Die Plebejer proben den Aufstand

Die Plebejer proben den Aufstand

Dasdeutsche TrauerspielDie Plebejer proben den Aufstand wurde von Günter Grass 1966 veröffentlicht. Die Uraufführung fand am 15. Januar 1966 im Berliner Schillertheater statt.

Inhaltsverzeichnis

Handlung

1. Akt

Am 17. Juni 1953 finden im Deutschen Theater Berlin Proben zu einer Bearbeitung von William Shakespeares Drama Coriolanus statt, die von demChef“ (gemeint ist offensichtlich Bertolt Brecht) geleitet werden. Im Zentrum der Besprechung steht die Frage, wie in der ersten Szene die Plebejer dargestellt werden sollen. Besonders missfällt es demChef“, wie leicht die Plebejer sich in der Shakespeare-Fassung durch Menenius Agrippa von ihren Aufstandsplänen abbringen lassen. Erwin, der Regieassistent, bringt das Unbehagen auf den Punkt:Weil Gleichnis sich auf Einfalt reimt, wird gleichnishaft das Volk geleimt.“ DemChefmissfällt es allerdings, wenn man gleich zu Beginn des Stückes das Volk für einfältig hält.

In diese Besprechung platzt eine Delegation von Arbeitern hinein, die von demCheferwarten, dass dieserein Schreibenfür sie aufsetze, wodurch er den Aufständischen eine Stimme gebe. DerChefhält die Arbeiter hin, da ihm nicht klar ist, wofür sie kämpfen wollen. Berechtigte Fragen können sie nicht beantworten:Habt ihr den Rundfunk schon besetzt? / Den Generalstreik ausgerufen? / Ist man vor Westagenten sicher? / Was treibt die Vopo? Schaut sie weg? / Gabt ihr der Sowjetunion Gewähr, / daß es beim Sozialismus bleibt? / Und wenn nun Panzerwagen kommen?“

Weil sich die Arbeiter ratlos zeigen und weil ihm seine Proben wichtiger sind, will derChefdie Arbeiter nach Hause schicken.

2. Akt

DerCheflässt sich von den Arbeitern den bisherigen Ablauf des Aufstands vorspielen und benutzt die entsprechenden Szenen für die Proben zu seiner Shakespeare-Bearbeitung. „Plebejer und Proleten / sind wilde Ehe eingegangen.“, stellt er nicht ohne Vergnügen fest. „Volumnia“, seine Lebensgefährtin, die die Szene beobachtet, kommentiert diese mit den Worten:Was bist du doch für ein mieser Ästhet!“ Schließlich verliert ein Maurer die Geduld: Er beschimpft denChefmit dessen Ansicht nach nichtssagenden Worten. Nicht einmal das WortArbeiterverräterfalle, so derChef“, dem Maurer ein.

In dieser Phase des Stillstands tritt Kosanke, Vertreter der Partei, auf. Er erwartet vomChefLoyalität gegenüber dem Staat und eine entsprechende schriftliche Erklärung; derChefmöchte auch Konsankes Wunsch nicht erfüllen. „Mich liest der Westen mit Vergnügen; / der Osten liest Kosankes Lügen.“, provoziert er seinenKollegen“. Es entwickelt sich eine verbale Auseinandersetzung zwischen den Arbeitern und Kosanke, der sich dieser durch seinen Abgang entzieht.

DerCheffreut sich über die reicheBeute“, da die ganze Zeit das Tonband Aufnahmen gemacht hat. „Volumniakommentiert dies mit den Worten:Er spielt.“

3. Akt

Wiebe und Damaschke von der Streikleitung treten auf und fordern denChefauf, einen Streikaufruf zu verfassen. Ihre Forderungen sind deutlich radikaler als die der bereits länger anwesenden Arbeiter, die letztlich nur eine Rücknahme der Normenerhöhung erreichen wollten. Als derChefdie Arbeiter weiter hinhalten will, kommt es zu einemStandgericht: DerChefund Erwin sollen aufgehängt werden.

Erwin schlüpft in die Rolle des Menenius Agrippa und erzählt die Fabel vom Bauch und den Gliedern. Hiervon beeindruckt, geben die Arbeiter ihre Absicht auf, die Theaterleute hinzurichten.

Die Ereignisse spitzen sich zu: Es gibt außerhalb des Theaters die ersten Verletzten. Aus der Ferne hört man Kosanke durch ein Megaphon sprechen. Wiebes Ruf nach Freiheit wird durch das Geräusch heranrollender Panzer übertönt. Der Aufstand ist offensichtlich gescheitert. DerChefentschließt sich, ein Schreiben an die Parteileitung zu verfassen. Zu spät erkennt er:Es atmete der heilge Geist. / Ich hielts für Zugluft, / rief: wer stört?“. Daraufhin hört er sich noch einmal die Bandaufnahmen an.

4. Akt

Kosanke tritt auf und schüchtert die Theaterleute ein. Er nötigt denChef“, seine Unterschrift unter ein Schreiben zu setzen, in dem er zusammen mit anderen Intellektuellen seine Solidarität mit der SED ausdrückt. Zunächst ziert er sich, weil er keinChamäleonsein wolle, doch dann unterschreibt er, vonVolumniahierzu gedrängt, behält aber heimlich eine durchpausierte Fassung, mit der er seine differenzierte Haltung beweisen will. DenCoriolanwill er nicht weiter bearbeiten; denn er wisse jetzt, „daß wir […] den Shakespeare nicht ändern können, solange wir uns nicht ändern.“ Letztlich bleibt demChefnur der Rückzug in eine Idylle in einemHaus, zwischen Pappeln, am See gelegen“.

DieFabel vom Bauch und den Gliedern

Schon in der antiken Literatur wurde eine (angebliche) Episode aus den Ständekämpfen in Rom zur republikanischen Zeit aufgegriffen. Der patrizische Senator Menenius Agrippa habe versucht, die aufständischen Plebejer mit einer Fabel zu beruhigen, und zwar derFabel vom Bauch und den Gliedern“. Am bekanntesten ist die Version von Titus Livius (in:ab urbe condita, 2, 32, 8-12“). Die Fabel wurde von William Shakespeare in seinem DramaCoriolanusaufgegriffen. Dieses wiederum wurde von Bertolt Brecht in den 1950er Jahren bearbeitet.

Menenius Agrippa behauptet in allen Fassungen der Fabel, die Bürger Roms bildeten einen Körper, und es sei deshalb unsinnig, wenn die Plebejer gegen die Patrizier kämpften. Denn ein Kampf der Glieder gegen den leeren Magen (als den Menenius den von Patriziern geführten Senat darstellt) ergebe keinen Sinn. In allen Versionen vor Brechts Bearbeitung hat diese Behauptung einen durchschlagenden Erfolg: Die Plebejer geben ihren Kampf auf. In der Druckfassung von BrechtsCoriolanhingegen sind die Plebejer nicht von der Fabel überzeugt, sondern reagieren auf dieSprache der Gewalt“ (Marcius' Soldaten treten am Ende der Rede Menenius' auf). Brecht lässt denSchönrednerMenenius die Situation im Vier-Augen-Gespräch mit Marcius mit den folgenden Worten auf den Punkt bringen:Es war nicht meiner Stimme Erz, es war / Die Stimme deines Erzes, die sie umwarf.“

Grass wiederum zeigt, dass die Fabel auch in der Gegenwart die ihr von Livius und Shakespeare zugewiesene Wirkung entfaltet. Erwin meint:Hier hat ein Unsinn Tradition / und hält sich frisch wie Formalin die Leichen. / Drum darf der Fortschritt ihn nicht streichen.“ Einfache (einfältige?) Menschen sind also der Rhetorik derSchönrednernicht gewachsen.

Die Fabel ist ein frühes Musterbeispiel für politische Manipulation: Durch Übersetzung eines Sachverhaltes auf eine Bildebene und anschließendestimmigeArgumentation auf dieser EbenebeweistMenenius, dass es eine Schicksalgemeinschaft zwischen den Plebejern undihremStaat gebe. Tatsächlich ist es unzulässig, Begriffe wieStaatsorganwörtlich zu verstehen.

Ernst Bloch bewertet dieFabel vom Bauch und den Gliedernalseine der ältesten Soziallügen“.[1]

Dichtung und WahrheitBrecht und der 17. Juni 1953

Auf die Frage, ob man denn denChefnicht betrachten könne, ohne an Brecht zu denken, antwortete Marcel Reich-Ranicki 1966:Nein, man kann es nicht. Denn wenn uns diese Gestalt überhaupt zu interessieren vermag, so vor allem dank Brecht, dank den Anspielungen auf seine Situation in der DDR, auf seine Stücke und Gedichte, auf sein Theater und sein Leben.“[2]

Günter Grass wusste schon 1964, dass Bertolt Brecht am 17. Juni 1953 mit Arbeiten an Erwin StrittmattersKatzgrabenund nicht mit Proben für seine Bearbeitung von ShakespearesCoriolanusbeschäftigt war.[3] Auch gibt es keinen Beleg dafür, dass Brecht von Aufständischen um Unterstützung gebeten worden wäre und zu diesem Zweck unangekündigten Besuch imDeutschen Theater Berlinerhalten hätte.

Nach Aussagen Günter Kunerts[4] hat sich Brecht nicht bis zur Niederschlagung des Aufstands im Theater aufgehalten, sondern sich mit ihm und Kurt Bartel (dem Vorbild für die Figur Kosanke) bei Stephan Hermlin getroffen, um über eine gemeinsame Reaktion führender Kulturpolitiker und Intellektueller auf den Aufstand zu beraten.

Allerdings gibt es das auf das Jahr 1953 datierte Protokoll (?) eines Regiegesprächs über die Arbeit an ShakespearesCoriolan“, in dem das geflügelte Wort enthalten ist:Wir können den Shakespeare ändern, wenn wir ihn ändern können.“[5] Damit meint Brecht offensichtlich, dass er in der Lage sei, die undemokratische, volksfeindliche Tendenz aus dem StückCoriolanusvon Shakespeare zu entfernen. Eine Aufführung desCoriolankam zu Brechts Lebzeiten (wegen der Ereignisse des 17. Juni 1953?) nicht zustande.

Werkausgaben

  • Günter Grass: Die Plebejer proben den Aufstand. Ein deutsches Trauerspiel. Fischer. Frankfurt am Main 1966.
  • Günter Grass: Die Plebejer proben den Aufstand. Ein deutsches Trauerspiel. Luchterhand. Darmstadt/Neuwied 1977
  • Günter Grass: Die Plebejer proben den Aufstand. Ein deutsches Trauerspiel. Steidl. Göttingen. 2003. ISBN 3-88243-934-3

Literatur

  • Günter Grass: Vor- und Nachgeschichte der Tragödie des Coriolanus von Livius und Plutarch über Shakespeare und Brecht zu mir. Rede, gehalten am 24. April 1964 vor der Akademie der Künste in Berlin. In: Günter Grass: Die Plebejer proben den Aufstand. Ein deutsches Trauerspiel. Fischer. Frankfurt am Main 1966. S.101-124

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Ernst Bloch: Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz. Suhrkamp. Frankfurt am Mein. 1970, S. 172-176 (geschrieben 1936)
  2. Marcel Reich-Ranicki: Trauerspiel von einem deutschen Trauerspiel. Die Zeit. 21. Januar 1966
  3. Günter Grass: Vor- und Nachgeschichte der Tragödie des Coriolanus von Livius und Plutarch über Shakespeare und Brecht zu mir. Rede, gehalten am 24. April 1964 vor der Akademie der Künste in Berlin. In: Günter Grass: Die Plebejer proben den Aufstand. Ein deutsches Trauerspiel. Fischer. Frankfurt am Main 1966. S.123
  4. Günter Kunert: Kein Tag wie jeder andere. Erinnerungen an den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953. In: Neue Zürcher Zeitung vom 17. Juni 2003. [1]
  5. Bertolt Brecht: Studium des ersten Auftritts in ShakespearesCoriolan. In: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1967. Band 16 (Schriften zum Theater 2). S.869-887

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