Standgericht

Standgericht

Ein Standgericht ist ein Ausnahmegericht bei Unterdrückung von Empörungen und inneren Unruhen.

Die Urteile kann der in einem Ort oder Lager anwesende oberste Befehlshaber sofort bestätigen und vollziehen lassen. Das Standrecht proklamieren heißt, der Einwohnerschaft und den Soldaten kundgeben, dass solche Ausnahmegerichte eingesetzt sind. Die Gerichtsbarkeit bezieht sich auf alle, also Militärs und Zivilisten. Die Rechtmäßigkeit von Standgerichtsurteilen, die während der Zeit des Nationalsozialismus in der Endphase des Zweiten Weltkrieges ergingen, war in Deutschland bis zum ersten NS-Unrechtsurteileaufhebungsgesetz von 1998 umstritten. In Deutschland sind Ausnahmegerichte – also auch Standgerichte – seit 1949 verfassungswidrig.

Inhaltsverzeichnis

Deutschland

Mittelalter

Über die Tätigkeit von Standgerichten im Mittelalter gibt es aus Deutschland insgesamt nur wenige Überlieferungen. Ein Fall behandelt ein Standgericht des Herzogs Heinrich I. von Braunschweig und Lüneburg in der Lüneburger Heide. Er hatte 1388 die Nachfolge seines Vaters als Herzog angetreten. Im Verlauf einer Reise nahm er einem Pferd die Halfter vom Kopf und ließ damit den ihn begleitenden Vogt von Celle am nächsten Baum aufknüpfen, weil dieser einem Bauern den Mantel weggenommen hatte.[1]

Deutsches Kaiserreich

Nach der Deutschen Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898 waren Militär-Standgerichte zuständig für die Strafsachen der niederen Gerichtsbarkeit und durften nur auf Einziehung, Freiheitsstrafe bis zu sechs Wochen und Geldstrafe bis 150 Mark erkennen. Sie bestanden aus einem Stabsoffizier als Vorsitzendem und einem Hauptmann und einem Oberleutnant als Beisitzern. Diese wurden zusammen mit ihren Stellvertretern alljährlich vor Beginn des Gerichtsjahres auf dessen Dauer ein für alle mal bestellt und bei Antritt des Richteramts vereidigt.

In Kriegszeiten wurden Feldstandgerichte und an Bord von Marineschiffen Bordstandgerichte aufgestellt, um Einzelfälle zu untersuchen. In diesen Fällen betrugen die Höchststrafen Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten und Geldstrafe bis zu 300 Mark. Daneben konnten Feld- und Bordstandgerichte auch auf die Versetzung in die 2. Klasse des Soldatenstandes erkennen.

Zeit des Nationalsozialismus

Allgemeine Kriegsstrafverfahren

Die Kriegsstrafverfahrensordnung (KStVO) vom 17. August 1938[2], die erst 1939 im Reichsgesetzblatt veröffentlicht wurde, sah im § 13 den „Notgerichtsstand“ vor. Danach wurde für „eine der Krieggerichtsbarkeit unterworfene Person im Operationsgebiet“, die auf „frischer Tat (z. B. bei Fahnenflucht)“ gestellt worden war, der nächst erreichbare Gerichtsherr zuständig. Im Gefechtsgebiet konnte das Verfahren gegen Beschuldigte, die der Spionage, der Freischärlerei, einer Zuwiderhandlung eines Befehlshabers im besetzten ausländischen Gebiet, der Zersetzung der Wehrkraft oder der Wehrmittelbeschädigung verdächtigt waren, auch vom nächst erreichbaren Kommandeur eines Regiments wahrgenommen werden.

Am 1. November 1939 wurde die Kriegsstrafverfahrensordnung um einen § 13a ergänzt,[3] der den Begriff „Standgerichte“ in der Überschrift verwendet:

§ 13 Abs. 1: „Der nächsterreichbare Kommandeur eines Regiments oder ein mit derselben Disziplinarstrafgewalt versehener Truppenbefehlshaber kann die Befugnisse des Gerichtsherrn ausüben, wenn
1. die Aburteilung aus zwingenden militärischen Gründen keinen Aufschub duldet,
2. ein Gerichtsherr nicht auf der Stelle erreicht werden kann und
3. die Zeugen oder andere Beweismittel sofort zur Verfügung stehen.“

Der Absatz 2 des § 13 schränkte diese Bestimmung jedoch ein. Das Standgericht hatte keine Zuständigkeit bei Straftatbeständen, für die nach § 14 weiterhin allein das Reichskriegsgericht zuständig bleiben sollte. Dies betraf unter anderem Landesverrat, Hochverrat, Kriegsverrat, Wehrkraftzersetzung und nunmehr auch Spionage.

Beim Einmarsch der deutschen Truppen in Polen 1939 wurden Standgerichte tätig, die polnische Zivilisten als der Freischärlerei verdächtig zum Tode verurteilten und erschießen ließen.[4]

Sonder-Standgericht der Wehrmacht

Am 21. Juni 1943 unterzeichnete Adolf Hitler im Führerhauptquartier einen Befehl zur „Bildung eines zentralen Sonder-Standgerichts für die Wehrmacht.“[5] Es sollte im Schnellverfahren politische Straftaten aburteilen, die „sich gegen das Vertrauen in die politische und militärische Führung richten und bei Auslegung des gebotenen scharfen Maßstabes eine Todes- oder Zuchthausstrafe erwarten“ ließen. Zuständig war dieses Sonder-Standgericht für alle Wehrmachtsangehörigen, die sich im Heimatkriegsgebiet aufhielten. Gerichtsherr war Hitler; die laufenden Geschäfte des Gerichtsherren sollte der Präsident des Reichskriegsgerichts wahrnehmen.

Das Sonder-Standgericht wurde als besonderer Senat dem Reichskriegsgericht angegliedert. Dem Gericht war auf Anfordern ein Flugzeug zur Verfügung zu stellen.

Dieser Befehl wurde förmlich aufgehoben und ersetzt durch einen „Erlass des Führers über die Verfolgung politischer Straftaten“ v. 20. September 1944.[6] Bis dahin wurden „politischen Straftaten“ der Militärpersonen vom Reichskriegsgericht oder dem dort gebildeten Sonder-Standgericht abgeurteilt; nunmehr wurde diesen die Zuständigkeit entzogen. Für alle Angehörige von Wehrmacht, Waffen-SS und Polizei wurden – wie bei Zivilpersonen – der Volksgerichtshof und Sondergerichte zuständig für die Aburteilung politischer Straftaten.

Ausweitung auf Zivilisten

VO über Standgerichte (15. Februar 1945)

Am 15. Februar 1945 wurden eine vom Reichsminister der Justiz Otto Thierack unterzeichnete „Verordnung über die Errichtung von Standgerichten“ erlassen.[7] In allen „feindbedrohten Reichsverteidigungsbezirken“ sollten Standgerichte geschaffen werden. Zuständig waren die Standgerichte für alle Straftaten, „durch die die deutsche Kampfkraft und Kampfentschlossenheit gefährdet“ wurde. Damit waren nicht mehr allein Militärpersonen, sondern auch alle Zivilisten dem Urteil des Standgerichtes unterworfen.

Der örtlich zuständige Reichsverteidigungskommissar ernannte die drei Mitglieder des Gerichts und den zuständigen Staatsanwalt; als Vorsitzender musste ein Strafrichter ernannt werden, die beiden weiteren Mitglieder des Gerichts waren je ein politischer Leiter oder Gliederungsführer der NSDAP und ein Offizier der Wehrmacht, der Waffen-SS oder der Polizei. Auf das Verfahren fanden die ordentlichen Prozessvorschriften lediglich „sinngemäß“ Anwendung. Als Urteile kamen nur in Frage Todesstrafe, Freisprechung oder Überweisung an ein ordentliches Strafgericht. Das Urteil bedurfte der Bestätigung des zuständigen Reichsverteidigungskommissars, der auch über die Vollstreckung bestimmte, an seiner Stelle vertretungsweise der Ankläger beim Gericht.

Die Verordnung trat mit Verkündung durch den Rundfunk in Kraft. Wesentliche Bestimmungen widersprechen der Rechtsstaatlichkeit: So sind Zuständigkeitsordnung und anwendbare Strafnormen so ungenau umschrieben, dass sie jeglicher Willkür Raum geben konnten. Als Richter amtierte nur ein einziger Jurist neben einem politischen und einem militärischen oder polizeilichen Funktionär. Eine richterliche Strafzumessung konnte kaum mehr vorgenommen werden, da als Strafen nur Todesstrafe und Freisprechung als extreme Gegenpole zugelassen waren; die Überweisung an ein ordentliches Strafgericht, das auch Strafen zwischen diesen Extremen aussprechen konnte, bildete für diesen Mangel nur einen unzureichenden Ausgleich.

Fliegendes Standgericht

Durch „Führer-Erlass“ wurde am 9. März 1945 der Befehl erteilt, „sofort ein Fliegendes Standgericht“ zu errichten.[8] Das Gericht unterstand unmittelbar Adolf Hitler und erhielt Aufträge von ihm allein.

Das Fliegende Standgericht war „zuständig für strafbare Handlungen von Angehörigen aller Wehrmachtsteile und der Waffen-SS ohne Unterschied des Ranges“ und konnte auch schwebende Verfahren an sich ziehen. Der dienstälteste Offizier leitete als Gerichtsherr die Ermittlungen, führte den Vorsitz bei der Hauptverhandlung und traf die Vollstreckungsentscheidung. Das Gnadenrecht entfiel.

Der Begriff „Fliegendes Standgericht“ – teils eingeschränkt als „sogenanntes Fliegendes Standgericht“ – taucht darüber hinaus beiläufig in der Literatur auf,[9] wird jedoch nicht durch einen Hinweis auf einen weiteren förmlichen Erlass mit Gesetzeskraft belegt.[10]

Umgang mit Urteilen nach Kriegsende

Den Urteilen der Standgerichte, die ab Februar 1945 gebildet wurden, fielen zahlreiche Personen zum Opfer: Schätzungen gehen von mehreren Tausend Zivilpersonen aus.[11] Die Alliierten Militärgerichte urteilten nach Kriegsende in erster Linie NS-Verbrechen ab, die an ihren eigenen Staatsangehörigen oder an denen ihrer Verbündeten begangen worden waren. Erst später ermächtigten die Alliierten deutsche Gerichte, gemäß dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 gegen deutsche NS-Täter vorzugehen. Deutsche Gerichte taten sich schwer, auf dieser Grundlage zu urteilen, und griffen zunehmend auf das deutsche Strafrecht zurück. Die weitgreifende Auslegung des so genannten Richterprivilegs führte dazu, dass Beteiligte an extremen Standgerichtsurteilen nur in seltenen Fällen rechtskräftig verurteilt wurden.[12]

Bei der juristischen Aufhebung von NS-Unrechtsurteilen blieben die Opfer der Standgerichte und die Opfer der NS-Militärjustiz lange Zeit ausgeschlossen. Erst im Jahre 1998 wurden durch das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege auch die Urteile der Standgerichte pauschal aufgehoben. Im Gesetzentwurf war vorgesehen, auch die Urteile der NS-Militärjustiz aufzuheben, die gegen Deserteure ausgesprochen worden waren. Dies fand 1998 noch keine Mehrheit im Bundestag und wurde erst im Jahre 2002 beschlossen.[13]

Deutschland ab 1949

„Standgerichte“ im Sinne eines Ausnahmegerichts sind in der Bundesrepublik Deutschland nach Artikel  101 Abs.1 (1) Grundgesetz[14] verboten. In der DDR waren sie ab 1949 nach Artikel 134 Satz 2[15] und später nach Artikel 101 (2)[16] „unstatthaft“. Straftaten sind der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorzubringen. In Disziplinarsachen bei Soldaten hingegen sind die Truppendienstgerichte zuständig, die unter der Hierarchie der Verwaltungsgerichtsbarkeit stehen.

Österreich

1934 bis 1938

Während der autoritären Staatsform Österreichs zwischen 1934 und 1938 („Ständestaat“ oder „Zeit des Austrofaschismus“, amtliche Bezeichnung: Bundesstaat Österreich) wurde unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß in der Ministerratssitzung vom 10. November 1933 die Verhängung des Standrechts beschlossen; am nächsten Tag trat es in Kraft. Es galt für die Delikte des Mordes, der Brandlegung sowie für das Verbrechen der öffentlichen Gewalttätigkeit und richtete sich gegen Personen, die auf frischer Tat ergriffen wurden oder deren Schuld ohne Verzug feststellbar war.

Das standrechtliche Verfahren wurde von einem aus vier Richtern und einem Staatsanwalt bestehenden "fliegenden Senat", der am Oberlandesgericht Wien seinen Sitz hatte und falls notwendig zum zuständigen Landesgericht anreiste, geführt und dauerte längstens drei Tage. Bei einstimmiger Bejahung der Schuldfrage endete es mit einem Todesurteil, das nach spätestens drei Stunden am Würgegalgen zu vollstrecken war.

Gegen das Urteil des Standgerichtes war kein Rechtsmittel zulässig, einzig eine Begnadigung durch den Bundespräsidenten war möglich. Damit wurde mit Verhängung des Standrechts auch die Todesstrafe wieder in Österreich eingeführt, die im ordentlichen Verfahren schon 1920 abgeschafft worden war.

Einzelnachweise

  1. Matthias Blazek: Herzog Heinrichs Standgericht in der Heide – Eine lüneburgische Begebenheit aus dem Leben Herzog Heinrichs von der Haide. In: Braunschweiger Kalender 2010, Braunschweig: Joh. Heinr. Meyer Verlag 2010, S. 99 ff.
  2. Verordnung über das militärische Strafverfahren im Kriege und bei besonderem Einsatz (Kriegsstrafverfahrensordnung KStVO) vom 17. August 1938, RGBl. 1939 Teil I, S. 1457 ff.
  3. Vierte Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Verordnung über das militärische Strafverfahren im Kriege und bei besonderem Einsatz vom 1. November 1939, RGBl. 1939 Teil I, S. 2132 f.
  4. Jochen Böhler: Auftakt zum Vernichtungskrieg, Frankfurt/M. 2006, ISBN 3-596-16307-2, S. 117.
  5. Dok. 255 in: Martin Moll (Hrsg.): „Führer-Erlasse“ 1939–1945. Stuttgart 1997, ISBN 3-515-06873-2, S. 342 f.
  6. Dok. 364 in: Martin Moll (Hrsg.): „Führer-Erlasse“ 1939–1945. Stuttgart 1997, ISBN 3-515-06873-2, S. 458.
  7. Reichsgesetzblatt 1945, Teil I, S. 30
  8. Dok. 390 in: Martin Moll (Hrsg.): „Führer-Erlasse“ 1939–1945. Stuttgart 1997, ISBN 3-515-06873-2 S. 483.
  9. Jörg Friedrich: Freispruch für die Nazi-Justiz, überarb. und erg. Aufl., Berlin 1998, ISBN 3-548-26532-4, S. 439.
  10. Das Fliegende Standgericht des Befehlshabers im Wehrkreis III, das nicht mit dem „Fliegenden Standgericht des Führers“ verwechselt werden darf, wurde durch eine Anordnung des Befehlshabers im Wehrkreis III am 13. Februar 1945 aufgestellt. Quelle: Wehrmacht-Erschießungsstätte Ruhleben („Murellenschlucht“) Gutachten von Dr. Norbert Haase (1995)
  11. Wolfgang Benz u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. München 1997, S. 747.
  12. Jörg Friedrich: Freispruch für die Nazi-Justiz, überarb. und erg. Aufl., Berlin 1998, ISBN 3-548-26532-4, S. 73–138.
  13. bundestag.de
  14. Art. 101 Abs. 1 Satz 1 GG
  15. „Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (vom 7. Oktober 1949)“ bei documentarchiv.de, abgerufen am 14. August 2011
  16. „Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968“ bei documentarchiv.de, abgerufen am 14. August 2011

Literatur

  • Martin Moll (Hg.): „Führer-Erlasse“ 1939–1945 (Edition nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter von Hitler schriftlich erteilter Direktiven). Stuttgart 1997, ISBN 3-515-06873-2
  • Reichsgesetzblatt 1939 und 1945
  • Jörg Friedrich: Freispruch für die Nazi-Justiz. Ullstein Tb 26532, Berlin 1998, ISBN 3-548-26532-4 (S. 73–138: Falldarstellung und strafrechtliche Aufarbeitung)
  • Pierer 1857, Eintrag: Standgericht online einsehbar

Weblinks


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