Das einfache Leben

Das einfache Leben
Ernst Wiechert: Das einfache Leben, Erstausgabe 1939

Das einfache Leben ist ein Roman von Ernst Wiechert, der 1939 bei Langen & Müller in München erschien.

Protagonist ist der Kapitän und Kriegsveteran Thomas von Orla, der der Zivilisation den Rücken kehrt und seine Lebenskrise mit dem Trauma des Ersten Weltkriegs in einem naturnahen, entsagungsreichen Leben in der masurischen Seenplatte in Ostpreußen überwindet.

Inhaltsverzeichnis

Handlung

Korvettenkapitän Thomas von Orla gehört zu den Offizieren der kaiserlichen Marine, die 1916 in der Seeschlacht vor dem Skagerrak gegen die britische Royal Navy kämpfen. Gut zwei Jahre später revoltieren die Matrosen auf Thomas von Orlas Schiff, doch der Korvettenkapitän schießt im entscheidenden Moment nicht auf den Untergebenen, der die Flagge niederholt, sondern lässt sich von den Matrosen ins Meer werfen. Thomas überlebt den Sturz und wird von seinem Obermatrosen Friedrich Wilhelm Bildermann aus dem Wasser gezogen.

Fünf Jahre nach Kriegsende ist Thomas immer noch mit der Verarbeitung der Kriegsereignisse beschäftigt. In dieser Situation hat er ein Schlüsselerlebnis, als er den Psalm 90 von der „Zuflucht in unserer Vergänglichkeit“ verinnerlicht: wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz[1]. Der 45-jährige Offizier entschließt sich daraufhin, der quirligen Großstadt und seiner Familie den Rücken zu kehren, durchquert Polen und geht nach Ostpreußen. „Auf dem Wege der Arbeit als der einzigen Erlösung des Menschen“[2] beginnt Thomas eine jahrelange Suche nach dem Sinn seines Lebens. Dabei gerät er zufällig in eine scheinbar heile preußische Welt, die in der Zeit der Weimarer Republik ihren alten Charakter bewahrt hat. Die wichtigsten Beziehungen knüpft Thomas zu dem bärbeißigen General von Platen, zu dessen Enkelin Marianne, dem Förster Gruber sowie zu dem Nachbarn Graf Natango Pernein[3], einem jungen, zurückgezogen lebenden Schöngeist und Liebhaber naturwissenschaftlicher Experimente. Die Landbevölkerung bleibt dagegen weitgehend konturlos.

Im General, einem „Militarist und Reaktionär“[4], findet der Kapitän außer Dienst einen Gönner, der ihm auf der Fischerinsel jahrelang freie Hand lässt. Der umsichtige, fleißige Thomas enttäuscht seinen brummigen, aber nicht unfreundlichen Brotgeber nie. Freilich hat der Offizier in dem handwerklich geschickten Bildermann eine große Hilfe, der Thomas bald auf die Insel gefolgt war. Die beiden leben gemeinsam in der Kate auf der kleinen Insel in unmittelbarer Nähe des alten Generals. Die langen Winterabende nutzt Thomas, zwei Bücher über Moral auf See und im Gefecht zu schreiben. Die beiden Werke „Ethik des Seemannslebens“ sowie „Der Schlachtengott“ werden veröffentlicht, stoßen aber auf Widerspruch jener Leserschaft, die Deutschland nicht länger als Kriegsverlierer sehen will, etwa dem in Ostpreußen aktiven Stahlhelm. Zwar folgt Thomas der Einladung zu dessen Kriegsspielen, doch er hält Distanz.

Als Graf Natango Opfer eines Aufstandes der Landbevölkerung wird, erbt Thomas überraschend den Großteil dessen Besitzes. Thomas, der unter seinem Gönner, dem General von Platen, jahrelang als Fischer auf dem Inselchen gehaust hatte, sieht sich so über Nacht im Besitz eines gräflichen Schlosses mit Gemäldegalerie, einer gut sortierten Bibliothek und eines gut eingerichteten naturwissenschaftlichen Laboratoriums. Von Todessehnsucht erfüllt sucht er sich einige Folianten heraus, stapelt diese auf dem Nachttisch, forscht und liest. Sein Fazit lautet: „(…)das Geschaute (…) war größer als das Gedachte“[5].

Stil

Die Sprache Wiecherts ist ausgesucht virtuos. Einzelheiten aus der Lebensgeschichte Thomas von Orlas werden sehr zögerlich und indirekt erzählt, objektive Fakten weitgehend vermieden. Der Text spiegelt den Charakter Thomas von Orlas: Der Protagonist erscheint zurückhaltend, tolerant, ernst, vornehm, kunstsinnig, nachdenklich, naturverbunden, genügsam, arbeitsam und keineswegs hochmütig.

Kunstvoll wird das Stilelement der Wiederholung eingesetzt. Zweimal wird gegen die Obrigkeit aufbegehrt: Einmal wird Thomas von Orla in die Ostsee geworfen und kommt mit dem Leben davon, ein anderes Mal begibt sich Graf Natango in Gefahr und kommt darin um. Beide Male treten Herren einsam gegen den aufgebrachte Volksmenge an und müssen unterliegen.

Themen

Bescheidenheit und Demut

Der Korvettenkapitän verschweigt seinen Adelstitel und tritt in Ostpreußen als Steuermann Thomas Orla auf. Sein Sohn Joachim verrät das Geheimnis bei einem seiner regelmäßigen Ferienbesuche. Dem ehrgeizigen Jungen ist die Bescheidenheit seines Vaters fremd. Er will höher hinaus als dieser und Geschwaderchef werden. Die ethischen Grundpfeilern, die der Vater in seinen beiden Büchern für Seeoffiziere errichtet hat, lehnt er ab. Zur Beerdigung seiner Mutter Gloria kommt Joachim nicht, da er sich um seine Karriere kümmert.

Ehe und Liebe

Die Jahre auf See haben jedoch auch den Korvettenkapitän seiner Gattin und seinem Sohn entfremdet. Gloria will ihre Lebensführung nach dem Kriege nicht ändern und Thomas von Orla sind die rauschenden Feste nach seinem Schlüsselerlebnis zuwider. Er verlässt seine Frau und übergibt seinen Sohn seiner Schwester. Erst als Gloria todkrank zu ihm kommt, pflegt er sie zwölf Tage lang bis zu ihrem Ende.

Joachim gilt es als verabredet, dass er die gleichaltrige Marianne von Platen einmal heiraten wird. Diese findet aber den Vater anziehender als den Sohn. Zwar spricht Thomas von Orla die zu Beginn dreizehnjährige Marianne durchgängig als das „Kind“ an und behandelt sie auch im Erwachsenenalter noch wie sein Kind, doch der Text lässt offen, ob die beiden mehr als Kameradschaft verbindet, bis Marianne Thomas am Ende der Erzählung einen langen Kuss auf den Mund gibt. Mit dem Verzicht auf die Liebe zu dem Mädchen endet der Roman.

Gott, Krieg und Tod

Das beherrschende Thema ist das millionenfache Morden während des Ersten Weltkrieges und dessen Folgen. Dieses Thema wird durch mehrere Einzelschicksalen ausgeführt, etwa durch die Gattin des Försters Gruber, deren Sohn Valentin auf dem Schlachtkreuzer Seydlitz umkam. Die Frau verliert über dem schmerzlichen Verlust den Verstand. Auch der Moralist und Seekriegs-Ethiker Thomas von Orla hadert mit seinem Gott und kann das Schweigen des Herrn nicht begreifen.

Gefecht und Schlacht, Tod und Zerstörung, das konnte nicht alles sein. Irgendwo schleiften die zerrissenen Zügel dieses Wagens über die Erde, und so lange mußte man gehen, bis sie über einen hinwegfegten und man versuchen konnte, ein Stück zu ergreifen. Den Sinn mußte man zu finden suchen; nicht das Ganze, die Lösung, das Letzte, aber ein Stückchen Sinn, den Schimmer eines Planes, und dann wollte man in Gottes Namen noch einmal anfangen.[6]

Ostpreußen
In Masuren

Der Roman ist eine Hommage des Autors auf seine engere Heimat und die herbe Schönheit der masurischen Landschaft.

Rezeption

Vor 1945

Im Erscheinungsjahr 1939 lag eine Inhaftierung Wiecherts im Konzentrationslager Buchenwald erst wenige Monate zurück. Die beiden zuständigen NS-Dienststellen beurteilten das Buch konträr. Während das „Amt Rosenberg“ dem Werk positiv gegenüber stand, wurde es vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unter Joseph Goebbels abgelehnt. So kam es gleichsam zur Druckgenehmigung „aus Versehen“[7]. Nach Annette Schmollinger rezensierten 1939 vier deutsche Zeitschriften den Roman.[8] Die Zeitschrift „Die Frau“ kritisierte das Werk als „egoistisch“.[9] In dem Roman wurde „eine Absage an die Idee der Gemeinschaft und das Bekenntnis zur bewußten Vereinzelung“[10] gesehen.

Nach 1945

Schmollinger resümiert, das Buch repräsentiere „kein demokratisches Gesellschaftsbild als Ideal“.[11] Günter Scholdt gibt jenen, die Wiechert nicht der „Inneren Emigration“ zurechnen möchten, zu bedenken, dass zum Veröffentlichungszeitpunkt „der Rückzug aus der Öffentlichkeit eine gewichtige politische Handlung darstellte, eine Reaktion nämlich auf die totale Politisierung des Lebens im Dritten Reich, ein Signal der Resistenz gegenüber der völligen Vereinnahmung des Autors“.[12]

Die Literaturgeschichte wirft dem Autor Eskapismus vor.[13] Das sei nach Schmollinger jedoch ungerechtfertigt, denn Thomas von Orla flüchte nicht aus seinem Leben, sondern er orientiere sich um.[14] Mit dieser Rückbesinnung und Konzentration auf das Individuelle stärke er sein Ich und setze sich von der Masse ab[15]. Heinz Stolte bemängelt das „Naturkultische“[16] im Roman und Frank-Lothar Kroll kann dem Autor den schwer wiegenden Vorwurf nicht ersparen, Probleme und Geschehen ließen sich aus dem Titel erraten.[17] Weiter bemerkt Kroll, Wiechert arbeite mit Gleichnissen.[18] Der rotierende Globus symbolisiere die Wiederkehr, Thomas von Orlas Insel die selbst gewählte Robinson-Einsamkeit und die Hütte auf der Insel die Arche Noah. Thomas von Orla auf seiner Insel profiliere sich als Gottsucher. Gesucht werden Perkunos, Buddha und die Götter der Osterinsel[19]. Thomas begleite Marianne auf dem Weg zur Frau quasi als ihr Vater. Marianne behalte die Kind-Rolle und verkörpere die neue Generation.[20]

Literatur

Quelle
  • Ernst Wiechert: Das einfache Leben. Roman. München 2002. 394 Seiten, ISBN 3-7844-2910-6
Erstausgabe
  • Ernst Wiechert: Das einfache Leben. Roman. München 1939. Verlag Albert Langen und Georg Müller, 389 Seiten
Sekundärliteratur
  • Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Wort und Dichtung als Zufluchtsstätte in schwerer Zeit. S. 107 - 109. Berlin 1996. 154 Seiten, ISBN 3-7861-1816-7
  • Annette Schmollinger: „Intra muros et extra“. Deutsche Literatur im Exil und in der inneren Emigration. Ein exemplarischer Vergleich. S. 187 - 193. Heidelberg 1999 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte; Folge 3, Bd. 161). Diss. Heidelberg 1998. 247 Seiten, ISBN 3-8253-0954-1
  • Deutsche Literaturgeschichte. Band 10. Paul Riegel und Wolfgang van Rinsum: Drittes Reich und Exil 1933 - 1945. S. 166 - 170. München im Februar 2004. 303 Seiten, ISBN 3-423-03350-9
  • Gero von Wilpert: Lexikon der Weltliteratur. Deutsche Autoren A - Z. S. 669. Stuttgart 2004. 698 Seiten, ISBN 3-520-83704-8

Einzelnachweise

  1. Die Bibel, AT, Der Psalter, Psalm 90,9.
  2. Ernst Wiechert: Das einfache Leben. München 2002, S. 332.
  3. Einer altpreußisch-baltischen Sage nach war Natango der Sohn des Königs Widowuto aus Prußenland.
  4. Ernst Wiechert: Das einfache Leben. München 2002, S. 160.
  5. Ernst Wiechert: Das einfache Leben. München 2002, S. 333.
  6. Ernst Wiechert: Das einfache Leben, Verlag Kurt Desch, München 1945, S. 18.
  7. Riegel und van Rinsum, S. 169.
  8. Schmollinger, S. 191.
  9. Zitiert in Schmollinger S. 191, 26. Z.v.o. aus: der Zeitschrift „Die Frau“ (ebenfalls übernommen aus der Arbeit von Hildegard Châtellier, S. 182)
  10. Zitiert in Schmollinger, S. 191,. Z.v.o. aus: Hildegard Châtellier: „Ernst Wiechert im Urteil der deutschen Zeitschriftenpresse 1933 -1945. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Literatur und Pressepolitik“. S. 183. anno 1979
  11. Schmollinger, S. 192.
  12. Zitiert in Schmollinger, S. 192, aus: Günter Scholdt: „‚Den Emigranten nach außen entsprechen die Emigranten im Innern‘ Kasacks Diktum und die Kritik an einem Begriff“ (in: Helmut John und Lonny Neumann (Hrsg.): Hermann Kasack - Leben und Werk. Symposium 1993 in Potsdam. S. 107. Erschienen: Frankfurt a.M. 1994)
  13. Riegel und van Rinsum S. 166, 170.
  14. Schmollinger S. 190.
  15. Schmollinger S. 190.
  16. Zitiert in:Riegel und van Rinsum, S. 170.
  17. Kroll, S. 107.
  18. Kroll, S. 108.
  19. Kroll, S. 108.
  20. Kroll S. 109

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