- Psychiatrie
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Die Psychiatrie ist die medizinische Fachdisziplin, die sich mit der Prävention, Diagnostik und Therapie psychischer Erkrankungen beschäftigt.
Begriff
Der Begriff „Psychiatrie“ wurde 1808 vom Arzt Johann Christian Reil in Halle geprägt (ursprünglich als „Psychiaterie“, wurde später zu „Psychiatrie“). Etymologisch aus griechisch „Psyche“ – „Seele“ und „iatrós“ – „Arzt“ zusammengesetzt, bedeutet „Psychiatrie“ wörtlich übersetzt etwa „Seelenheilkunde.“
Historische Entwicklung
Die Grundzüge der modernen Psychiatrie lassen sich auf wenige Konzepte zurückführen. Wilhelm Griesinger hatte Mitte des 19. Jahrhunderts mit der These, seelische Erkrankungen seien Erkrankungen des Gehirns, die wichtigste Grundlage der modernen Psychiatrie formuliert. Emil Kraepelin hat erstmals in der Geschichte der Psychiatrie ein brauchbares nosologisches Bezugssystem zur Verfügung gestellt. Karl Jaspers Arbeiten zur Allgemeinen Psychopathologie aus den 1920er Jahren sind grundlegend für die Methodik modernen psychopathologischen Denkens. Die Grundlage des Krankheitsbegriffes in der modernen Psychiatrie bis in die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts ist das sogenannte triadische System nach Kurt Schneider, das 1931 veröffentlicht wurde. Mit der Einführung des ICD-10 im Jahre 1992, einem weltweit standardisierten Klassifizierungssystem, wandelt sich das Krankheitsverständnis der Psychiatrie erneut.
In Deutschland wurden im Rahmen des nationalsozialistischen Euthanasie-Programmes bis 1945 mehr als 100.000 psychisch kranke Menschen getötet. Dies war nur mit Billigung zahlreicher Ärzte und Kliniken möglich. Diese Verbrechen wurden in den ersten Jahren der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland nicht aufgearbeitet.
Reform der Psychiatrie
Die Einführung der Neuroleptika und die Durchführung von Katamnesestudien in den 1950er Jahren, in Deutschland vor allem durch den Bonner Psychiater Gerd Huber, hat den lange bestehenden therapeutischen Nihilismus der Psychiater vor allem im Falle der Schizophrenie zu beenden geholfen. Mit der Psychiatriereform in den 1960er und 1970er Jahren und der Entwicklung der modernen Sozialpsychiatrie kommt es in den meisten westlichen Ländern zu einer weitgehenden Emanzipation der seelisch kranken Menschen von Bevormundungen durch Dritte.
Die moderne Psychiatrie gründet sich demzufolge im Wesentlichen auf die Erkenntnisse der biologischen Psychiatrie und die Reformbemühungen der Sozialpsychiatrie. Psychotherapeutische Behandlungsmethoden stehen in der Psychiatrie heute nicht mehr so im Mittelpunkt wie noch vor einigen Jahrzehnten. Trotzdem lernen Psychiater psychotherapeutische Behandlungsverfahren, da die meisten psychiatrischen Patienten von stabilen therapeutischen Beziehungen profitieren.
Kritik an der Psychiatrie
Siehe auch: AntipsychiatrieAutoren wie die Psychiater Thomas Szasz und Ronald D. Laing oder der Soziologe Michel Foucault behaupten, dass Begriffe wie Verrücktheit (Psychose) und psychische Normalität keine objektiven Diagnosen, sondern subjektive Urteile mit gesellschaftlichen und politischen Wirkungen seien.[1] Laut Foucault werde die Abgrenzung zwischen Normalität und Verrückheit für gesellschaftliche Kontrolle benutzt. Die klinische Psychiatrie sei damit nicht mehr nur medizinische Einrichtung, sondern diene als normstiftende Machtinstanz.[2]
Die Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte (KVPM) ist eine Schwesterorganisation der »Organisation Citizens Commission on Human Rights« (CCHR), die 1969 in Amerika von Thomas Szasz und Mitgliedern der Scientology-Kirche gegründet wurde. Auch die Gründung der KVPM in Deutschland geht auf Mitglieder der Scientology-Kirche zurück. Die KVPM übt im Sinne Scientologys Kritik an der Fachrichtung Psychiatrie und schürt bestehende Vorurteile und Ängste. Viele Argumente sind sehr übertrieben und stark veraltet.[3]
Behandlungsverfahren
Die modernen psychiatrischen Behandlungsansätze sind durch "multimodale" Konzepte gekennzeichnet. Demnach sollen alle Lebensbereiche des Patienten in einer Behandlung berücksichtigt werden. Die wichtigsten Leitsätze moderner psychiatrischer Behandlung lassen sich in folgenden Grundsätzen zusammenfassen:
- Freiheit ist wichtiger als Gesundheit. Das heißt in erster Linie, dass Patienten das Recht haben, Behandlungen abzulehnen.
- Gleichstellung der seelisch und körperlich Kranken. Dieser Grundsatz ist in den Versorgungsstrukturen wichtig, da durch ihn ausreichende Mittel für die Versorgung begründet werden.
- Gemeindenahe Versorgung: Patienten haben das Recht, in Kliniken und Einrichtungen behandelt zu werden, die in der Nähe ihres Wohnortes liegen; dies hat in Deutschland zwingend zur Einrichtung von kleinen psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern und zur Auflösung vieler Landeskrankenhäuser geführt.
- Das Ziel einer psychiatrischen Behandlung ist nicht nur Heilung, sondern auch Verbesserung der Lebensqualität, d. h. das Leben mit der Krankheit.
- Therapeuten aller Berufsgruppen in der Psychiatrie unterstützen die Anti-Stigma-Initiativen von Betroffenen, indem die Integration von Patienten mit seelischen Erkrankungen in die Gesellschaft auf vielfältige Weise gefördert wird (ambulante Behandlung, betreutes Wohnen, beschütztes Arbeiten).
Fachgebietsgrenzen
Die Abgrenzung der Psychiatrie von anderen medizinischen Disziplinen ist wie z. B. bei der Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie (K&L) teilweise fließend. Psychotherapeuten stehen lediglich psychotherapeutische Methoden zur Verfügung. In der psychosomatischen Medizin werden vorwiegend Patienten behandelt, bei denen seelische Störungen schwerwiegende Auswirkungen auf das körperliche Befinden haben (z. B. Essstörungen). Fließend sind die Grenzen der Domänen von Neurologie und Psychiatrie beispielsweise bei hirnorganischen Psychosyndromen und Demenzen. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden Patienten unter 21 Jahren mit seelischen Erkrankungen behandelt. Aus pragmatischen Gründen werden allerdings alle Patienten mit seelischen Störungen von Psychiatern und in psychiatrischen Kliniken behandelt, wenn die Beschwerden sehr schwerwiegend sind und/oder plötzlich auftreten, da es für Behandlungen bei Psychotherapeuten oder in psychosomatischen Kliniken teilweise sehr lange Wartezeiten gibt.
Die Psychologie ist eine eigenständige empirische Wissenschaft, während die Psychiatrie ein Teilgebiet der Medizin ist. Die Psychologie beschreibt und erklärt das Erleben und Verhalten des Menschen, seine Entwicklung im Laufe des Lebens und alle dafür maßgeblichen inneren und äußeren Ursachen und Bedingungen. Diplom-Psychologen arbeiten als Angestellte in der Psychiatrie und übernehmen dort Aufgaben u. a. im Bereich der Diagnostik und Therapie psychischer Störungen. Psychologische Psychotherapeuten mit Approbation sind eigenständig in der Therapie psychischer Störungen tätig.
Fachbereiche der Psychiatrie
Die Disziplin Psychiatrie entspringt dem ehemaligen Fachbereich Nervenheilkunde, der auch das Gebiet der heutigen Neurologie umfasst. Im Zuge des medizinischen Fortschrittes haben sich innerhalb der Psychiatrie viele Spezialfächer entwickelt, die eine eigene Erwähnung verdienen. Dabei ist im Besonderen festzustellen, dass das Wesen der Psychiatrie vor allem in der Erkenntnis des Zusammenwirkens psychosozialer und biologischer Faktoren auf den psychopathologischen Befund des Patienten liegt. So ist es nicht verwunderlich, dass neben den psychologischen Disziplinen innerhalb der Psychiatrie auch viele Teilbereiche biologisch-naturwissenschaftlicher Art zu finden sind:
Die Psychopathologie beschäftigt sich mit den Formen eines (krankhaft) veränderten Gefühls- bzw. Seelenlebens. Hierbei geht es um das Studium der Ursachen und Prozesse in der Entwicklung psychischer Erkrankungen und die Beschreibung ihrer Symptome bzw. Erscheinungsweisen.
Die biologische Psychiatrie ist ein Sammelbegriff für psychiatrische Forschungsansätze, die auf biologischen Methoden beruhen. Dazu zählen neuroanatomische, neuropathologische, neurophysiologische, biochemische und genetische Ansätze.
Die Psychopharmakologie und Psychopharmakotherapie beschäftigen sich mit der Beeinflussung des Seelen- bzw. Gemütszustandes durch Medikamente. Diese Psychopharmaka machen heute den weitaus größten Teil der somatischen Behandlungsmethoden in der Psychiatrie aus.
Die Allgemeinpsychiatrie ist der klinische Teil des Faches, welcher sich mit den psychischen Erkrankungen und Störungen des Erwachsenenalters beschäftigt. Die Akutpsychiatrie behandelt psychiatrische Notfälle.
Die Militärpsychiatrie befasst sich mit geistigen Störungen innerhalb militärischer Konstellationen mit dem Ziel, die Gesundheit von so vielen Militärangehörigen wie möglich sicherzustellen sowie auch mit der Behandlung der infolge von psychischen Erkrankungen als untauglich angesehenen Armeeangehörigen.
In der Suchtmedizin werden Patienten mit stoffgebundenem (Alkohol, Nikotin, Cannabis, Heroin etc.) oder stoffungebundenem (Spielsucht etc.) Missbrauchs- oder Abhängigkeitsverhalten behandelt.
Gerontopsychiatrie wird allgemein als Psychiatrie für Menschen im höheren Lebensalter verstanden, wobei das Lebensalter (60 Jahre) nur eine ungefähre Richtmarke ist. Dabei geht es zum einen um Menschen, die bereits in jüngeren Jahren psychisch erkrankt sind und deren Behandlung unter Berücksichtigung altersbedingter Besonderheiten fortgesetzt werden muss, und zum anderen um Menschen im höheren Lebensalter, deren psychische Erkrankung aus dem Alterungsprozess resultiert.
Die Forensische Psychiatrie befasst sich mit der Behandlung und Begutachtung von psychisch kranken und suchtkranken Rechtsbrechern (siehe auch Maßregelvollzug).
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie genannte Unterdisziplin ist ein eigenständiges medizinisches Fachgebiet geworden. Sie befasst sich mit den psychischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen bis maximal zum 21. Lebensjahr.
Die psychosomatische Medizin ist aus der Psychiatrie hervorgegangen, stellt aber ein eigenes Fachgebiet dar und ist meist der Inneren Medizin zugeordnet. Sie beschäftigt sich mit Erkrankungen, bei denen Wechselwirkungen zwischen psychischen und körperlichen Faktoren (Psychosomatik) wesentlich sind.
Die transkulturelle Psychiatrie befasst sich mit den kulturellen Aspekten der Ätiologie, der Häufigkeit und Art psychischer Störungen sowie mit den sogenannten kulturgebundenen Syndromen.
Sozial- und Gemeindepsychiatrie
Mit dem Begriff Sozial- und Gemeindepsychiatrie wird das Konzept der sogenannten gemeindenahen psychiatrischen Versorgung umschrieben. Es sieht vor, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen genauso wie Menschen mit körperlichen Erkrankungen in der Nähe ihres Wohnortes behandelt werden können.
Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie hat die vorhergehenden Facharztbezeichnungen "Facharzt für Psychiatrie" sowie den "Nervenarzt" (als kombinierte Facharztausbildung aus Psychiatrie und Neurologie) abgelöst. Somit ist die Psychotherapie obligat in die Facharztausbildung der Psychiater mit aufgenommen. Um nach einem absolvierten Medizinstudium in Deutschland als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie tätig zu werden, bedarf es einer fünfjährigen Weiterbildungszeit, bestehend aus:
- vier Jahren Psychiatrie und Psychotherapie, davon zwei Jahre Stationsdienst; anrechenbar sind:
- ein Jahr Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie oder Psychosomatische Medizin oder
- ein halbes Jahr innere Medizin und Allgemeinmedizin oder Neurochirurgie oder Neuropathologie.
- ein Jahr Neurologie.
Um sich zur Facharztprüfung anmelden zu können, müssen diagnostische Funktionen (wie etwa EEG) sowie Teilnahmen z. B. an Balint-Gruppen nachgewiesen werden.
Am 1. Januar 2001 waren in Deutschland 1651 Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie registriert; von ihnen waren 587 niedergelassen. 75 übten keine ärztliche Tätigkeit aus. In der Statistik und der Graphik sind die sog. Nervenärzte nicht berücksichtigt. Letztere sind Fachärzte für Psychiatrie und Neurologie, sie haben also beide Facharztausbildungen absolviert und stellen weiter die Mehrheit der psychiatrisch tätigen Ärzte.
Organisationen
Fachorganisationen
- Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP)
- Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)
- Royal College of Psychiatrists
Betroffenenorganisationen
- Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener
- Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker (BApK)
- BASTA - Das Bündnis für psychisch erkrankte Menschen
Literatur
- Erwin Heinz Ackerknecht: Kurze Geschichte der Psychiatrie, 3. Aufl. Stuttgart 1985
- Mathias Berger (Hrsg.): Psychische Erkrankungen. Klinik und Therapie. 2. Auflage. Urban und Fischer, München 2004, ISBN 3-437-22480-8
- Thomas Bock, Hildegard Weigand (Hrsg.): Handwerksbuch Psychiatrie (Lehrbuch). Bonn: Psychiatrie-Verlag, 5. Aufl. 2002, 688 Seiten, ISBN 978-3-88414-120-5
- Andreas Marneros, F. Pillmann: Das Wort Psychiatrie wurde in Halle geboren. Von den Anfängen der deutschen Psychiatrie. Schattauer Verlag, Stuttgart 2005, ISBN 3-7945-2413-6
- Ewald Rahn, Angela Mahnkopf: Lehrbuch Psychiatrie für Studium und Beruf. Psychiatrie-Verlag, 3. Aufl., Bonn 2005, 768 Seiten, ISBN 978-3-88414-378-0
- Heinz Schott und Rainer Tölle: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen. Beck, München 2006, ISBN 978-3-406-53555-0
- Hans-Jürgen Möller, Gerd Laux, Arno Deister: Psychiatrie und Psychotherapie. 4. Aufl., Stuttgart 2009, ISBN 978-3-13-128544-7
- Klaus Dörner: Irren ist menschlich. 3. überarb. Aufl. mit Ursula Plog, Christine Teller und Frank Wendt. 2006 ISBN 3-88414-440-5 (Rezension von Annemarie Jost. In: socialnet Rezensionen vom 2. Juli 2002)
Weblinks
Wiktionary: Psychiatrie – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, ÜbersetzungenCommons: Psychiatrie – Sammlung von Bildern, Videos und AudiodateienWikiversity: Zur Entwicklung der Psychiatrie. Eine Dokumentation. – Kursmaterialien, Forschungsprojekte und wissenschaftlicher AustauschWikiversity: Psychogenese versus Somatogenese. Therapeutische Konsequenzen. – Kursmaterialien, Forschungsprojekte und wissenschaftlicher AustauschWikiquote: Psychiatrie – ZitateEinzelnachweise
- ↑ Thomas S. Szasz: Geisteskrankheit – ein moderner Mythos? Grundzüge einer Theorie des persönlichen Verhaltens. Olten/Freiburg i. Br. 1972, S. 11 ff. (Orig.: The Myth of Mental Illness. Foundations of a Theory of Personal Conduct. New York 1961.)
- ↑ Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt am Main 1993, S. 15-21. (Orig.: Histoire de la folie à l'âge classique – Folie et déraison, 1961.)
- ↑ http://www.lichtblick99.de/so-kvpm.html
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