursprüngliche Version die Geschichte der verräterischen Bandenchefin und ihrer Bestrafung in den Mittelpunkt stellt, fügen spätere Versionen stärker romantizierte Aspekte hinzu oder lassen den kriminellen Background ganz in den Hintergrund treten.[1]

Obwohl sich die beschriebene Geschichte mit etwas Willen auch als Systemkritik interpretieren ließ, erwies sie sich als variabel genug, um auch gegenteilige Interpretationen nicht auszuschließen. Bereits in den 1920er Jahren entstanden größere Textveränderungen. Eine Eigenheit der Moskauer Varianten war zum einen ihre größere Länge, zum anderen die stärkere Betonung eines systemkonformen Endes der Story. So wurden aus den Tscheka-Kommissaren etwa Kriminalbeamte, aus der (schönen) Verräterin eine ehemalige Kriminelle, die ihr falsches Handeln bereut und daraus Konsequenzen zieht. Die Kriminellen schließlich wurden gefasst und abgeurteilt – ein weiteres Element, welches der sozialistischen Gerechtigkeit Genüge zu tun schien.[1]

Auch die Säuberungen im kulturellen Bereich während der 1930er Jahre überstand das Lied relativ unangefochten. Ein möglicher Grund ist seine schon damals immense Beliebtheit, ein anderer der volkstümliche Charakter des Genres insgesamt sowie die Tatsache, dass Systemkritik allenfalls auf versteckte, indirekte Weise enthalten war. Für die widerborstig-unkonformen Elemente des Lieds spricht, dass es während des 2. Weltkriegs unter Deportierten sowie bei den Strafbataillionen sehr beliebt war. Im informellen Bereich kursierten zudem ironisierende Versionen – etwa anlässlich der offiziellen Propaganda im Umfeld einer Rettungsaktion für einen havarierten Dampfer im Jahr 1934.[1] Der russische Alltags- und Kulturchronist Wladimir Bachtin brachte den Umgang mit dem Lied folgenden Worten auf den Punkt: „Alle wussten, dass es ein Verbrecherlied war, aber alle sangen es.“ [4] Nach dem 2. Weltkrieg brachten Leningrader Plattenfirmen entschärfte Versionen des Liedes auf 78er-Schallplatten auf den Markt.[2] Während der Breschnew-Ära hielt sich das Lied weiter als fester Bestandteil des russischen Populärmusik-Guts. Der im Winter 1945 spielende sowjetische Kriminalfilm-Fünfteiler Mesto wstretschi ismenitj nelsja (übersetzt etwa: Den Treffpunkt darf man nicht ändern) aus dem Jahr 1979 beispielsweise enthielt eine Szene, in der ein Protagonist auf dem Klavier zunächst eine Chopin-Melodie anstimmt, auf Wunsch der Zuhörer jedoch zur Melodie von Murka wechselt.[5]

Auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs blieb Murka einer der beliebtesten russischen Songs. Zum Jahreswechsel 2000 etwa eröffnete der Sänger Waleri Leontjew eine NTV-Show über die populärsten Lieder des 20. Jahrhunderts mit Murka.[2] Die Anzahl unterschiedlicher Interpretationen und Einspielungen dürfte – bedingt unter anderem durch Internetplattformen wie YouTube und den stark durchinternationalisierten Musikmarkt – im dreistelligen Bereich liegen. Das 80-jährige Jubiläum des Lieds wurde auch seitens der russischen Presse als Thema aufgegriffen.[3]

Versionen

Zeitbedingt gelten frühe Einspielungen von Murka heute als Raritäten. Beliebte Versionen in den 1920ern und 1930ern stammten von der sowjetischen Jazz- und Unterhaltungsmusik-Legende Leonid Utjossow sowie, stärker den Tango-Rhythmus in den Vordergrund stellend, von Konstantin Sokolski. Chansonartige Versionen im typischen Erzählstil der Blat-Songs gibt es von Wladimir Wyssozki und Arkadi Sewerny, in neueren Varianten von Iwan Moskowski, Griz Drapak und Michail Gulko. Wyssozki und Sewerny spielten das Lied in unterschiedlichen Versionen. Aufgrund des staatlich kontrollierten Zugangs zu Tonträger-Einspielungen entstand die Mehrzahl dieser Aufnahmen inoffiziell; einige sind derzeit nur als Audio- oder Video-Datei im Internet zugänglich.

Neben frühen Aufnahmen sowie Versionen im klassischen Gaunerchanson-Stil gibt es modernisierte, zeitgemäße Varianten in allen möglichen Spielarten. Ein Beispiel für eine Einspielung im Stil der offiziellen gehobenen Unterhaltungsmusik, der sowjetischen Estrada, stammt von Fedo Chatschaturjan. 2004 offerierte die Sängerin Tanja Tischinskaja eine poppige, mit Techno-Rhythmen unterlegte Version. Zwei stark zum Jazz hin tendierende Versionen stammen von der polnischen Sängerin Sława Przybylska (eingespielt in der späten Sowjet-Ära) und der Pop-Sängerin Yulya (1991). Einhergehend mit der Renaissance der Blat-Chansons avancierte Murka zum beliebten Standard im Programm einiger Straßenpolka- und Low-Fi-Rockkapellen – beispielsweise den Bands Apparatschik, La Minor und Vulgargrad.[6] Eine textlich sehr frei gehaltene, mit Rap- und Persiflage-Elementen angereicherte Version spielte 2002 die russische Punkband Krasnaja Plesen ein. Obwohl sich die Verbreitung des Lieds weiterhin vorwiegend auf den russischsprachigen Kulturkreis beschränkt, gibt es mittlerweile auch hebräische sowie türkische Textübersetzungen und Aufnahmen.[7]

Sonstiges

  • Der Zeithintergrund, die unklare Quellenlage, was die genaue Entstehung anbelangt, sowie die zahlreichen Textversionen haben zu unterschiedlichen Gerüchten und Theorien geführt, unter anderem auch über mögliche zeitgeschichtliche Hintergründe. Eine leitet sich aus einer frühen Textversion ab, in der als Herkunftsort der Bande die Amur-Region aufgeführt wird – zu Zeiten des Russischen Bürgerkriegs einer der Kriegsschauplätze im Fernen Osten. Aus dieser wiederum wird ein Zusammenhang zur Machnowschtschina hergeleitet – einer gegen die bolschewistischen Machthaber gerichteten, stark von anarchistischen Vorstellungen geprägten Bauernerhebung in der Ukraine. Andere Interpretationen beschäftigen sich mit semantischen Übereinstimmungen; so hat das Kürzel der Moskauer Kriminalpolizei (Moskowski ugolowny rosysk; MUR) dieselben drei Anfangsbuchstaben wie der Liedtitel. Auch bestimmte Elemente der Geschichte sowie im Text vorkommende Begriffe sind immer wieder Quell unterschiedlicher Deutungen.[1]
  • An einer öffentlichen Vorführung von Murka versuchte sich auch der russische Rechtspopulist und LDPR-Gründer Wladimir Schirinowski. Da Schirinowski Probleme hatte, den Ton zu halten und vier Einsätze mit drei unterschiedlichen Künstlern verhaspelte, machte der Auftritt vor allem als unfreiwillige Satire Furore.[1] Schirinowskis Murka-Versuche wurden in der Folge auf mehreren Video-Mitschnitten auf der Internet-Plattform YouTube dokumentiert.
  • Die Popularität, welche Murka und ähnliche Lieder in den letzten Jahren erfuhren, stieß nicht auf ungeteilte Zustimmung. Andrei Saweljew, Duma-Abgeordneter der linksnationalistischen Partei Rodina, beschwerte sich in einem Statement darüber, dass Gaunerchansons in den Radioprogrammen allgegenwärtig seien. Saweljew: „Wenn wir zum Mittagessen in die Parlamentskantine runtergehen, werden wir selbst da mit dem Lied über die Räuberprinzessin Murka empfangen.“ [8]

Einzelnachweise

  1. a b c d e f g Murka – Geschichte eines Liedes aus dem sowjetischen Untergrund, Wolf Oschlies, shoa.de, aufgerufen am 15. Juli 2011
  2. a b c Uli Hufen: Das Regime und die Dandys. Rogner & Bernhard, Berlin 2010. ISBN 978-3807710570
  3. a b Snamenitoi pesne Murka ispolnjajetsja 80 let (russ.), NTV News.ru, 29. August 2003
  4. Wladimir Bachtin: Murkina istorija (Die Geschichte von Murka, russ.), Neva 4/1997, S. 229-232
  5. Murka, Uli Hufen, Weblog zum Buch Das Regime und die Dandys, 1. Oktober 2010
  6. Music That's Not Just For Bandits (engl.), Sergey Chernov, St. Petersburg Times, 25. Januar 2002
  7. Murka – Übersetzung ins Hebräische (russ.), Übersetzer: Shaul Reznik, auf Webseite shaul.tryam.com, aufgerufen am 15. Juli 2011
  8. Halb Russland hört Ganovenlieder, Karsten Packeiser, Russland-Aktuell, 25. Januar 2005

Literatur

  • Uli Hufen: Das Regime und die Dandys: Russische Gaunerchansons von Lenin bis Putin. Rogner & Bernhard, Berlin 2010. ISBN 978-3807710570

Weblinks


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