Opioidentzugssyndrom

Opioidentzugssyndrom
Klassifikation nach ICD-10
F11.3 Entzugssyndrom durch Opioide
ICD-10 online (WHO-Version 2011)

Das Opioidentzugssyndrom (ungenau: Opiatentzugssyndrom) wird als eine Gruppe von Symptomen definiert, die nach absolutem (vollständigen) oder relativem (z. B. durch eine Dosisreduktion) Entzug von Opioiden nach anhaltendem Konsum auftreten. Dabei handelt es sich um ein (nicht zwingend notwendiges) Kriterium für die Diagnose einer Abhängigkeit von Opioiden.

Inhaltsverzeichnis

Häufigkeit

Es ist kaum abzuschätzen, wie viel Opioidentzüge als freiwilliger „kalter Entzug“ ablaufen und wie häufig es zu unfreiwilligen Entzügen außerhalb des stationären Bereichs oder von Justizvollzugsanstalten kommt. Ebenso fehlen verlässliche Daten über den Schweregrad der dabei auftretenden Symptome. In der Regel wird der Betroffene im letzteren Fall aber mehr der Substanz zu sich nehmen, sofern er über die finanziellen Mittel verfügt, oder auf qualitativ höherwertigeren Stoff zurückgreifen, sofern die Möglichkeit dazu besteht.

Verlauf

Beim Entzug von Heroin gipfeln die Beschwerden 36 bis 72 Stunden nach der letzten Einnahme. Ein unbehandelter („kalter“) Entzug ist als solcher nicht lebensgefährlich - allerdings gibt es Berichte über schwerwiegende Komplikationen und Todesfälle im Zusammenhang mit verschiedenen Entziehungstechniken (siehe: Forcierter Opioidentzug in Narkose). Zudem kann es bei Patienten, die wegen akuten Erkrankungen (wie einer Endokarditis oder Psychose) hospitalisiert sind, zu Komplikationen kommen, die sofortiges Handeln erfordern.[1] Prinzipiell sollten alle Ärzte ein drohendes Opioidentzugssyndrom erkennen können, auch um Behandlungen, die eine stationäre Aufnahme rechtfertigen, überhaupt erst veranlassen zu können bzw. einer Selbstentlassung des Patienten aus dem Krankenhaus ziel- und situationsgerecht vorzubeugen.

Der Entzug von Buprenorphin wird gegenüber dem von Methadon als milder erlebt.[2] Folgen für die Substitutionstherapie sind, dass viele Patienten vor dem endgültigen Entzug von Methadon auf Buprenorphin wechseln möchten bzw. von vornherein letzteres bevorzugen.[3]

Schlechte Laune, Angst, Schlafstörungen und anhaltendes Substanzverlangen können bis zu sechs Monate und länger bestehen bleiben.[4] Dieser Befund ist jedoch auch bei Entzug von anderen psychotropen Substanzen zu beobachten, somit nicht Opioid-spezifisch, und vermutlich eher Ausdruck der Schwierigkeit, sich in einem „Leben ohne Drogen“ einzurichten.[1]

Der Einfluss von Dauer und Ausmaßes eines vorbestehenden Heroinkonsums auf den Schweregrad eines Entzugssyndroms werden widersprüchlich angegeben. Einerseits gibt es Untersuchungen, die einen Zusammenhang belegen[5][6], andererseits Studien, die einen Zusammenhang verneinen[7] oder keinen Einfluss auf die Dauer einer Entzugsbehandlung erkennen lassen.[8]

Beurteilung

Eine Reihe von Beurteilungsbögen ermöglichen durch die Zusammenfassung einzelner Symptome (objektiver Befunde oder subjektiver Beschwerden) die Erhebung des Intensitätsgrades eines Opiatentzugssyndroms, indem eine Punktezahl ermittelt wird:

  • Clinical Institute Narcotic Assessment (CINA)
  • Clinical Opiate Withdrawal Scale (COWS), 11 Fragen zum Zustandsbild
  • Objective Opiate Withdrawal Scale (OOWS), mit 13 Fragen; auch in einer modifizierten Form vorhanden[9]
  • Short Opiate Withdrawal Scale (SOWS). 10 Fragen zur subjektiven Befindlichkeit
  • Subjective Opiate Withdrawal Scale (SOWS), 16 Fragen zur subjektiven Befindlichkeit
  • Zusätzlich kann die Aktuelle Stimmungsskala verwendet werden, ein standardisiertes Selbstbeurteilungsverfahren zur Erfassung der aktuellen Stimmung (als einer deutschen Kurzfassung des „Profile of Mood States“), das von Geübten in 5 Minuten zu bearbeiten ist.
Grad Symptome Stunden nach letzter Heroin-Injektion
0 Opiathunger („Suchtdruck“); Ängstlichkeit, Unruhe 4
1 Gähnen, Niesen, Schwitzen, rinnende Nase, Tränenfluss 8
2 Mydriasis, Gänsehaut, Zittern, Hitzewallungen, Appetitlosigkeit, Muskel- und Knochenschmerzen - besonders in den unteren Extremitäten und im Lumbalbereich 12
3 Ausgeprägte Muskel- und Knochenschmerzen. Fieber, Übelkeit; Schlaflosigkeit. Blutdrucksteigerung, beschleunigter Herzschlag und beschleunigte Atmung 18-24
4 schmerzhafte Muskelkrämpfe; exzessives Schwitzen, Erbrechen und Durchfall können durch ausgeprägten Flüssigkeitsverlust und Elektrolytentgleisung zu einer lebensbedrohlichen Schocksymptomatik führen!

(nach: [10][11])

Entzugssymptome in der Substitutionsbehandlung

Methadon

Auch wenn die Verabreichung (razemischen) Methadons im Rahmen einer Substitutionsbehandlung opioidabhängige Patienten stabilisieren soll (und in der Regel auch stabilisiert), weisen einige gegen Ende des 24-stündigen Dosierungsintervalls deutliche Entzugserscheinungen auf. Dabei können relativ geringfügige Abnahmen der Methadonkonzentration im Plasma schon zu einer relativ ausgeprägten Beeinträchtigung der Stimmung führen.[12] Ursächlich könnten unbeabsichtigte Effekte des S-Enantiomers (der rechtsdrehenden Form) sein, sodass ein Wechsel auf Levomethadon (das linksdrehende Enantiomer) oder eine anderen Alternative bei ausgeprägten Beschwerden erwogen werden soll.[13]

Buprenorphin

Ähnliches gilt für Buprenorphin.

Einzelbelege

  1. a b „Pharmacotherapies for the Treatment of Opioid Dependence: Efficacy, Cost-Effectiveness and Implementation Guidelines“. Richard P. Mattick, et al.; Informa, 2009
  2. Buprenorphine treatment of opioid dependence: A review. Bickel, Warren K.; Amass, Leslie; Experimental and Clinical Psychopharmacology. Vol 3(4), Nov 1995, 477-489. doi: 10.1037/1064-1297.3.4.477
  3. „Community Treatment of Drug Misuse: More Than Methadone“; Nicholas Seivewright, assisted by Mark Parry; Cambridge University Press, 2009
  4. Himmelsbach, C. K.. The morphine abstinence syndrome, its nature and treatment. Ann. Int. Med. 15829-839. 1941
  5. Andrews, H. L. and Himmelsbach, C. K.: „Relation of the intensity of the morphine abstinence syndrome to dosage.“ J. Pharmacol. exp. Therap. 81:288-93,1944.
  6. Smolka M, Schmidt LG.: „The influence of heroin dose and route of administration on the severity of the opiate withdrawal syndrome.“ Addiction. 1999 Aug;94(8):1191-8.
  7. Phillips GT, Gossop M, Bradley B.: „The influence of psychological factors on the opiate withdrawal syndrome.“ Br J Psychiatry. 1986 Aug;149:235-8.
  8. Glasper A, Gossop M, de Wet C, Reed L, Bearn J.: „Influence of the dose on the severity of opiate withdrawal symptoms during methadone detoxification.“ Pharmacology. 2008;81(2):92-6. Epub 2007 Oct 19.
  9. Modified Objective Opiate Withdrawal Scale
  10. Freye: Opioide in der Medizin, 8. Aufl., Springer, 2010
  11. Substitutionstherapie bei Opiatabhängigkeit, NÖGKK Therapietipps Nr. 30, September 2004
  12. Dyer KR, White JM, Foster DJ, Bochner F, Menelaou A, Somogyi AA.: „The relationship between mood state and plasma methadone concentration in maintenance patients.“ J Clin Psychopharmacol. 2001 Feb;21(1):78-84.
  13. Timothy B Mitchell, Kyle R Dyer et al.: „Subjective and physiological responses among racemic-methadone maintenance patients in relation to relative (S)- vs. (R)-methadone exposure“ Br J Clin Pharmacol. 2004 December; 58(6): 609–617. doi: 10.1111/j.1365-2125.2004.02221.x.
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