Eumeswil

Eumeswil
Ernst Jünger (auf einer Briefmarke von 1998)

Eumeswil ist ein 1977 erschienener utopischer Roman von Ernst Jünger. Er spielt in einer nicht genau bestimmten Zukunft in dem fiktiven Stadtstaat Eumeswil an der nordafrikanischen Küste. Der Ich-Erzähler Martin „Manuel“ Venator ist Historiker und stammt aus einer alten Gelehrtenfamilie. Er hält deren liberale Überzeugungen für überholt und tritt als „Nachtsteward“ in den Dienst des Condors, des Tyrannen von Eumeswil. Mit diesem begibt er sich schließlich auf eine Expedition in die Wälder, von der er nicht zurückkehrt

Eumeswil schließt an Jüngers Roman Heliopolis an und entwickelt Motive aus seinen Essays Der Waldgang und Über die Linie weiter. Martin Venator beschreibt sich als „Anarch“, der sich aus politischen Entwicklungen heraushält und sie nicht zu „seiner Sache“ macht. Dabei beruft er sich auf Max Stirners Werk Der Einzige und sein Eigentum.

Inhaltsverzeichnis

Die Welt von Eumeswil

In dem Roman führte die Entwicklung der Technik im 21. Jahrhundert zur Bildung eines Weltstaates. Der zerfiel dann in mehrere Diadochenreiche. Nun ist Eumeswil ein kleiner Staat, der abhängig ist von größeren Reichen, wie denen des Gelben und des Blauen Chans. In Eumeswil wechseln sich von Zeit zu Zeit republikanische Systeme, in denen die Regierung von Tribunen ausgeübt wird, mit tyrannischen Herrschaften ab.

Zur geografischen Lage heißt es: „Das Gebiet grenzt im Norden an die See; je nach Laune glaube ich manchmal am Mittelmeer, manchmal am Atlantik zu sein. Nach Süden verliert es sich in die Wüste;“ (S. 46). Der Name leite sich vom hellenistischen Feldherrn Eumenes her.

Im Roman gibt es zwei Parallelwelten. Zum einen in den Katakomben, in die zahlreiche Wissenschaftler ausgewandert sind, ein anscheinend weltweites und schon seit Generationen bestehendes unterirdisches System, zum anderen im „Wald“, der einerseits der tropische Regenwald ist, andererseits eine fantastische Region mit Fabelwesen, aus der von Reisenden wundersame Erlebnisse berichtet werden.

Inhalt

Die Lehrer

Martin Venator ist Dozent für Geschichte und arbeitet zugleich als „Nachtsteward“, eine Art Kellner, im Dienst des Condors, des Tyrannen von Eumeswil. Er hat dabei unter anderem einen „knapp anliegenden“ blaugestreiften Anzug ohne Unterwäsche und ein „lächerliche(s) Mützchen“ zu tragen (S. 16). Der Condor nennt ihn außerdem „Manuel“, weil das besser klinge. „Manuel“ fühlt sich wohl in seiner Haut (S. 19).

Einer seiner Lehrer ist der Historiker Vigo, dessen Assistent er ist. Vigo wird von Kollegen und Presse verspottet, weil er eine metaphernreiche Sprache verwendet und mythologische Vergleiche zur Interpretation der Geschichte heranzieht. Er hatte Martin Venator geraten, den Posten als Nachtsteward anzunehmen, weil er im Umgang mit den Machthabern Erkenntnisse für seine historischen Arbeiten gewinnen könne.

Weitere Lehrer sind der Philosoph Bruno, der unter anderem Zugang zu den Katakomben hat, und der Grammatiker Thofern, der auf einer präzisen Verwendung der Sprache besteht, wo man sie in Eumeswil weitgehend vernachlässigt.

„Manuels“ Vater und Bruder, liberale Historiker, die auf der Seite der Tribunen standen, sind entsetzt, dass er in den Dienst des verhassten Tyrannen geht. Er hält ihre Überzeugungen für überkommen und hohl, die Familienmitglieder haben sich nicht viel zu sagen. Martin Venator war ein unerwünschtes zweites Kind, sein Vater wollte ihn abtreiben lassen. Er spricht von seinem Vater als seinem „Erzeuger“.

Abgrenzung und Sicherheit

Bei einem Putsch hätte „Manuel“ mit zwei Kabinenstewards einen kleinen Posten namens Entenhütte zu bewachen. Er überlegt, dass diese Mitstreiter unzuverlässig sind und er sie entweder entlassen oder umbringen müsste. Bei verschiedenen Wanderungen entdeckt er einen verlassenen Bunker. Falls der Condor gestürzt würde, will er dort eine Zeit lang untertauchen.

Nachtbar-Notizen

Die Kasbah von Sousse

Der Condor residiert auf der Kasbah, einer Festung in der Nähe der Stadt. Gelegentlich begibt er sich abends noch in die Nachtbar, wo „Manuel“ bedient. An den meisten Abenden hat „Manuel“ frei. Wenn der Condor erscheint, dann meist mit seinem Sicherheitschef Domo und seinem Arzt Attila. Mitunter sind weitere aus dem Gefolge dabei, selten ein Staatsgast wie der Gelbe Chan.

Condor, Domo und Attila besprechen des Öfteren, wie auf Vorgänge in Eumeswil zu reagieren sei, sie „sehen in der Tyrannis den einzigen Rahmen, in dem die atomisierte Masse in Form gehalten und der Kampf aller gegen alle verzögert werden kann“ (S. 179).

Als ein Journalist einen satirischen Artikel über den Condor als Geier und Aasfresser schreibt, lassen sie mitten in der Nacht einen Vogelkundler auf die Kasbah kommen, der eine möglichst positive Beschreibung des Kondors als besonders großen und majestätischen Vogel zu liefern hat. Das Bild des Aasfressers wird dabei nicht abgewiesen sondern nur geschönt.

Ein Tag auf der Kasbah

„Manuels“ Tag beginnt damit, dass er sich ausführlich vor einem Spiegel begutachtet, dann wartet ihm ein Kabinensteward auf. Dies war zunächst der Norweger Dalin, nun ist es mal Kung, ein chinesischer Koch, mal Nebek, ein gewalttätiger Libanese.

Das Kapitel verfolgt nicht wirklich „Manuels“ weiteren Tagesablauf, sondern es schließen sich ausführliche Exkurse an die drei Kabinenstewards an. Dalin beging regelmäßig Diebstähle und Sabotage um der bloßen Zerstörung willen. Er starb, als er einen Koffer stahl, der zufällig eine Bombe enthielt. Zu Dalins Tod wird der Anwalt beschrieben, der die Bombe in seinem Koffer platziert hatte, daraufhin das Rechtssystem Eumeswils, in dem ein-, zweimal im Jahr zur Demonstration die Todesstrafe vollstreckt wird, daraufhin die Inseln, auf die die jeweiligen politischen Gegner verbannt werden, daraufhin, wie sich auf einer dieser Inseln, auf der die Verbannten unter sich bleiben, eine Gesellschaft im Kleinen entwickelt hat. Es wird von Kungs kulinarischen Vorlieben und von seiner Frau berichtet. Nebek schließlich vertraut „Manuel“ an, wie er als Kind einen Koranlehrer bewundert hatte, der andere Schüler prügelte. Die Beschreibung entspricht der Zaddecks in Die Zwille.

Max Stirner: eine Skizze von Friedrich Engels, nach 50 Jahren aus der Erinnerung gezeichnet. Laut Zeitgenossen sieht diese Zeichnung Stirner nicht ähnlich

Die einzige Beschäftigung, der „Manuel“ im Lauf dieses Tages nachgeht, sind historische Studien. Das Hauptinstrument dafür ist ein sogenanntes Luminar (s.u.), von dem auf Anfrage Informationen zu historischen Ereignissen ausgegeben oder diese vorgespielt werden. Er lässt sich in die „Weinstube von Jacob Hippel“, Friedrichstraße 94 im Berlin von 1848 führen. Sein Ziel ist Max Stirner: „Ich sehe ihn sitzen und rauchen, ein zartes Profil. Die Skizze, die Friedrich Engels in London entwarf, trifft nur die Mittelpartie: die gerade Nase und den feinen Mund. Sie wurde im Luminar durch Medien revidiert. Auch hier, doch weniger fliehend, die hohe Stirn.“ (S. 320)

Stirners Werk Der Einzige und sein Eigentum liefert ihm das Vorbild für die Selbstbeschreibung als „Anarch“. Daraus werden unter anderem zwei Axiome angeführt: „1. Das ist nicht Meine Sache. 2. Nichts geht über Mich.“ (S. 324) Jüngers Adaption der Stirnerschen Figur des „Eigners“ wurde allerdings von dem Stirner-Forscher Bernd A. Laska als inadäquat kritisiert (s. Sek.-Lit.).

Zu Bett gegangen stellt „Manuel“ noch Überlegungen zu den Katakomben und zum Wald an: „Auch in den Katakomben geschieht mehr, als daß Wissen gehortet und verwaltet wird. Man rüttelt nicht am Bewusstsein, sondern an der Art. Im Wald soll eine neue Isis gezeugt, durch die Unterirdischen Prometheus vom Kaukasus befreit werden.“ (S. 338) “Wenn ich es recht beurteile, sind zwei Schulen am Werke; die eine will das Großhirn aufstocken, während die in den Wäldern es in das Stammhirn versenken will.“ (S. 339)

Ein Tag in der Stadt

„Manuel“ besucht regelmäßig die Prostituierte Latifah. Weiter betreibt er Studien mit der Studentin Ingrid, deren Arbeit er als Dozent betreut und mit der er ebenfalls ein Verhältnis hat.

Vom Walde

An einem weiteren Abend berichtet Attila von einer Expedition in den südlichen Wald, von fantastischen neue entstandenen Pflanzen und Tieren und märchenhaften Traumerlebnissen. Die Strände jenseits dieses Waldes wiederum seien große Deponien, auf denen die Menschen vom Schutt vergangener Kulturen lebten, den sie nicht mehr bewältigen könnten.

Am Ende entschließt sich der Condor zu einer „Großen Jagd“, einer Expedition in den Wald. Man möchte Venator dabei haben: „wir betrachten Sie als unseren Xenophon“ (S. 373). Er geht mit.

Epilog

Der Epilog ist aus der Sicht des Bruders von Martin Venator geschrieben. Der ist seit mehreren Jahren mit dem Condor und dessen Gefolge verschollen. „Die Verbannten sind aus der Fremde zurückgekehrt und die Gefangenen von den Inseln; die Schergen der Tyrannis haben mit ihnen den Platz getauscht“ (S. 379). Martin Venators Aufzeichnungen wurden gefunden. Sein Bruder dachte daran, sie zu verbrennen, bewahrt sie aber aus „archivarischem Gewissen“ auf.

Anarch und Fellache

Martin Venator beschreibt sich als „Anarch“, der sich aus politischen Entwicklungen heraushält und sie nicht zu „seiner Sache“ macht. Mehrmals wird versucht, diesen Anarchen vom Anarchisten abzugrenzen. So sei der Anarchist sozial und müsse sich mit Gleichen zusammentun, er will bestehende Ordnungen beseitigen, der Anarch könne dagegen einsam leben und beachtet die jeweilige Ordnung ohne sie zu respektieren, er instrumentalisiert sie für sich (S. 41, 87, 147, 188, 310). Weiter wird der Anarch vom Waldgänger, Partisan und Verbrecher abgesetzt (S. 146f).

Martin Venator beschreibt die Situation in Eumeswil als „fellachoide Versumpfung auf alexandrinischer Grundlage“ (S. 32). Politische Ordnungen wechseln von Zeit zu Zeit, Überzeugungen werden nicht Ernst genommen, Korruption ist allgemein üblich. „Die großen Ideen sind durch Wiederholung abgeschliffen“ (S. 73). Überhaupt ist die Angst vor ständiger Wiederholung und ewiger Wiederkehr ein „wunder Punkt“ Venators (S. 88).

Zugleich zeigt er einige Bequemlichkeit und Selbstgefälligkeit. Gründe, Nachtsteward zu werden, sind unter anderem „viel freie Zeit zu eigener Arbeit, das Luminar, ein gutes Salär, der Phonophor mit dem Silberstreif, die Aura des Machthabers“ (S. 50). Er hat „von den Frauen“ gelernt, auszusehen wie andere es sich wünschen (S. 213). Wenn er keine Lust hat, Treppen hinabzusteigen, entleert er sein Nachtgeschirr aus dem Fenster (S. 52). So ist er eine zwiespältige Figur, selbst Teil der von ihm diagnostizierten „Versumpfung“.

Futuristische Elemente

Das Luminar ist ein nicht im Detail beschriebenes Gerät, an das „Anfragen“ zu historischen Ereignissen gerichtet werden können und von dem als Antwort teils passende Texte auf einem Bildschirm angezeigt werden, teils Szenen vorgespielt werden (S. 303). Das Material wird von in den Katakomben arbeitenden Wissenschaftlern bereitgestellt. „In den Katakomben wurde nicht nur eine Enzyklopädie von unfaßlichen Ausmaßen geschaffen, sie wurde auch aktiviert. Geschichte wird nicht nur beschrieben, sondern auch gespielt... Hier müssen sowohl Wissende als Künstler am Werk gewesen sein, selbst hellsehende Geister, die in den Kristall blickten.“ (S. 306). „Im Luminar erscheinen die Bilder räumlich; je nach Belieben kann ich mich im Konvent zu den Montagnards oder den Girondisten setzen...“ (S. 312). Die Zuverlässigkeit des Luminars wird von einigen Wissenschaftlern wie Venators Vater bezweifelt, scheint für ihn selbst aber kein Problem zu sein.

Der Phonophor, den Jünger erstmals 1949 in dem Roman Heliopolis beschrieb, ist eine Art mobiles Telefon. Er ist wie vieles bei Jünger zugleich ein Rangabzeichen. „Manuel“ trägt eines „mit dem schmalen Silberstreif, der einen zwar subalternen, doch unmittelbaren Dienst für den Tyrannen kennzeichnet“ (S. 17). Je höher der Rang des Trägers, umso größer ist die Reichweite, der „höchste“ ist der goldene Phonophor.

Die noch in Heliopolis übliche Verwendung „thermischer Metalle“ zur Energieversorgung wurde in Eumeswil aufgegeben, da sie sich als zu gefährlich herausstellte (S. 193).

Form

Der Roman bietet keinen chronologischen Handlungsablauf sondern orientiert sich an verschiedenen Themen wie Venators Lehrern oder seinen Pflichten auf der Kasbah. An diese sind kunstvolle Exkurse geknüpft. Einzelne Themen werden immer wieder aufgegriffen, wie der „Anarch“, der in vielen kurzen Bemerkungen beschrieben wird.

Der Ich-Erzähler kommentiert mehrmals selbst seine Vor- und Rückgriffe: „Wie ich sehe, habe ich einen Einschluß im Einschluß gebaut“ (S. 228), „Ich glaube, ich sagte bereits...“ (S. 262). Zum Versteck im Bunker heißt es: „Ich brachte auch Teile meines Manuskripts dorthin. So erklären sich übrigens manche Wiederholungen“ (S. 275).

Sprache

Jünger verwendet vielfältige Metaphern und setzt für viele Begriffe (tellurisch, titanisch, Waldgänger, Arbeiter, etc.) Bedeutungen voraus, die er in früheren Werken entwickelt hat, so dass sich dem Leser manche Passagen nicht ohne weiteres erschließen.

Eine Beschreibung der Redeweise Attilas könnte eine Selbstbeschreibung von Jüngers Stil sein: „Dabei fällt mir auf, daß für ihn die mythische Bedeutung die botanische überwiegt. Zeder, Zypresse, Thuja, Wacholder spielen ineinander ein,... Das Wort hat also weniger biologische als kosmogonische Bedeutung für ihn. Ich notiere diese Einzelheit, weil es mir anfänglich schwer fiel, in die Hintergründe seiner Sprache einzudringen, bis ich endlich merkte, daß die Dinge dort nicht schwieriger, sondern einfacher werden; er führt sie zur Synthesis zurück.“ (S. 371)

Rezeption

Horst Seferens sieht in Eumeswil einen Ratgeber für die extreme politische Rechte zur Tarnung des antidemokratischen Denkens und das Verhalten in einer politisch feindlichen Umgebung. (Horst Seferens: Leute von übermorgen und von vorgestern. Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945. Bodenheim 1998, S. 356ff)

Nach Armin Mohler errichtete Jünger in Eumeswil „das Gebäude seiner Weltweisheit“.

Häufig wird die Beschreibung Vigos und der Kritik an dessen Denk- und Sprachstil als Reaktion Jüngers auf die Kritik gegen ihn aufgefasst. (Steffen Martus: Ernst Jünger. Stuttgart, Weimar 2001, S. 212)

Literatur

  • Ernst Jünger: Eumeswil. Stuttgart: Klett-Cotta 1977 ISBN 3-12-904170-2
  • Ernst Jünger: Sämtliche Werke in 18 Bänden; Band 17: Eumeswil. Stuttgart: Klett-Cotta 1980
Sekundärliteratur
  • Dietrich Murswiek: Der Anarch und der Anarchist: Die Freiheit des Einzelnen in Ernst Jüngers Eumeswil. In: Deutsche Studien 17, 1979, S. 282 - 294.
  • Heike Tschenett: Ernst Jünger und die Antike: Herrschergestalten Römischer Verfallszeiten in den Romanen Heliopolis und Eumeswil. Thesis. Leopold-Franzens-Universität, Innsbruck, 1994.
  • Bernd A. Laska: "Katechon" und "Anarch". Carl Schmitts und Ernst Jüngers Reaktionen auf Max Stirner. Nürnberg: LSR-Verlag 1997 ISBN 3-922058-63-9 (Leseprobe)
  • Steffen Martus: Ernst Jünger. Stuttgart, Weimar 2001.
  • Joachim Schote: Ernst Jüngers Roman Eumeswil: Die Theorie der Posthistoire und das Scheitern des Anarchen. In: Augias 43, 1992, S. 28 - 48.
  • Harro Segeberg: Wir irren vorwärts. Zur Funktion des Utopischen im Werk Ernst Jüngers. In: Lutz Hagestedt (Hg): Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst. Berlin 2004, S. 403 – 414.

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