Polnischer Korridor

Polnischer Korridor

Der Polnische Korridor (zeitgenössisch auch Danziger Korridor oder Weichselkorridor) war ein 30 bis 90 km breiter Landstreifen, der zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg Ostpreußen vom deutschen Kernland abtrennte und zu Polen gehörte. Der Korridor war keine politisch-historische Einheit; zwischen dem Polen zuerkannten Küstenabschnitt und der deutsch-russischen Grenze von 1914 lagen außer der bisherigen Provinz Westpreußen auch Teile des historischen Großpolen, die als Provinz Posen unter der Hoheit Preußens und des Kaiserreichs gestanden hatten.

Übersicht mit Danzig im Polnischen Korridor

Die Bildung des Polnischen Korridors, der geographisch gesehen ein Zerschneidungskorridor[1] durch das Deutsche Reich war, wurde nach dem Ersten Weltkrieg am 28. Juni 1919 mit der Unterzeichnung des Vertrages von Versailles beschlossen. Die Übernahme der Gebiete durch Polen fand mit Inkrafttreten des Vertrags am 20. Januar 1920 statt.

Politische Karte (grün: Freie Stadt Danzig, ab 1920)

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Ost- und Westpreußen, 1896

Vor der Abtrennung vom Deutschen Reich

Das spätere Gebiet des polnischen Korridors gehörte seit der Staatsgründung des polnischen Staates durch Herzog Mieszko I. im 10. Jahrhundert zu Polen. Nach der Zersplitterung des Königreichs Polen 1138 in Teilherzogtümer war das Gebiet Teil des Herzogtums Pommerellen, das 1294 an das Herzogtum Großpolen ging. 1308 besetzten Truppen der Mark Brandenburg Pommerellen. 1309, nach der Vertreibung der Brandenburger durch den Deutschen Orden im Auftrag des Herzogs Władysław I. Ellenlang, gab der brandenburgische Markgraf seine Rechte an dieser Provinz im Vertrag von Soldin zu Gunsten des Deutschordensstaats preis, der unter Ausspielung der Polen Pommerellen dem eigenen Herrschaftsterritorium zuführte. Nach dem Ende des 13-jährigen Kriegs und dem Zweiten Thorner Frieden am 19. Oktober 1466 unterstellten sich die pommerellischen Stände auch de jure polnischer Oberhoheit. Das Gebiet blieb 300 Jahre lang polnisch, bis es 1772 mit der Ersten Polnischen Teilung an das Königreich Preußen fiel, wo es Teil der Provinz Westpreußen wurde. Traditionell war das Gebiet ethnisch gemischt besiedelt: Hier wohnten Deutsche, Polen, Kaschuben und auch eine recht starke jüdische Minderheit.

Die Polen nannten das Gebiet westlich der Weichselmündung Danziger Pommern, Ostpommern, Weichselpommern und Unser Pommern.

Gründe für die Abtrennung vom Deutschen Reich

Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson (1912)

Nach dem 14-Punkte-Programm, in denen der amerikanische Präsident Woodrow Wilson im Januar 1918 die Kriegsziele der USA zusammengefasst hatte, sollte ein unabhängiger polnischer Staat mit einem eigenen Zugang zum Meer errichtet werden, wie es polnische Politiker, insbesondere Roman Dmowski, seit Kriegsbeginn von der Entente gefordert hatten. Am 8. Oktober 1918 überreichte Dmowski in Washington Präsident Wilson ein Memorandum,[2] das am 25. Februar 1919 auch der mit den polnischen Angelegenheiten befassten Sonderkommission der Friedenskonferenz vorgelegt wurde und in dem die territorialen Forderungen Polens an Deutschland umrissen waren. Mit dem Vorhaben des eigenen Zugangs zur Ostsee sollte das nach 123 Jahren der Fremdherrschaft neu entstandene Polen ökonomisch unabhängiger gemacht werden, als es als reiner Binnenstaat hätte sein können. Der Gegenvorschlag der deutschen Delegation in Versailles, Polen stattdessen in Gdingen und an weiteren Orten Freihäfen einzuräumen, wurde abgelehnt. Die Verwirklichung des durch deutsches Staatsgebiet führenden Korridors kollidierte teilweise mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Wilson seinen 14 Punkten zugrunde gelegt hatte, denn die Bevölkerung in dem 1772 von Preußen annektierten Territorium westlich der unteren Weichsel bis zur Ostseeküste war auch 1918 ethnisch sehr gemischt. In der deutschen Geschichtsschreibung der 1920er bis 1940er Jahre war daraus stellenweise der politische Mythos gebildet worden, der amerikanische Präsident habe nur unzureichende Geographie-Kenntnisse aufgewiesen und hätte sich deshalb von seinen Verhandlungspartnern, namentlich von dem französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau und dem Leiter der polnischen Friedensdelegation, Dmowski, während der Pariser Friedensgespräche übertölpeln lassen. Heute gehen Historiker davon aus, dass Wilson mit den ethnographischen Gegebenheiten im Großen und Ganzen vertraut gewesen war.[3] Die vielfältigen Beweggründe für sein damaliges politisches Handeln legte Wilson in Ansprachen vor dem Komitee für Auswärtige Angelegenheiten (Foreign Relations Committee) des US-Senats dar und in siebenunddreißig öffentlichen Reden, die er nach seiner zweiten Rückkehr aus Paris im Westen der Vereinigten Staaten hielt.[4]

Polnische Republik

Am 11. Juli 1920 wurden die zum Korridor gehörenden Gebiete an die Zweite Polnische Republik abgetreten und bildeten die Woiwodschaft Pommerellen. Hierzu gehörte neben den Großstädten Graudenz und Thorn (Sitz des Woiwoden) insgesamt vierzehn Landkreise. Zum Abtretungsgebiet zählte auch die Ostseeküste vom Flüsschen Piasnitz an über die Halbinsel Hela, die Putziger Wiek bis Zoppot (letzteres gehörte bereits zur Freien Stadt Danzig). Der Erholungs- und Fischerort Gdingen (poln. Gdynia) mit etwa 1.300 Einwohnern (1921) wurde vom polnischen Staat planmäßig zu einem der größten Handels-, Auswanderungs-, Kriegs- und Fischereihäfen der Ostsee mit mehr als 112.000 Einwohnern (1937) ausgebaut und durch eine Eisenbahnstrecke mit dem Industrierevier im ebenfalls abgetrennten polnischen Teil Oberschlesiens um Kattowitz (Katowice) verbunden. Für den Export oberschlesischer Kohle gebaut, wurde diese Bahnstrecke auch Kohlenmagistrale genannt. Auch militärische Anlagen umfasste der damals einzige Seehafen auf polnischem Hoheitsgebiet.

Weimarer Republik

Der polnische Korridor wurde in Deutschland generell als äußerst ungerecht und als Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht empfunden, weil der Bildung des Korridors keine Volksabstimmung vorangegangen war. Die Revision der Grenzziehung, die Ostpreußen vom Reich abtrennte, war ein vorrangiges Ziel jeder Regierung der Weimarer Republik. Aus diesem Grund ging der nach Westen stets verständigungsbereite Außenminister Gustav Stresemann auch nie auf die verschiedenen polnischen Vorschläge ein, analog zu den Verträgen von Locarno ein „Ost-Locarno“ abzuschließen, mit dem die Ostgrenze des Reiches für unverletzlich erklärt und völkerrechtlich garantiert werden könnte.[5]

Innenpolitisch war der Korridor regelmäßig Gegenstand rechtspopulistischer Propaganda. Im August 1930 verursachte etwa der ehemalige Reichsminister für die besetzten Gebiete im ersten Kabinett Brüning, Gottfried Treviranus (Konservative Volkspartei), eine internationale Krise, als er während einer Wahlkampfrede von der „ungeheilten Wunde in der Ostflanke, diesem verkümmerten Lungenflügel des Reiches“ sprach und prophezeite, Polens Zukunft sei ohne Änderung der Grenzen nicht sicher, was im Nachbarland als Kriegsdrohung verstanden wurde.

Zeit des Nationalsozialismus

Erst nach Machtübernahme der Nationalsozialisten entspannte sich die Situation scheinbar mit dem Abschluss des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes von 1934. Insgeheim wurde jedoch die Möglichkeit, den Korridor durch Krieg zurückzugewinnen, durch die nationalsozialistische Reichsregierung weiter verfolgt, wie etwa die Hoßbach-Niederschrift zeigt.

Erst nach dem Münchener Abkommen unternahm Adolf Hitler Ende 1938 einen neuen Anlauf zu einer Lösung der Frage des Korridors und Danzigs in seinem Sinne. Unter anderem forderte Deutschland nun die Rückgängigmachung der Grenzziehung des Versailler Vertrages und – aufgrund der Übergriffe gegen die deutsche Minderheit in diesem Gebiet – eine Regelung der Rechte der dortigen Minderheiten. Es forderte eine Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit der Gebiete und machte den Vorschlag, dem in dieser Volksabstimmung unterlegenen Staat als Ausgleich eine exterritoriale Autobahn durch den Korridor zu gewähren.[6] Seit dem Sommer 1939 eskalierten die Spannungen zwischen beiden Ländern. Der Streit um den Korridor war die Kulisse für den vorgetäuschten Überfall auf den Sender Gleiwitz am 31. August 1939. Der darauf folgende Angriff auf die Westerplatte bei Danzig mit den darauf folgenden Kriegserklärungen Großbritanniens (aufgrund der britischen Sicherheitsgarantie an Polen vom 31. März 1939)[7] und Frankreichs an Deutschland am 3. September 1939 markieren den Beginn des Zweiten Weltkrieges. Vor dem Angriff auf die Westerplatte hatten Tageszeitungen berichtet, dass von dort aus deutsche Passagierflugzeuge, die den Korridor überflogen, beschossen worden seien.

Zweiter Weltkrieg und Folgen

Mit dem deutschen Sieg im Polenfeldzug wurde das Gebiet des Korridors im Herbst 1939 wieder an Deutschland angegliedert; nach dessen Niederlage im Zweiten Weltkrieg 1945 fiel es zurück an Polen, nunmehr unter anderem mitsamt dem südlichen Ostpreußen und Hinterpommern und unter Vertreibung fast der gesamten in diesen Gebieten ansässigen deutschen Bevölkerung aufgrund des Potsdamer Abkommens und der Bierut-Dekrete. Damit hatte sich die – nunmehr geschichtliche – Problematik des Korridors zu einer den gesamten Ostteil des ehemaligen Reichsgebiets umfassenden Problematik ausgeweitet. Diese konnte aber durch mehrmalige Verzichtserklärungen deutscher Nachkriegsregierungen (DDR und Bundesrepublik Deutschland) und endgültig den Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages 1990 gelöst werden. Das Gebiet des polnischen Korridors gehört heute zur Woiwodschaft Pommern.

Durchquerung des Korridors

Zugverkehr

Bereits ab 1919 verkehrten mit der faktischen Inbesitznahme des Korridors durch Polen Korridorzüge zwischen dem Reich und Ostpreußen bzw. Ostpommern. Diese Züge fuhren auf polnischem Gebiet mit polnischen Lokomotiven und polnischem Personal.

Der Versailler Vertrag sicherte in Artikel 89 dem Deutschen Reich die ungehinderte Durchfahrt nach Ostpreußen zu. Konkretisiert wurde das Durchfahrtsrecht für die Eisenbahn zunächst Ende 1920 in einem provisorischen Abkommen, das am 21. April 1921 durch ein endgültiges Abkommen ersetzt wurde.[8]

Das Abkommen legte zunächst sieben Routen für Transitzüge zwischen dem Reich und Ostpreußen fest: Ab 1922 waren es acht, die allerdings nicht alle genutzt wurden. Polen hatte im Gegenzug das Recht erhalten, auf zwei Strecken durch Ostpreußen ebenfalls Transitverkehr einzurichten, nutzte dies aber nur kurze Zeit.[9]

1930 wurden fünf Routen genutzt:

Die wichtigste Route des „privilegierten Durchgangsverkehrs“ verlief auf der Strecke der alten Preußischen Ostbahn über Schneidemühl und Dirschau; 1934 verkehrten dort insgesamt sechs tägliche Zugpaare, ergänzt durch weitere Saisonzüge. Auf den anderen Strecken fuhren ein bis zwei Zugpaare. Für die Durchfahrt musste die Deutsche Reichsbahn an die Polnische Staatsbahn (PKP) eine vertraglich festgelegte Vergütung zahlen. Unterschieden wurde zwischen „privilegierten Zügen“ und „privilegierten Zugteilen“. „Privilegierte Züge“ verkehrten nur über die Ostbahn, auf allen anderen Strecken gab es „privilegierte Zugteile“, da die Züge auch für den Verkehr von und nach Polen und Danzig genutzt werden konnten. In diesen Zügen wurden nur die „privilegierten Zugteile“ verplombt und von der Zoll- und Passkontrolle in den Grenzbahnhöfen ausgenommen. Bei den „privilegierten Zügen“ über die Ostbahn war es bei einem Teil der Züge möglich, die Halte an den Bahnhöfen in Konitz und Dirschau zur Ein- und Ausreise nach Polen zu benutzen, auf beiden Bahnhöfen erfolgte nach dem Ausstieg bzw. vor dem Einsteigen eine gemeinsame deutsch-polnische Pass- und Zollkontrolle. Bei den übrigen Zügen auf der Ostbahn wurden die Halte in Polen lediglich als Betriebshalte zum Lokomotivwechsel genutzt. Zwischen Konitz und Marienburg wurden die Züge ausschließlich mit Lokomotiven der PKP bespannt.

Anfang 1936 geriet die Reichsbahn mit ihren Zahlungen für die Nutzung der Korridorstrecken aufgrund der Devisenknappheit des Deutschen Reiches in Verzug; daraufhin stellte die PKP am 7. Februar 1936 den Betrieb der meisten Korridorzüge ein. Erst im Sommer 1936 wurde ein neues Transitabkommen geschlossen. Um die Kosten für die vergleichsweise langen Strecken über Posen und Bromberg einzusparen, wurden nur noch die Verbindungen über Firchau–Dirschau–Marienburg sowie über Groß Boschpol–Danzig–Marienburg genutzt, letztere allerdings nur durch ein einziges Zugpaar. Auch die Züge nach Deutsch Eylau, Allenstein und Insterburg verkehrten nun über Marienburg. Für den Verkehr zwischen Schlesien und Ostpreußen wurden den Zügen von Berlin nach Ostpreußen in Küstrin Kurswagen aus Breslau beigestellt. Auch in den Folgejahren musste die Reichsbahn aufgrund der Devisenknappheit immer wieder die Zahl der Durchgangszüge einschränken. 1939 verkehrten im Sommerfahrplan insgesamt neun tägliche und zwei Saison-D-Züge, zudem ca. 20 Güterzugpaare.[10]

Da es bei der Bahnreise von Berlin nach Königsberg weder Pass- noch Zollkontrollen gab, waren die Fahrgäste in den Korridorzügen von der kostenpflichtigen Beantragung polnischer Visa befreit. Dennoch wurde das Verfahren wegen der Vielzahl zu beachtender Vorschriften – so war es beispielsweise zunächst verboten, die Abteilfenster zu öffnen – sowie der Kontrollen vor und nach der Verplombung nicht nur aus zeitlichen und psychologischen Gründen vielfach als Belastung empfunden.[11]

Straßenverkehr

Für den Straßenverkehr durch den Korridor wurden fünf Transitstraßen ausgewiesen:

Für die Benutzung der Transitstraßen war bei einem polnischen Konsulat ein Durchreisevisum für 1,60 RM zu erwerben. Dazu wurde an der Grenze eine Straßenbenutzungsgebühr von 5 für Autos und 3 zł für Motorräder erhoben. Für die Benutzung der Weichselbrücke bei Trzew (Dirschau) wurde eine Maut von 0,30 zł erhoben. Erlaubt war die Mitnahme von 1000 RM (bei Fahrten nach Danzig 240 RM als Kreditbrief).[12]

Schiffsverkehr

Als Alternative zum Korridorverkehr finanzierte das Deutsche Reich ab 1922 den zwischen Swinemünde und Pillau bzw. Zoppot als regelmäßige Schiffsverbindung eingerichteten Seedienst Ostpreußen.

Flugverkehr

Es bestand eine Flugverbindung der Deruluft (ab 1937 der Deutschen Lufthansa) zwischen Berlin und Königsberg mit Zwischenlandung in Danzig.[13]

Bevölkerungsentwicklung

Sprachenverhältnisse in der Provinz Westpreußen nach der Volkszählung 1910.[14]
Legende der Kreisdiagramme:
Sprachenkarte von Deutschland
Andree's Handatlas 1881 (Östlicher Ausschnitt)
Polnische Sprache um 1900
S. Orgelbranda Encyklopedja Powszechna, Ergänzung von 1912
Polnisches Plakat zur Reduzierung des deutschen Bevölkerungsanteils in einigen Städten im Zeitraum 1910 bis 1931

1910 lebten im Gebiet des späteren polnischen Korridors knapp 990.000 Menschen. Über den deutschen Bevölkerungsanteil gibt es in der Literatur unterschiedliche Angaben:

  • Der Historiker Helmuth Fechner schrieb 1964, dass 64,4 % Deutsch als Muttersprache gehabt hätten, im benachbarten Regierungsbezirk Marienwerder, der mit einer Mehrheit von 92,36 % für den Verbleib beim Deutschen Reich votierte, dagegen nur 58,8 %.[15]
  • Im dtv-Lexikon zur Geschichte und Politik im 20. Jahrhundert wurde 1974 geschätzt, der deutsche Bevölkerungsanteil im polnischen Korridor habe 1919 bei „mindestens 50 %“ gelegen.[16]
  • Der amerikanische Historiker Richard Blanke kommt dagegen in seinem 1998 erschienenen Werk zu dem Ergebnis, 1910 seien die Deutschen im späteren Abtretungsgebiet mit 42,5 % in der Minderheit gewesen.[17]

Nach der Abtrennung von Deutschland 1920 und der Übergabe des Gebietes an Polen nahm der Anteil der Deutschen an der Gesamtbevölkerung deutlich ab. 1939 betrug er nur noch zehn Prozent. Dies kann auf mehrere Gründe zurückgeführt werden.

Tausende Deutsche verließen das Gebiet schon im letzten halben Jahr vor der Abtretung an Polen, als die Beschlüsse des Versailler Vertrages bereits bekannt, jedoch noch nicht in Kraft getreten waren.[18] Gründe waren emotionale Faktoren, wie der Verlust der zuvor eingenommenen privilegierten Stellung, die Abneigung, sich in einen polnischen Staat einzufügen, die „spürbar hasserfüllte Atmosphäre“ sowie die von vielen mit einer gewissen Berechtigung erwarteten „antideutschen Verwaltungs- und Neuordnungsmaßnahmen des polnischen Staates und seiner Behörden“. Der spätere polnische Bildungsminister Stanisław Grabski hatte zum Beispiel im Oktober 1919 in Posen erklärt: „Das fremde Element wird sich umsehen müssen, ob es nicht anderswo besser aufgehoben ist.“[19]

Weitere Zehntausende Deutsche verließen das Gebiet nach dem Anschluss an Polen aufgrund repressiver Maßnahmen des polnischen Staates: Im Gegenzug zu vorangegangener Diskriminierung und Germanisierungsversuchen an der polnischen Bevölkerung im und durch den preußischen Staat bemühte sich die polnische Regierung, die Deutschen zu verdrängen, die nun eine Minderheit im polnischen Staat darstellten. Viele Deutsche wurden ausgewiesen, insbesondere Militärangehörige und Beamte, die als Repräsentanten der vorangegangenen Unterdrückung galten.[20] Dasselbe galt für alle Deutschen, die ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit behalten wollten (die so genannten „Optanten“) Sie wurden 1925 als illegale Ausländer des Landes verwiesen.[16] Dabei kam es auch zu Enteignungen und Zwangsräumungen. Einige der prinzipiell garantierten deutschen Schulen wurden geschlossen.[21][22][23] Auf Grund des Antisemitismus in Polen, der insbesondere nach dem polnisch-sowjetischen Krieg in allen polnischen Gesellschaftsschichten manifest wurde, emigrierten in der Zwischenkriegszeit auch viele Juden aus dem Korridor nach Deutschland.[24]

Gleichzeitig wurden der Zuzug und die Ansiedlung polnischer Familien aus anderen Gebieten Polens, vor allem aber polnischer Familien aus dem Ausland, die nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens ins Land drängten, durch den polnischen Staat gefördert. Der polnische Historiker Włodzimierz Borodzej und sein deutscher Kollege Hans Lemberg kommen daher zu dem Ergebnis, dass die von der zweiten polnische Republik betriebene Deutschenpolitik (odniemczenie, „Entdeutschung“) nachgerade eine Nachahmung der preußischen Polenpolitik vor 1914 war.[24]

Anteil der deutschen Bevölkerung in den Landkreisen des Polnischen Korridors
1910 [25]
Kreis Bevölkerung Deutsche Anteil
Strasburg 62.142 21.097 34,0 %
Briesen 49.506 24.007 48,5 %
Thorn (Stadt + Land) 105.544 58.266 55,2 %
Culm 50.069 23.345 46,6 %
Schwetz 87.712 42.233 47,1 %
Graudenz 89.063 62.892 70,1 %
Dirschau 64.321 28.046 43,6 %
Neustadt 71.560 24.528 34,3 %
Karthaus 66.190 14.170 21,4 %
Berent 52.980 20.804 37,3 %
Preußisch Stargard 65.427 17.165 26,2 %
Konitz 74,963 30.326 40,5 %
Tuchel 33.951 11.268 33,2 %
 
Soldau 33.951 9.210 37,7 %
Löbau 59.037 12.122 20,5 %
Zempelburg 30.541 21.554 70,6 %
insgesamt 989,715 421.029 42,5 %
1921 [25]
Landkreis Bevölkerung Deutsche Anteil
Brodnica (Strasburg) 61.180 9.599 15,7 %
Wąbrzeźno (Briesen) 47.100 14.678 31,1 %
Toruń (Thorn, Stadt und Land) 79.247 16.175 20,4 %
Chełmno (Kulm) 46.823 12.872 27,5 %
Świecie (Schwetz) 83.138 20.178 24,3 %
Grudziądz (Graudenz) 77.031 21.401 27,8 %
Tczew (Dirschau) 62.905 7.854 12,5 %
Wejherowo (Neustadt) 71.692 7.857 11,0 %
Kartuzy (Karthaus) 64.631 5.037 7,8 %
Kościerzyna (Berent) 49.935 9.290 18,6 %
Starograd (Preußisch Stargard) 62.400 5.946 9,5 %
Chojnice (Konitz) 71.018 13.129 18,5 %
Tuchola (Tuchel) 34.445 5.660 16,4 %
Teile von überwiegend bei Deutschland gebliebenen Kreisen:
Działdowo (Soldau) 23.290 8.187 34,5 %
Lubawa (Löbau) 59.765 4.478 7,6 %
Sępólno (Zempelburg) 27.876 13.430 48,2 %
 

Die Bevölkerung des polnischen Korridors betrug um 1930 etwa zwei Millionen, von denen 78 % Polen und Kaschuben, 19 % Deutsche und 3 % Juden waren. Die deutsche und jüdische Minderheit lebte überwiegend in den Städten und stellte in der Industrie und im Gewerbe die Mehrheit der Beschäftigten in dieser Region. 94 % der Bevölkerung war römisch-katholisch. Es existierten kleine Minderheiten an Protestanten und Juden. Besonders in Toruń (Thorn) war die Bevölkerung ethnisch, sprachlich und konfessionell stark durchmischt. Dort war die deutschsprachige Bevölkerung in der Mehrheit (Deutsche, deutschsprachige Juden). Juden stellten in Zempelburg die Mehrheit.[26]

In den Jahren 1944 bis 1947 wurde die deutsche Bevölkerung aus dem ehemaligen Gebiet des polnischen Korridors vertrieben, sodass es heute fast ausschließlich polnisch und kaschubisch besiedelt ist.

Literatur

  • Helmuth Fechner: Deutschland und Polen, Holzner Verlag, Würzburg 1964.
  • Leszek Belzyt: Sprachliche Minderheiten im preußischen Staat 1815–1914. Marburg 1998, ISBN 3-87969-267-X.
  • Richard Blanke: Orphans of Versailles: The Germans in Western Poland 1918–1939, University of Kentucky Press, 1993, ISBN 0-8131-1803-4.
  • Hugo Rasmus: Pommerellen/Westpreußen 1919–1939. München / Berlin 1989.
  • Hans-Jürgen Bömelburg: Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat – Vom Königlichen Preußen zu Westpreußen (1756–1806), Oldenbourg, München 1995, S. 21 ff. (eingeschränkte Vorschau).
  • Albert S. Kotowski: Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit 1918–1939. Wiesbaden 1998.

Weblinks

Belege

  1. Martin Schwind: Lehrbuch der Allgemeinen Geographie, Band 8: Allgemeine Staatengeographie, de Gruyter, Berlin 1972, S. 38–39.
  2. Paul Roth: Die Entstehung des polnischen Staates – Eine völkerrechtlich-politische Untersuchung, Liebmann, Berlin 1926, S. 70 ff. und Anhang 9, insbes. S. 133–142.
  3. Hagen Schulze, Weimar. Deutschland 1917–1933 (= Die Deutschen und ihre Nation; Bd. 4), Siedler Verlag, Berlin 1994, S. 195 f.
  4. Woodrow Wilson: Woodrow Wilsons Case for the League of Nations (compiled with hith approval by Hamilton Foley), Princeton University Press, Princeton 1923.
  5. Christian Holtje, Die Weimarer Republik und das Ostlocarno-Problem 1919–1934. Revision oder Garantie der deutschen Ostgrenze von 1919, Holzner Verlag, Würzburg 1958, passim.
  6. Gordon A. Craig, The Diplomats, 1919–1939, Princeton, New York 1953 sowie A.J.P. Taylor, Die Ursprünge des Zweiten Weltkrieges, Mohn, Gütersloh 1962.
  7. Sidney Aster, The Making of the Second World War, London 1973.
  8. Andreas Geißler, Konrad Koschinski: 130 Jahre Ostbahn Berlin – Königsberg – Baltikum, Berlin 1997, ISBN 3-89218-048-2, S. 87.
  9. Geißler/Koschinski, a.a.O., S. 88.
  10. Geißler/Koschinski, a.a.O., S. 91 ff.
  11. Zu den durch die Verplombung der Züge hervorgerufenen psychologischen Belastungen siehe beispielsweise die diesbezüglichen Abschnitte in Marion Gräfin Dönhoffs Buch Namen, die keiner mehr nennt; Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1965).
  12. Nach Baedekers Autoführer Deutsches Reich 1939 (jeweils der Stand von 1939)
  13. Hobbyseiten von Kurt Schneege über die Postgeschichte von Königsberg
  14. Vgl. hierzu Leszek Belzyt: Sprachliche Minderheiten im preußischen Staat 1815–1914. Die preußische Sprachenstatistik in Bearbeitung und Kommentar. Verlag Herder-Institut. Marburg 1998, ISBN 3-879-69267-X.
  15. Helmuth Fechner Deutschland und Polen, Würzburg, Holzner 1964.
  16. a b dtv-Lexikon zur Geschichte und Politik im 20. Jahrhundert, hrsg. v. Carola Stern, Thilo Vogelsang, Erhard Klöss und Albert Graff, dtv-Verlag, München 1974. S. 647.
  17. Richard Blanke, Orphans of Versailles. The Germans in Western Poland 1918–1939. University Press of Kentucky, 1998, S. 244.
  18. Historia Wąbrzeźna – Tom 1 (dt. Geschichte der Stadt Wąbrzeźno – Band 1), hrsg. v. Gemeindeamt in Wąbrzeźno, 2005. ISBN 83-87605-85-9, S. 179 ff.
  19. Thomas Kees, Polnische Greuel. Der Propagandafeldzug des Dritten Reiches gegen Polen. Diplomarbeit, Universität Saarbrücken, 1994, S. 14.
  20. God’s Playground. A History of Poland. Bd. 2: 1795 to the Present, Oxford University Press, Oxford 2005.
  21. Gotthold Rhode: Geschichte Polens, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1980, S. 482.
  22. Helmuth Fechner: Deutschland und Polen, Holzner Verlag, Würzburg 1964, S. 159.
  23. Hans Roos: Geschichte der polnischen Nation 1918 bis 1978, Verlag Kohlhammer, 1979, S. 134.
  24. a b Włodzimierz Borodzej und Hans Lemberg, Migrationen: Arbeitswanderung, Emigration, Vertreibung, Umsiedlung, in: Deutschland und Polen im zwanzigsten Jahrhundert. Analysen – Quellen – didaktische Hinweise, hrsg. v. Ursula A. J. Becher, Włodzimierz Borodzej und Robert Maier, Verlag Hahnsche Buchhandlung, Hannover 2001, S. 53 f.
  25. a b Richard Blanke, Orphans of Versailles: The Germans in Western Poland 1918–1939, University of Kentucky Press, 1993, ISBN 0-8131-1803-4, S. 244: Appendix B. German Population of Western Poland by Province and Country [1]
  26. Olczak Elzbieta, Atlas historii Polski: mapy i komentarze, Demart, 2004, ISBN 83-89239-89-2.

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