Defekte Demokratie

Defekte Demokratie

Als defekte Demokratie werden in der vergleichenden Demokratietheorie politische Systeme bezeichnet, die zwar bereits als demokratisch angesehen werden, gegenüber entwickelten liberalen und rechtsstaatlichen Demokratien aber verschiedene Defekte aufweisen.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung des Konzepts

Das Konzept der „defekten Demokratien” wurde Anfang des 21. Jahrhunderts von den Politikwissenschaftlern Wolfgang Merkel, Hans-Jürgen Puhle und Aurel Croissant entwickelt. Ziel war es zum einen, die bisher in der Politikwissenschaft gängige Unterscheidung in totalitäre, autoritäre und demokratische Systeme zu verfeinern. Insbesondere die in der Transformation befindlichen Länder des ehemaligen Ostblocks passten in keine der bisherigen Kategorien, da sie einerseits noch nicht alle Standards der rechtsstaatlich-liberalen Demokratie erfüllten, andererseits aber nicht mehr als autoritär einzustufen waren. Zum anderen soll in Analyse und Vergleich von Regierungssystemen die empirische Seite gestärkt werden, indem Defekte quantitativ bewertet werden. Auf diese Weise können auch Indizes („Rankings”) gebildet und der Demokratisierungs- bzw. Entdemokratisierungsprozess der einzelnen Staaten gemessen werden (z.B. Georgien, Ukraine).

Definition

Die Theorie der defekten Demokratie baut auf dem Konzept der „embedded democracy” auf. Mit diesem Begriff soll die Ansicht ausgedrückt werden, dass es sich bei „funktionierenden”, „gesunden” Demokratien um Herrschaftssysteme handelt, die aus ineinander verzahnten Teilregimen (Wahlregime, politische Teilhaberechte, bürgerliche Freiheitsrechte, Gewaltenkontrolle, effektive Regierungsgewalt) bestehen. Etwa wird oft ein System verkürzt „Demokratie“ genannt, da zwar der Herrschaftszugang in jenen Systemen durch wirkungsvolle Wahlen gesichert ist, doch es fehlen oft eine rechtsstaatliche Gewaltenkontrolle und gesicherte Grundrechte. In anderen Fällen liegt das tatsächliche Gewaltmonopol nicht bei den gewählten Repräsentanten, sondern ermöglicht es Lobbyisten, dem Militär oder einer Guerilla auf bestimmten Gebieten ihr Veto einzulegen. So lassen sich zahlreiche Kombinationen von „funktionierenden” und „defekten” Teildimensionen eines Herrschaftssystems beschreiben und somit ist das Konzept der defekten Demokratie ein Instrumentarium um bestehende reale Staaten zu klassifizieren (siehe unten: Empirie).

Merkel, Puhle, Croissant u. a. unterscheiden folgende Typen defekter Demokratien (in Klammern die jeweils beschädigte Dimension):

  • Exklusive Demokratie (Wahlregime, politische Teilhaberechte)
  • Illiberale Demokratie (bürgerliche Freiheitsrechte)
  • Delegative Demokratie (Gewaltenkontrolle)
  • Enklavendemokratie (effektive Regierungsgewalt)

Kritik

Das Konzept der defekten Demokratie ist in der Politikwissenschaft umstritten.

  • Einige Kritiker bemängeln, der Demokratiebegriff werde zu weit gedehnt. Selbst Länder mit autoritären Zügen könnten danach noch als defekt demokratisch bezeichnet werden. Weiterhin könne man von einem Kernkonzept ("root concept" nach Sartori) keine Subtypen ableiten, die genau diesen dargelegten Kernprinzipien widersprechen. Wenn Merkel die freie und faire Wahl als Kernprinzip der Demokratie ansehe, so sei ein Land ohne freie und faire Wahl eben nicht als Demokratie, auch nicht als "defekte" einzustufen.
  • Andere meinen, der Demokratiebegriff werde zu sehr eingeengt. Weil es neben den westlichen Ländern kaum Staaten mit vollständig funktionierenden Demokratien gäbe, müssten fast alle Demokratien als defekt eingestuft werden (vgl. Krennerich 2005).
  • Weitere Kritik betrifft die Methodik:
  1. Zum einen die reine Verwendung von Deduktion bei der Erarbeitung der "embedded democracy": Man könne unmöglich ein so entstandenes, rein "westliches" Demokratiekonzept etwa auf asiatische Fälle anwenden.
  2. Zum anderen die Bildung von Subtypen (also Idealtypen). So sei die Ausleuchtung der demokratischen Grauzone nicht adäquat möglich. Man dürfe solche Grauzonenregime nicht von den Polen Demokratie oder Autokratie her verstehen. Sie bildeten vielmehr eigene Formen, die als hybride Regime bezeichnet werden und deren Merkmale dementsprechend nur durch Induktion zu erschließen sind.

Literatur

  • Jörn Knobloch: Defekte Demokratie oder keine? Lit Verlag, Münster/Hamburg/London 2002, ISBN 3-8258-6325-5
  • Michael Krennerich: Defekte Demokratie. In: Dieter Nohlen, Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Beck, München 2005, S. 119–121, ISBN 340654116X
  • Gerhard Mangott: Zur Demokratisierung Russlands. Band 1: Russland als defekte Demokratie. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2002, ISBN 3-7890-7973-1
  • Wolfgang Merkel: Systemtransformation. 2. Auflage, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-531-14559-4
  • Wolfgang Merkel: Systemtransformation. Leske & Budrich, Opladen 1999 ISBN 3-8100-2234-9
  • Wolfgang Merkel, Hans-Jürgen Puhle, Aurel Croissant (Hrsg.): Defekte Demokratien. Bd.1, Theorien und Probleme. Vs Verlag für Sozialwissenschaften, 2003, ISBN 3-8100-3234-4
  • Wolfgang Merkel, Hans-Jürgen Puhle, Aurel Croissant (Hrsg.): Defekte Demokratien. Bd.2, Defekte Demokratien in Osteuropa, Ostasien und Lateinamerika. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, ISBN 3-8100-3235-2
  • Guillermo O'Donnell: Delegative Democracy. In: Journal of Democracy (7:4) 1994, S. 112–126.

Siehe auch

Weblinks


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