Soziale Innovation

Soziale Innovation

Der Begriff Soziale Innovation bezieht sich auf den Prozess der Entstehung, Durchsetzung und Verbreitung von neuen sozialen Praktiken in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. Während ‚Innovation’ wörtlich ‚Neuerung’ oder ‚Erneuerung’ bedeutet, ist mit ‚sozial’ entweder die Interaktion von Menschen oder – wenn es normativ gebraucht wird – ‚gut für die Gesellschaft und ihre Mitglieder’ gemeint. In der Innovationsforschung werden soziale Innovationen entweder als Voraussetzung, Begleiterscheinung oder als Folgen von technischen Innovationen thematisiert. Die Fragen, was eine Innovation zu einer sozialen Innovation macht, ob dabei der gesellschaftliche Nutzen das entscheidende Kriterium ist und wie sich dieser bestimmen lässt, werden kontrovers diskutiert. Weitgehend Einigkeit besteht hingegen darüber, dass sich der Begriff auf Innovationen bezieht, die im direkten Zusammenhang mit der Suche nach Lösungen für gesellschaftliche Probleme und Herausforderungen stehen.[1] Bei diesen Lösungen handelt es sich oft um neue Arten der Kommunikation und Kooperation. Die Auseinandersetzung mit sozialen Innovationen als ein zentrales gesellschaftstheoretisches wie politisches Konzept gewinnt zunehmend an Bedeutung.[2]

Inhaltsverzeichnis

Entstehung des Begriffes

Die Erwähnung Sozialer Innovationen geht bis auf die Ursprünge der Innovationsforschung zurück, als deren Begründer Joseph Schumpeter mit seiner 1912 veröffentlichten „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ gilt.[3] Als ein eigenständiges Phänomen wird Soziale Innovation im deutschen Sprachraum erstmals systematisch in einem Beitrag von Wolfgang Zapf aus dem Jahr 1989 behandelt. Zapf definierte soziale Innovationen als „neue Wege, Ziele zu erreichen, insbesondere neue Organisationsformen, neue Regulierungen, neue Lebensstile, die die Richtung des sozialen Wandels verändern, Probleme besser lösen als frühere Praktiken, und die deshalb wert sind, nachgeahmt und institutionalisiert zu werden“.[4] Damit soziale Innovationen zustande kommen, sind – wie bei technischen – laut Zapf wissenschaftlicher Fortschritt und praktische Erfahrung notwendig. Der in Anlehnung an Zapf entstandene Beitrag von Gillwald (2000) enthält eine ähnliche Definition: „Soziale Innovationen sind, kurz gefasst, gesellschaftlich folgenreiche, vom vorher gewohnten Schema abweichende Regelungen von Tätigkeiten und Vorgehensweisen. Sie sind überall in gesellschaftlichen Systemen möglich, im Ergebnis Verhaltensänderungen und verwandt aber nicht gleich mit technischen Innovationen“.[5]

Beginnend mit der Thematisierung der „Grenzen des Wachstums“[6] und einer zunehmend kritischen Perspektive auf technologische Entwicklungen und ihr Problemlösungspotenzial in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ist immer öfter von der Notwendigkeit umfassender sozialer Innovationen die Rede. Diese Tendenz wird in Reaktion auf eine nach wie vor technikfixierte Innovationspolitik weiter verstärkt. Obwohl der Begriff so in den letzten Jahren große Verbreitung und Aufmerksamkeit erfahren hat, ist er gleichzeitig inhaltlich äußerst unscharf geblieben und wird meist im Sinne einer rein deskriptiven Metapher für alle möglichen Phänomene im Bereich sozialen Wandels verwendet.[2]

Theoretischer Hintergrund

Im Innovationsverständnis von Schumpeter hatten soziale Innovationen die flankierende Funktion, um die ökonomische Effektivität von technischen Innovationen zu gewährleisten. Dies galt für die Bereiche der Wirtschaft, der Kultur, der Politik und des gesellschaftlichen Lebens.[7] Doch erst mit dem Übergang von der Industrie- zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, der eine Bedeutungszunahme sozialer Innovationen gegenüber technischen nach sich zog, konnte sich soziale Innovation als ein eigenständiges Konzept in der Wissenschaft etablieren. Dieses Konzept nimmt eine zentrale Rolle in einem sich herausbildenden neuen Innovationsparadigma ein, das davon ausgeht, dass Innovation nicht mehr als ein linear ablaufender Vorgang (von Wissenschaft und Forschung hin zu marktfähigen Produkten und Dienstleistungen), sondern als ein komplexer sozialer Prozess stattfindet.[2][1] Ein wesentliches Kennzeichen dieses neuen Innovationsparadigmas ist die Öffnung des Innovationsprozesses hin zur Gesellschaft. Neben Unternehmen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen werden auch Bürger und Kunden zu relevanten Akteuren im Innovationsprozess, indem sie bei der Entwicklung neuer Produkte zur Lösung von Problemen beitragen. Begriffe und Konzepte wie ‚Open Innovation’, Kundenintegration, Netzwerke spiegeln einzelne Aspekte dieser Entwicklung wider.[2]

In der betriebswirtschaftlichen und auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung bleiben allerdings die Fokussierung auf technische Innovationen vorherrschend. In der deutschen Technik- und Industriesoziologie – innerhalb der Soziologie an erster Stelle in der Innovationsforschung aktiv – spielt soziale Innovation als Konzept noch keine große Rolle. Mit Werner Rammert erkennt ein renommierter deutscher Techniksoziologe soziale Innovation als eigenständiges Konzept an und fordert unter dessen Berücksichtigung eine grundlegende konzeptionelle Neuausrichtung der Innovationsforschung.[8] Rammert schlägt ein zweistufiges Modell vor, das Innovationen nach Relationen zum einen und nach Referenzen zum anderen kennzeichnet. Die Relationen werden in der zeitlichen (alt/neu), sachlichen (gleichartig/neuartig) und sozialen (normal/abweichend) Dimension bestimmt. Die Referenzen, die sich auf die Innovationsziele beziehen, sind z.B. die wirtschaftliche, die politische, die soziale oder die künstlerische Innovation. Damit spricht sich Rammert auch für eine konzeptionelle Differenzierung von technischen und sozialen Innovationen aus, weil sich diese – seinem Modell entsprechend – auf zwei völlig unterschiedlichen logischen Stufen befinden. „Technisch oder technisiert im Hinblick auf Innovationen bezieht sich auf die Art der konstituierenden Relationen und ist keine eigenständige Referenz“, ganz im Gegensatz zu ‚sozial’[8].

Allerdings lassen sich gerade in neuester Zeit kaum noch wichtige soziale Innovationen in entwickelten Gesellschaften aufzeigen, die nicht eng mit technischen und insbesondere medientechnischen Innovationen verknüpft sind. Wenn soziale Innovationen immer auch von neuen Interaktionsformen ermöglicht oder flankiert werden, müssen Interaktionsmedien wie z.B. die sozialen Netzwerke dabei eine erhebliche Rolle spielen. So sind die Konzepte des Open Innovation, des E-Commerce oder der Kundenintegration in Produktentwicklung und -konfiguration ohne Internet, Datenbanken, Suchmaschinen usw. nicht realisierbar und regen umgekehrt deren Weiterentwicklung an. Das Web 2.0 bildet die technische Plattform für zahlreiche soziale Innovationen, wie umgekehrt das normative Leitmotiv des Prosumers die Entwicklung des Web 2.0 vorantreibt.

Zu den weiteren theoretisch-konzeptionellen Forschungsfragen zählen die Fragen, was eine Innovation zur sozialen Innovation macht, ob es überhaupt einen spezifischen Gegenstandsbereich sozialer Innovation gibt, wie sich Soziale Innovation und sozialer Wandel unterscheiden, was die Bedingungen und Wege ihrer Genese und Verbreitung kennzeichnet und welche Rolle die Sozialwissenschaften bei der Hervorbringung oder Bewertung von sozialen Innovationen spielen können und sollen.[2][9]

Forschungsfelder

Soziale Innovationen kommen in vielfältigen Formen in unterschiedlichsten Gesellschaftsbereichen vor und lassen somit eine ganze Reihe von Forschungsfeldern entstehen. Zu den Themen, die insbesondere im Fokus der Forschung stehen, zählen Innovationen im Bereich der Dienstleistungen (mit besonderer Berücksichtigung sozialer und gesundheitsbezogener Dienstleistungen), innerhalb der Unternehmen und Organisationen mit neuen Innovations- (z.B. Corporate Social Innovation) und Managementkonzepten, in lokalen und regionalen Ansätzen von Human-Resource-Management und Qualifizierungsstrategien, im Bereich der Nachhaltigkeit (z.B. regionale Bewältigung der Folgen des Klimawandels), in der sozialen Ökonomie und sozialen Integration, in der Kultur- und Kreativwirtschaft, im Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien.

Es hat in der Wissenschaft bereits mehrere Versuche gegeben, die Erscheinungsformen sozialer Innovationen und die damit verbundenen Forschungsfelder zu katalogisieren. Gillwald etwa ordnet ausgewählte Beispiele sozialer Innovationen drei großen gesellschaftlichen Funktionsbereichen – der Bürgergesellschaft, der Wirtschaft und dem Staat – zu. Im Bereich der Bürgergesellschaft ist es bspw. der Bedeutungszuwachs nichtehelicher Lebensgemeinschaften oder die Umweltbewegung, im Bereich der Wirtschaft die Einführung der Fließbandarbeit, Qualitätsmanagement und Fast-Food-Ketten, im Bereich staatlichen Handelns die Einführung der Sozialversicherung und die in den 1970er Jahren eingeleitete Gebietsreform.[5]

Die vier Forschungsfelder, in denen das Konzept sozialer Innovation in der sozialwissenschaftlichen Forschung mittlerweile vermehrt angewandt wird, wurden von Moulaert, Martinelli, Swyngedouw und Gonzalez identifiziert. Demnach findet es Anwendung in der Management- und Organisationsforschung, in Untersuchungen zum Zusammenhang von Wettbewerbsfähigkeit und gesellschaftlicher Verantwortung von Unternehmen, in der Kreativitätsforschung und im Zusammenhang mit Prozessen der lokalen und regionalen Entwicklung.[7]

Soziale Innovation in Gesellschaft und Politik

Im zivilgesellschaftlichen Diskurs werden Soziale Innovationen etwa seit der Jahrtausendwende vermehrt eingefordert. Dies spiegelt sich nicht zuletzt wider in der Entstehung von nicht-staatlichen Einrichtungen (z.B. Stiftungen und Instituten) in vielen Ländern, die zur Verbreitung sozialer Innovationen entscheidend beitragen. So setzt sich zum Beispiel das 1990 in Wien gegründete Zentrum für Soziale Innovation (ZSI) im Rahmen des Aktionsprogramms „Soziale Innovation 2015“ dafür ein, dass bis zum Jahr 2015 „Konzepte für soziale Innovationen in öffentlichen Diskursen wirksam verankert und in zentralen gesellschaftlichen Sektoren wie Wirtschaft, Bildung und Politik eine wachsende Zahl von effektiven sozialen Innovationen realisiert werden“ und ihnen „ein ähnlicher Stellenwert zukommt, wie ihn bisher nur wirtschaftlich verwertbare technische Innovationen haben“.[10]

Auch auf der politischen Ebene ist ein zunehmendes Bewusstsein für die Bedeutung sozialer Innovationen als Innovationsmotoren der Gesellschaft festzustellen. In den USA wurde nach dem Amtsantritt von Präsident Obama ein „Büro für Soziale Innovationen und Bürgerbeteiligung“ im Weißen Haus eingerichtet[11] sowie ein „Fonds für Soziale Innovationen“ mit 50 Millionen US-Dollar im Haushaltsjahr 2010 ausgestattet.[12] Inhalte sind Bildung und Erziehung, Gesundheit sowie wirtschaftliche Fragen und Probleme. Die EU-Kommission ist ebenfalls dabei, soziale Innovationen stärker zu fördern und zu ihrer Verbreitung beizutragen. Kommissionspräsident Barroso sagte 2009: „Kreativität und Innovation im Allgemeinen und soziale Innovation im Besonderen sind gerade in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise die wesentlichen Faktoren für die Förderung von nachhaltigem Wachstum, die Sicherung von Arbeitsplätzen und die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit“.[13] Bereits in den 1990er Jahren hatte in der europäischen Innovationspolitik ein Umdenken begonnen. In den EU-Forschungsrahmenprogrammen wurde das Soziale gegenüber der Technik deutlich aufgewertet und im Grünbuch der Innovation, das die EU-Kommission 1995 herausgab, hieß es: „Innovation ist nicht nur ein wirtschaftlicher Mechanismus oder ein technischer Prozess. Sie ist vor allem ein soziales Phänomen […]. Von daher sind Zweckbestimmung, Folgen und Rahmenbedingungen der Innovation eng mit dem sozialen Klima verbunden, in dem sie entsteht.“[14]

Einzelnachweise

  1. a b Howaldt, Jürgen/Jacobsen, Heike (Hrsg.) (2010): Soziale Innovation. Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma. Wiesbaden.
  2. a b c d e Howaldt, Jürgen/Schwarz, Michael (2010): „Soziale Innovation“ im Fokus. Skizze eines gesellschaftsinspirierten Forschungskonzepts. Bielefeld.
  3. Schumpeter, Joseph (2006): Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Nachdruck der 1. Auflage von 1912, herausgegeben von Jochen Röpke und Olaf Stiller, Berlin.
  4. Zapf, Wolfgang (1989): Über soziale Innovationen. In: Soziale Welt, 40 (1/2), S. 170-183.
  5. a b Gillwald, Katrin (2000): Konzepte sozialer Innovation. WZB paper: Querschnittsgruppe Arbeit und Ökologie. Berlin. Download von: WZB (http://bibliothek.wzb.eu/pdf/2000/p00-519.pdf).
  6. Meadows, Dennis (1972): Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart.
  7. a b Moulaert, Frank/Martinelli, Flavia/Swyngedouw, Erik/Gonzalez, Sara (2005): Towards Alternative Model(s) of Local Innovation. In: Urban Studies, 42 (11), S. 1669-1990.
  8. a b Rammert, Werner (2010): Die Innovationen der Gesellschaft. In: Jürgen Howaldt/Heike Jacobsen (Hrsg.), Soziale Innovation. Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma. Wiesbaden, S. 21-52.
  9. Howaldt, Jürgen/Kopp, Ralf/Schwarz, Michael (2008): Innovationen (forschend) gestalten – Zur neuen Rolle der Sozialwissenschaften. In: WSI-Mitteilungen, 2008 (2), S. 63-69.
  10. ZSI (Zentrum für soziale Innovation) (2008): Impulse für die gesellschaftliche Entwicklung. Wien: ZSI Diskussionspapier.
  11. Office of Social Innovation and Civic Participation, http://www.whitehouse.gov/administration/eop/sicp
  12. What Is the Social Innovation Fund? http://www.whitehouse.gov/blog/What-Is-the-Social-Innovation-Fund/
  13. Barroso, Jose Manuel (2009): Förderung der sozialen Innovation – Dialog mit Präsident Barroso. Europa Press Releases Rapid, Reference: IP/09/81 vom 20. Januar 2009. Europa (http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=IP/09/81&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en).
  14. Europäische Kommission (1995): Grünbuch zur Innovation. Dezember 1995. Download von: Europäische Kommission (http://europa.eu/documents/comm/green_papers/pdf/com95_688_de.pdf).

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