Englandspiel

Englandspiel
Englandspiel-Mahnmal in Den Haag zur Erinnerung an die 54 gestorbenen niederländischen Agenten

Das Englandspiel war eine gemeinsame Operation der deutschen Abwehr und der Sicherheitspolizei im Zweiten Weltkrieg. Ein britisch-amerikanisches Sendernetzwerk der Special Operations Executive (SOE) und Military Intelligence Division (MID) in den Niederlanden wurde benutzt, um falsche Informationen ins Vereinigte Königreich zu übermitteln. Der Anteil der Abwehr hieß „Nordpolspiel“, „Operation Nordpol“ oder „Operation Pol Nord“.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Im August 1941 wurde Major Hermann Giskes zum Leiter der Gegenspionage (III F) in Holland zwecks Klärung von Agentenverbindungen mit London ernannt. Durch V-Männer, die er in die Untergrundbewegung eingeschleust hatte, erhielt er im November Kenntnis von einer Gruppe englischer Agenten in Den Haag. Huub M. G. Lauwers, ein niederländischer Journalist und Agent des SOE im Rang eines Leutnants, war am 7. November 1941 zusammen mit Thijs Taconis vom Vereinigten Königreich aus über den Niederlanden mit dem Fallschirm abgesprungen. Er schickte am 3. Januar 1942 seinen ersten verschlüsselten Bericht ins Vereinigte Königreich. Die Funküberwachung der Ordnungspolizei, die der Abwehr unterstellt war, ortete den Sender (Rufzeichen RLS) mit Gegenstelle in London und überwachte ihn. Sie erfasste Verkehrszeiten, Frequenzen und Wechsel, Funkdauer u. a. Giskes plante nach Aushebung ein Gegenspionage-Funkspiel, was Erfolg versprach, da es auch hier gelang, einen V-Mann einzuschleusen.

Beginn des Englandspiels

Beim Zugriff auf die „Gruppe RLS“ (britischer Deckname: “Ebenezer”) wurden vier Personen einschließlich Lauwers am 6. März 1942 von der deutschen Abwehr gleichzeitig festgenommen. Die erbeuteten Schlüssel ermöglichten die Entschlüsselung des aufgezeichneten Funkverkehrs, woraus sich für die Abwehr ein Bild über die Aufgaben, Pläne und Ziele der Gruppe ergab. Demnach sollten sichere Landeplätze zum Empfang von Waffen, Sabotagematerial und Agenten aus der Luft ausfindig gemacht, das Material gelagert sowie Mitarbeiter angeworben und ausgebildet werden. Für die Deutschen war dies eine einmalige Chance, weitere Geheimagenten in die Hände zu bekommen und den Briten irreführende Informationen zu geben.

Um die Kontinuität und Eigentümlichkeiten des Funkverkehrs zu sichern, war es für Giskes unbedingt nötig, den Funker einzubeziehen. Lauwers wurde im Gefängnis von Scheveningen festgehalten. Anfangs weigerte er sich, mit den Deutschen zusammenzuarbeiten, aber er ließ sich durch Giskes umstimmen, um das Leben von Thijs Taconis zu retten. Als weiteren Grund für Lauwers, dieses „Spiel“ mitzumachen, machte er geltend, dass er hoffte, den SOE über seine Festnahme informieren zu können.

Während seiner Ausbildung hatte Lauwers beim SOE gelernt, in seinen Morse-Telegrammen einen absichtlichen Fehler einzubauen – der so genannte security check – und diesen Fehler wegzulassen, sobald er festgenommen war. Bei der Abwehr wusste man vom vorher festgenommenen Radiotelegraphisten Willem van der Reyden schon von der Existenz von security checks, aber man kannte nicht den individuellen security check jedes einzelnen Agenten. Lauwers machte die Deutschen glauben, sein security check bestünde aus dem Senden von „stip“ statt von „stop“. In Wirklichkeit hatte ihm der SOE beigebracht, jeden 16. Buchstaben falsch zu senden. Im Auftrag von Giskes sendete er am 8. März einen Bericht nach London. Obwohl er in diesem Bericht seinen Pseudo-security-check benutzte („stip“ statt „stop“) und seinen echten security check wegließ, schien London anzunehmen, dass er noch frei war. Lauwers tat alles, was er konnte, um die Briten wissen zu lassen, dass er gefangengenommen war. So fing er am 28. März sein Telegramm mit den Buchstaben „GHT“ an und beendete es mit „CAU“, was zusammengesetzt „CAUGHT“ (gefangen) bildete. Mitte Mai schickte er sogar drei Mal in einem Bericht das Wort „CAUGHT“. Den Briten fiel dies offenbar nicht auf. Die Hinweise wurden vom SOE nicht beachtet.

Das „Spiel“

Im April 1942 wurde Giskes durch „fremden“ Funkverkehr mit der SOE-Leitstelle sowie einen zufällig gefundenen toten Agenten, der beim Absprung umgekommen war, gewahr, dass das SOE weitere Unternehmungen dieser Art unabhängig von Ebenezer durchführte.

Durch für sie günstige Umstände gelang es der Abwehr, diese Unternehmungen zu kontrollieren: Beim Absetzen dreier weiterer Agentenpaare waren zwei Funkgeräte unbrauchbar geworden. Die Agenten nahmen Kontakt zueinander auf und sandten über das intakte Gerät der Gruppe „Trumpet“ nach London, woraufhin sie von dort beauftragt wurden, RLS zu kontaktieren. So fiel der Abwehr auch deren Chiffriermaterial, Kurzsignaltabellen u. a. in die Hand.

Im Mai 1942 verfügte Giskes über drei selbstständige Funklinien nach London sowie über Informationen über deren Abwurfplätze, musste allerdings feststellen, dass es sich nur um die Voraustruppe handelte. Der angekündigte und abgesetzte Agent Jambroes sollte Kontakt zum niederländischen Ordedienst aufnehmen und mit dessen Hilfe 17 Sabotage- und Widerstandsgruppen von je 100 Mann aufbauen, wobei jede zwei leitende Agenten (Funker und Instrukteur) aus England bekäme (Aktion Marrow). Dieses Schema entsprach auch dem Aufbau von Teilen der französischen Résistance.

Giskes übermittelte nach London, dass der Ordedienst von deutschen Agenten durchsetzt sei und er bzw. RLS stattdessen „unabhängige Patrioten“ heranziehen würde. In der Folge sprangen bis November 1942 17 weitere Agenten ab, darunter fünf Funker mit eigenen Codes. Die Abwehr übermittelte nun zum SOE, dass inzwischen 1.500 Agenten in Ausbildung seien. SOE sandte auf Anfrage fünf Tonnen Ausrüstungsmaterial. Bis April 1943 sprangen 17 weitere angekündigte Agenten, darunter sieben Funker mit eigenen Linien, der Abwehr direkt in die Arme.

Inzwischen bestanden 14 Funklinien nach London, die die Berichte von 50 Agenten zu übermitteln hatten. Giskes sechs Funker schafften die Bewältigung dieser Aufträge nicht mehr, weshalb er hierfür bereits eigenes Personal einsetzte. Er schlug SOE Netherlands Section in London vor, aus Sicherheitsgründen einige Marrow-Sender stillzulegen.

Ende des Englandspiels

Am 31. August 1943 gelang es den zwei Agenten Johan Ubbink und Peter Dourlein, aus dem Gefängnis der Sicherheitspolizei in Haaren auszubrechen. Eine Großfahndung blieb erfolglos. Giske übermittelte noch, dass die beiden Agenten zum deutschen Geheimdienst übergegangen seien und vermutlich versuchen würden, im deutschen Auftrag England zu erreichen; Anfang Dezember 1943 wurden die Nachrichten allerdings unwichtiger. Es war den beiden Agenten gelungen, die Briten zu warnen, dass das niederländische Radiotelegraphisten-Netz in den Händen der Deutschen war.

Die Deutschen ließen sich allerdings nicht anmerken, dass ihre Kontrolle über das Radiotelegraphisten-Netz enttarnt war, bis Giskes im März 1944 Berlin vorschlug das Spiel zu beenden. Am 1. April 1944 wurde das Englandspiel mit einer unverschlüsselten Schlussnachricht an den SOE über alle aktiven zehn Kanäle, in der bedauert wurde, dass die Gegenseite „ihre Geschäfte nun ohne unsere Mitwirkung“ durchzuführen gedenke, beendet. Vier Kanäle der Gegenseite bestätigten den Empfang.

To [the SOE section chiefs] Messrs Blunt, Bingham and Successors Ltd. You are trying to make business in Netherlands without our assistance. We think this rather unfair in view of our long and successful co-operation as your sole agent. But never mind whenever you will come to pay a visit to the Continent you may be assured that you will be received with the same care and result as all those who you sent us before. So long.

Ergebnis

MID-SOE unterstützte die Organisation in Holland mit 200 Abwurfaktionen, von denen deutsche Nachtjäger planmäßig zwölf viermotorige Bomber danach abschossen. Der Abwehr fielen 15 t Sprengstoff und Sabotagematerial, 3.000 Maschinenpistolen, 5.000 Pistolen, 300 Maschinengewehre, 2.000 Handgranaten, 75 Sendegeräte und 500.000 Schuss Munition in die Hände. Geliefert wurden Brandsätze mit Zeitzündern, Schmierfett für Achsbrände an Zügen, magnetische Haftminen mit Unterwasser-Zeitzündern, pulverisierte Glassplitter für die Wäsche deutscher Soldaten, Totschläger, Pistolen mit Schalldämpfern u. a. Ferner zum Aufbau von Kurierlinien über Brüssel-Paris nach Spanien und in die Schweiz erhebliche Geldmittel in den Währungen dieser Länder, sowie Blankopässe und Ausweise aller Art mit dazugehörigen Stempeln und Informationen über Stützpunkte im Raum Brüssel und Paris.

Im Gegenzug forderte MID-SOE neben Sabotageaktionen die Sprengung des Funksenders Radio Kootwijk sowie die Ermordung von Vertretern der Nationaal-Socialistische Beweging und anderen kollaborierenden Niederländern, von denen sie eine Liste übermittelten.

Das Schicksal der gefangenen Agenten

Insgesamt nahmen die Deutschen 54 Agenten gefangen, die größtenteils in Haaren festgehalten wurden. Giskes hatte sich im Sommer 1942 vom Reichssicherheitshauptamt die Sicherheit von Leib und Leben dieser Agenten schriftlich garantieren lassen. Dennoch kamen 47 von ihnen zwischen dem 6. und dem 8. September 1944 ums Leben – fast alle wurden ohne Gerichtsverfahren im KZ Mauthausen von der SS erschossen.

Lauwers blieb dieses Schicksal erspart. Auf Veranlassung von Giskes blieb er zunächst in Haaren, als fast die gesamte Gruppe ins KZ Herzogenbusch und von da aus nach Mauthausen geschickt wurde. Wegen der Isolierung der Abwehr nach dem „Fall Hans Oster“ und ihrer späteren Umstrukturierung hatte Giskes jedoch kaum noch Einfluss auf das Schicksal der Gefangenen, die formell der Sicherheitspolizei unterstanden. Am 26. April 1945 wurde Lauwers bei Rathenow aus dem KZ Oranienburg durch sowjetische Streitkräfte befreit.

Nach dem Krieg

Nach dem Krieg wurde Lauwers von der niederländischen Königin Wilhelmina geehrt. Er hat sich lange gefragt, ob die Deutschen die Briten in die Irre geführt hatten oder umgekehrt.

Das 1953 in England erschienene Buch über die Operation von Giskes führte zu einer Parlamentsanfrage der oppositionellen Labour Party zur Klärung des Wahrheitsgehalts. Der Regierungssprecher teilte mit, dass der Sachverhalt “unhappily true” sei.

Literatur

  • Hermann J. Giskes: London ruft Nordpol. Das erfolgreiche Funkspiel der deutschen militärischen Abwehr („London Calling North Pole“). Bastei Lübbe, Bergisch-Gladbach 1982, ISBN 3-404-65046-8 (früherer Titel: Spione überspielen Spione).
  • Hans Schafranek: Unternehmen „Nordpol“. Das Englandspiel der deutschen militärischen Abwehr in den Jahren 1942–1944. In: Hans Schafranek, Johannes Tuchel (Hrsg): Krieg im Äther. Widerstand und Spionage im Zweiten Weltkrieg. Picus-Verlag, Wien 2004, ISBN 3-85452-470-6, S. 247–291.
  • Josef Schreieder: Das war das Englandspiel. Verlag Walter Stutz, München 1950.

Film

Weblinks


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