Hikikomori

Hikikomori

Als Hikikomori (jap. ひきこもり, 引き籠もり oder 引き篭り, „sich einschließen; gesellschaftlicher Rückzug“) werden in Japan Menschen bezeichnet, die sich freiwillig in ihrer Wohnung oder ihrem Zimmer einschließen und den Kontakt zur Gesellschaft auf ein Minimum reduzieren. Der Begriff bezieht sich sowohl auf das soziologische Phänomen als auch auf die Betroffenen selbst, bei denen die Merkmale sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können.

Obwohl akuter gesellschaftlicher Rückzug in Japan Jungen und Mädchen gleichermaßen zu betreffen scheint, sind es überwiegend männliche Personen, die mit ihrem Verhalten Besorgnis oder Aufmerksamkeit erregen. In Familien mit mehreren Kindern ist es am häufigsten der älteste Sohn.

Inhaltsverzeichnis

Definition und Größenordnung

Das japanische Gesundheitsministerium definiert als Hikikomori eine Person, die sich weigert, das Haus ihrer Eltern zu verlassen und sich für mindestens sechs Monate aus der Familie und der Gesellschaft zurückzieht. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen Hikikomori für Jahre oder sogar Jahrzehnte in dieser selbst gewählten Isolation bleiben.

Beschrieben wurde das Phänomen erstmals durch den japanischen Psychologen Tamaki Saitō, der auch den Begriff prägte[1], behauptete, es gäbe in Japan (ca. 127 Millionen Einwohner) mehr als eine Million Hikikomori. Das Gesundheitsministerium gibt in einer vorsichtigeren Schätzung nur 50.000 Hikikomori an, ein Drittel davon älter als 30 Jahre.

Ursachen

Der durchschnittliche Hikikomori beginnt als Schulschwänzer (登校拒否, tōkōkyohi). Junge japanische Erwachsene fühlen sich von den hohen Erwartungen, die die Gesellschaft an sie hat, häufig überfordert. Versagensangst und das Fehlen eines ausgeprägten Honne und Tatemae (grob übersetzt die Fähigkeit, zwischen „öffentlichem Gesicht“ und „wahrem Ich“ zu unterscheiden und mit den täglichen Paradoxien des Erwachsenenlebens umzugehen) drängen sie in die Isolation. Die Gemeinsamkeit der Hikikomori, am Übergang von Jugend und Kindheit in die Welt der Erwachsenen zu scheitern, wird von vielen Psychologen mit dem Fehlen von Transformations- und Initiationsritualen im modernen, kapitalistischen Japan begründet.

Einflussfaktoren

Die Entwicklung zum Hikikomori wird im Wesentlichen durch drei Faktoren beeinflusst:

  1. Finanzielle Situation: Die wohlhabende Mittelschicht in Japan hat die finanziellen Möglichkeiten, auch ein erwachsenes Kind noch angemessen zu versorgen. Bei finanziell schlechter gestellten Familien treten die Kinder dagegen früher in das Arbeitsleben ein.
  2. Familiäre Verhältnisse: Eltern erkennen oft die beginnende Isolation ihres Kindes nicht oder reagieren nicht angemessen darauf. Auch ein Verwöhnen des Kindes oder gar eine beiderseitige Abhängigkeit, wie sie vor allem in der Mutter-Sohn-Beziehung auftritt (in Japan als Amae bezeichnet), beeinträchtigt eine Selbstständigkeit der Jugendlichen.
  3. Situation auf dem Arbeitsmarkt: Die langfristige wirtschaftliche Rezession hat den japanischen Arbeitsmarkt grundlegend verändert. Konnten sich frühere Arbeiter- und Angestelltengenerationen noch auf eine lebenslange Anstellung in ihrer Firma verlassen, so sind heutige Berufseinsteiger bei ihrer Jobsuche oft erfolglos. Die Auflösung und Neuausrichtung des japanischen Arbeitsmarktes zwingt zu einer Umorientierung der traditionellen Lebensziele.

Druck in der Schule

Das moderne japanische Schulsystem verlangt von seinen Schülern viel Arbeit und ist sehr stark auf Auswendiglernen ausgerichtet. Schon in den 1960er-Jahren begann man, in jeder Stufe des Schulsystems (sogar in der Vorschule) Aufnahmeprüfungen einzuführen. Für die Aufnahmeprüfung einer Universität nehmen sich manche Prüflinge zur Vorbereitung sogar ein ganzes Jahr Zeit. Erst 1996 wurden vom Bildungsministerium Gegenmaßnahmen eingeleitet, um den Schülern mehr kreativen Freiraum zu geben und die Schulwoche von sechs auf fünf Tage und den Tagesplan um zwei Fächer zu kürzen. Die neuen Lehrpläne orientieren sich mehr an westlichen Schulsystemen. Diese Änderungen kamen jedoch sehr spät: Ehrgeizige Eltern schicken ihre Kinder seither vermehrt auf Privatschulen, um dem „laxen“ System der öffentlichen Schulen zu entkommen.

Auch von Mitschülern wird Druck auf einzelne Schüler ausgeübt. Gründe für dieses Ijime (besondere Form des Mobbings in Japan) können Aussehen, schulische und sportliche Leistungen sowie Ethnie, soziale Herkunft oder sogar längere Aufenthalte im Ausland sein.

Symptome

Die Symptome des Hikikomori beginnen schleichend und führen bei Vollausprägung zum vollständigen Rückzug. Dabei sind die wichtigsten Schritte Verlust der Lebensfreude, Verlust von Freunden, zunehmende Unsicherheit, Scheu und abnehmende Kommunikationsbereitschaft.

Hikikomori ziehen sich meist in einen einzigen Raum zurück und kapseln sich von der Umwelt ab. Sie verbringen den Tag mit Schlafen und sind vermehrt nachtaktiv. Einige schaffen es, ihr Zimmer nachtsüber zu verlassen, andere verbringen auch die ganze Nacht vor dem Computer oder Fernseher.

Aggressionspotenzial

Der steigende elterliche und gesellschaftliche Druck und die Unfähigkeit, sich aus der Situation selbst zu befreien, können bei Hikikomori zu starker Frustration oder auch zu unkontrollierter Wut führen. Diese äußert sich meist in Form von Psychoterror, beispielsweise durch nächtlichen Lärm. Seltene Fälle körperlicher Gewalt beschränken sich zumeist auf die eigene Familie.

Ein 17-Jähriger, der am 3. Mai 2000 in der Präfektur Saga einen Bus entführte, einen Passagier mit einem Messer tötete und vier weitere verletzte, war der erste als „Hikikomori“ bezeichnete Fall und löste in Japan ein großes Medienecho zu diesem Phänomen aus. Untypisch für einen Hikikomori war allerdings, dass er zuvor zwei Monate lang in der geschlossenen Psychiatrie in Behandlung gewesen war. In psychiatrischen Kreisen wird spekuliert, dass der Jugendliche sich durch die Einweisung von seiner Familie verraten fühlte und der gewalttätige Akt stellvertretend für die Rache an seiner Mutter stand.

Seither berichten die Medien im Zusammenhang mit Hikikomori jedoch vor allem über Gewalttaten. Dadurch werden Hikikomori generell als gewaltbereit stigmatisiert, was den gesellschaftlichen Druck zusätzlich vergrößert. Experten für das Phänomen argumentieren allerdings, dass der typische Hikikomori viel zu schüchtern und zurückgezogen sei, um irgendeine Form von Aggressivität über die Grenzen des Elternhauses hinauszutragen, insbesondere körperliche Gewalt.

Verhalten der Eltern

Einen Hikikomori in der Familie zu haben ist in Japan mit einem starken Stigma behaftet, und die Angst vor einer öffentlichen Demütigung kann übersteigerte Ausmaße annehmen. Die meisten Eltern warten einfach ab, ob sich ihr Kind wieder von alleine der Gesellschaft annähert. Falls sie überhaupt aus eigenem Antrieb Schritte einleiten, können zuvor lange Zeitspannen vergehen. Auch die traditionell enge Mutter-Kind-Beziehung trägt zu einer Verschleppung der Behandlung bei.

Behandlung

Es gibt unterschiedliche Ansichten zur Behandlung von Hikikomori: Japanisch orientierte Methoden beinhalten eher zu warten, während westlich orientierte Methoden Hikikomori aktiv in die Gesellschaft zurückbringen wollen – teils mit ungewöhnlichen Verfahren, die eine mehrjährige Trennung von Kindern und Eltern bedeuten können.

Immer mehr therapeutische Einrichtungen in Japan spezialisieren sich auf Hikikomori. Es gibt zwei Hauptrichtungen:

  • Der psychiatrische Weg sieht meist einen längeren stationären Aufenthalt vor, um die Verhaltens- oder mentale Störung zu behandeln. Dabei werden auch Medikamente eingesetzt.
  • Der soziologische Weg besteht aus einer Loslösung aus dem gewohnten Umfeld und der Integration in Wohngemeinschaften mit anderen Hikikomori, bei denen die länger Anwesenden den Neulingen helfen sollen, sich wieder der Gesellschaft anzunähern und eigenständig zu leben.

Internationale Vergleiche

Eine ähnliche Form des gesellschaftlichen Rückzugs stellen die so genannten NEETs dar (Not currently engaged in Employment, Education or Training). Mit dieser in Großbritannien entstandenen, mittlerweile aber auch in ganz Asien verwendeten Abkürzung werden Personen bezeichnet, die weder arbeiten, studieren noch sich weiterbilden wollen und sich von ihren Eltern aushalten lassen.

Im deutschsprachigen Raum ist die soziale Phobie bekannt, deren Symptomatik sich teilweise mit Hikikomori-Merkmalen überschneidet.

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Maggie Jones: Shutting Themselves In New York Times, 15. Januar 2006

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