- Ghetto Wilna
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Das Ghetto Vilnius (Wilna) war ein nationalsozialistisches Sammellager (Konzentrationslager) in der Altstadt der litauischen Hauptstadt Vilnius. Das Ghetto bestand aus den zwei Teilen, dem Großen und dem Kleinen Ghetto, die voneinander durch die Niemiecka Straße (lit. heute Vokiečių gatvė) getrennt waren. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Vilnius betrug 1931 28 % bzw. 55.000 Personen. Die meisten von ihnen wurden ermordet, zum großen Teil im nahe Vilnius gelegenen Ponar, heute ein Vorort der Stadt.
Inhaltsverzeichnis
Errichtung des Ghettos
Die Truppen der deutschen Wehrmacht erreichten schon eine Woche nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs im Osten am 22. Juni 1941 Vilnius. Nur sehr wenige Juden konnten sich rechtzeitig ins Landesinnere flüchten. Die verbliebene jüdische Bevölkerung war zunächst den Übergriffen der lokalen Bevölkerung und der deutschen Einsatzgruppen ausgeliefert. Am 4. Juli richteten die deutschen Behörden einen so genannten Judenrat ein, der die Gewähr für die Umsetzung der Anordnungen der neuen Machthaber zu übernehmen hatte. Am 8. Juli trat die Verordnung über das Tragen eines Judensterns in Kraft und Juden war es (u.a.) verboten, sich nach 6 Uhr abends auf den Straßen aufzuhalten. Zugleich wurden den arbeitsfähigen Juden Bescheinigungen ausgestellt, die sie (und ihre Familien) vor der Erschießung schützen sollten. Personen ohne Bescheinigung wurden von litauischen Hilfstruppen (Ypatingis burys) aufgegriffen und ins Gefängnis Lukiškis gebracht. Von dort ging es fast ausnahmslos zur Erschießung nach Ponar[1].
Am 31. August wurden die Vorbereitungen zur Einrichtung des Ghettos getroffen: das für die jüdische Bevölkerung vorgesehene Wohngebiet in den traditionell jüdischen Straßenzügen der Vilniusser Altstadt wurde in der Aktion der „Großen Provokation“ von der bisherigen Bevölkerung „geräumt“. Für die Juden unter ihnen, die keine Arbeitsbescheinigung besaßen, bedeutete das am 2. September die Erschießung in Ponar (etwa 3.700 Menschen). Am 6. September wurde das neue Ghetto mit den Juden der Stadt belegt, dabei kamen etwa 29.000 in das Große Ghetto (Straßen: Rudnitzkegass, Spitalgass, Fleischergass, Straschungass) und etwa 11.000 in das Kleine Ghetto (Straßen: Judengass, Gaongass, Gläsergass)[2]. Das Kleine Ghetto war dabei vor allem für Alte und Arbeitsunfähige vorgesehen. Getrennt wurden beide Ghettos durch die Deitsche Straße (lit. heute Vokiečių gatvė). Die Ghettos wurden mit Stacheldraht abgeriegelt und hatten je ein Ghettotor sowie eine Verbindung über die Deitsche Straße.
In der Folgezeit gab es immer wieder so genannte „Aktionen“, bei denen die nicht arbeitsfähige Bevölkerung des Ghettos ausgesondert und zur Erschießung nach Ponar gebracht wurde. Bei derartigen Aktionen starben am 12. September 3.334 Menschen, am 17. September 1.271 Menschen, am 4. Oktober 1.983 Menschen und in der "Aktion der gelben Scheine" wurden am 24. Oktober 1941 Juden ohne Arbeitsgenehmigung ausgesondert und 3.781 Menschen vom 25.-27. Oktober in Ponar erschossen[3].
Leben im Ghetto
Nach diesen ersten Selektionen „normalisierte“ sich das Leben im Ghetto. Großer Hunger (es war unter Todesstrafe verboten, Lebensmittel ins Ghetto zu bringen), Kälte und erbärmliche hygienische Bedingungen machten das Leben aber weiterhin zur Qual. Den widrigen Umständen trotzend wurden eine Krankenstation, eine Schule, eine Bibliothek und später sogar ein Theater im Ghetto eingerichtet.
Ab August 1943 begannen die deutschen Befehlshaber, das Ghetto zu räumen. In mehreren Transporten wurden die verbliebenen Ghettobewohner nach Lettland und Estland deportiert. Am 23. September 1943 wurde das Ghetto Wilna gänzlich geräumt[4].
Widerstand im Ghetto
Am 21. Januar 1942 schlossen sich die zionistischen Widerstandsgruppen in Wilna zur Fareinikte Partisaner Organisatzije (FPO) zusammen, um bewaffneten Widerstand gegen die Deutschen zu leisten. Da sie nicht auf die Unterstützung der Mehrzahl der Ghettobewohner zählen konnte, zog sich die FPO in die Wälder der Umgebung zurück und schloß sich den sowjetischen Partisanen an.
Täter im Ghetto Wilna
- Jacob Gens (1905 - 1943), Leiter der jüdischen Ghettopolizei, zum Ende des Ghettos kurzzeitig Vorsitzender des Judenrats
- August Hering, Januar - Juni 1942 Leiter des litauischen Freiwilligen-Trupps "Ypatingis burys" ("Sonderkommando")
- Hans Christian Hingst, Sturmbannführer der SA, Gebietskommissar in Wilna (zivile Verwaltung)
- Bruno Kittel, ab Juni 1943 Leiter des Referats Judenfragen der Gestapo Wilna, leitete die Liquidierung (=Auflösung) der Ghettos in Vilnius, Kaunas und Riga
- Franz Murer, ab Juli 1941 Referent des Gebietskommissars für Judenfragen, de facto Leiter des Ghetto Wilna
- Rolf Neugebauer, SS-Obersturmführer, Chef der Gestapo Wilna, Februar 1942 - Oktober 1943 Leiter des Sicherheitsdienstes (SD) und der Sicherheitspolizei (Sipo) in Wilna
- Horst Schweinberger, SS-Oberscharführer, Juli 1941 - Januar 1942 Leiter des litauischen Freiwilligen-Trupps "Ypatingis burys" ("Sonderkommando")
- Martin Weiss, SS-Hauptscharführer, Chef der Gefängnisse in Wilna und ab Juni 1942 des Sonderkommandos Ponar (Erschießungsstätte bei Vilnius)
Rezeption in der Kunst
Der israelische Dramatiker Joshua Sobol beschäftigt sich in seinem Theaterstück Ghetto, das 1984 u. a in Berlin und Hamburg von Peter Zadek in deutscher Sprache inszeniert wurde, mit dem Schicksal der Menschen im Ghetto Vilnius. Als Quelle dienten Sobol im wesentlichen die Aufzeichnungen des jüdischen Bibliothekars Hermann Kruk 1941–43 (s. u.). Das Stück schildert u. a. die Auseinandersetzung von Kruk, der dem „linken“ sozialistischen Allgemeinen jüdischen Arbeiterbund angehörte, der im Untergrund gegen die deutsche Besatzung kämpfte, eine Zukunft der Juden in Europa forderte, und das zionistische Projekt ablehnte, mit dem „rechten“, zionistischen, der Gruppe um Wladimir Jabotinsky nahestehenden Älteste des Judenrats Jacob Gens, der mit den deutschen Machthabern kollaborierte, für SS und Wehrmacht Wirtschaftsbetriebe im Ghetto aufbaute, und sogar selber für die Deutschen Selektionen durchführte, um damit die Voraussetzung für eine geschlossene Emigration nach Palästina zu schaffen. Da zum Schluss alle Insassen des Ghettos von der SS (im Stück durch den Offizier Kittel verkörpert) getötet werden, scheitern sowohl Kruk als auch Gens.
Seit Beginn der 90er Jahre engagiert sich Roswitha Dasch für die Überlebenden des Wilnaer Ghettos und ist Organisatorin für die Wanderausstellung Sag nie, du gehst den letzten Weg, die das Schicksal der litauischen Juden beleuchtet. Im Wuppertaler Schauspielhaus fand im Mai 1994 in diesem Zusammenhang die Premiere Ess is gewen a sumertag – die Geschichte des Wilnaer Ghettos im Spiegel seiner Lieder statt. In Wuppertal wurde 1997 der Verein „MIZWA – Zeit zu handeln e.v.“ gegründet, der durch Spenden ehemalige Ghetto- und KZ-Häftlinge in Litauen unterstützt.
Einzelnachweise
- ↑ Wassili Grossman/Ilja Ehrenburg: Das Schwarzbuch - Der Genozid an den sowjetischen Juden, S. 460-462
- ↑ Wassili Grossman/Ilja Ehrenburg: Das Schwarzbuch - Der Genozid an den sowjetischen Juden, S. 463
- ↑ Wassili Grossman/Ilja Ehrenburg: Das Schwarzbuch - Der Genozid an den sowjetischen Juden, S. 462f.
- ↑ Wassili Grossman/Ilja Ehrenburg: Das Schwarzbuch - Der Genozid an den sowjetischen Juden, S. 532-535
Literatur
- Roswitha Dasch, Sabine Friedrichs: Sag nie, du gehst den letzten Weg, Dokumentarfilm über das Schicksal der litauischen Juden.
- Wassili Grossman / Ilja Ehrenburg: Das Schwarzbuch - Der Genozid an den sowjetischen Juden. Rowohlt-Verlag, 1149 S. 1. Aufl., 1994, Hamburg. ISBN 3-498-01655-5 (Herausgeber der dt. Ausgabe: Arno Lustiger; Erstveröffentlichung: 1980 in Jerusalem (auf Russisch))
- Hermann Kruk: Diary of the Vilnius Ghetto; in: YIVO Annual of Jewish Social Science 13 (1965); New York 1965.
- Schoschana Rabinovici: Dank meiner Mutter, die vor ihrer Verschleppung in das KZ Kaiserwald mit ihrer Familie in Vilnius gelebt hat
- Mascha Rolnikaitė: Ich muss erzählen. Mein Tagebuch 1941-1945. Kindler Verlag, 2002 (2004 als Rowohlt-Taschenbuch), 287 Seiten, ISBN 3-499-23555-2. (Originaltitel: Ja dolzna rasskazat'. Erste, gekürzte dt. Ausgabe: 1967, Berlin, Union-Verl. VOB, 271 S.)
- Joshua Sobol: Ghetto. Schauspiel in drei Akten; mit Dokumenten und Beiträgen herausgegeben von Harro Schweitzer; Berlin: Quadriga, 1984; ISBN 3-88679-120-3
- Programmheft zur Zadek-Inszenierung von Ghetto; Freie Volksbühne Berlin / Deutsches Schauspielhaus Hamburg
- Bundeszentrale für politische Bildung: Materialheft zum Film Ghetto
Weblinks
- Chronicles of the Vilna Ghetto: wartime photographs & documents – vilnaghetto.com
- deathcamps.org: Vilnius (Vilna) Ghetto
- Spurensuche jüdischer Geschichte – das Ghetto in Wilna
54.67972222222225.286388888889Koordinaten: 54° 40′ 47″ N, 25° 17′ 11″ O
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