Idiopathische Polyradikulitis

Idiopathische Polyradikulitis
Klassifikation nach ICD-10
G61.0 Guillain-Barré-Syndrom
ICD-10 online (WHO-Version 2006)
Bau einer Nervenzelle mit Myelinscheide

Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS), auch Landry-Guillain-Barré-Strohl-Syndrom ist ein neurologisches Erkrankungsbild, das durch eine Polyradikulitis verursacht wird. Dabei handelt es sich um eine entzündliche Erkrankung der aus dem Rückenmark hervorgehenden Nervenwurzeln (Radikulitis) und der peripheren Nerven mit Lähmungserscheinungen, die typischerweise an den Beinen beginnen und sich bis hin zur Atemlähmung ausbreiten können.

Die Ursache ist wahrscheinlich eine autoimmune Zerstörung der isolierenden Myelin-Schicht der Nerven. Die Polyradikulitis ist die häufigste Ursache akut auftretetender symmetrischer Lähmungen in der westlichen Welt. In Deutschland erkranken jährlich etwa 1.000 bis 1.500 Menschen daran.

Das Guillain-Barré-Syndrom kann sich dabei auf verschiedene Arten ausprägen:

  • AIDP: als akute entzündliche demyelinisierende Polyneuropathie (Ziel der Autoantikörper: Schwann-Zellen, peripheres Myelin).
  • AMAN: als akute Motor-Axonale Neuropathie (Ziel: motorische Axone).
  • AMSAN: als akute Motor-Sensorische axonale Neuropathie (Ziel: motorische/sensorische Axone).

Inhaltsverzeichnis

Synonyme

Weitere synonyme Bezeichnungen sind Polyradikulitis Guillain-Barré, idiopathische Polyradikuloneuropathie, Akute Inflammatorische (=entzündliche) Demyelinisierende Polyneuropathie (AIDP). Im deutschen Sprachraum wird häufig auch einfach von einer Polyradikulitis (Entzündung der Nervenwurzeln) gesprochen. Im angelsächsischen Raum wird die Erkrankung dagegen oft zu den akuten Polyneuropathien eingeordnet.

Eine ähnliche, aber chronische Verlaufsform des GBS stellt die Chronische Inflammatorische Demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP) dar.

Ursache

Die genaue Ursache des Guillain-Barré-Syndroms ist unbekannt. Die Erkrankung wird höchstwahrscheinlich durch einen immunpathologischen Mechanismus hervorgerufen, indem im Körper Autoantikörper (IgG oder IgM) gegen Ganglioside oder Myelin bzw. die Zellmembranen der Axone des peripheren Nervensystems gebildet werden.
Man postuliert eine molekulare Ähnlichkeit, auch Mimikry genannt, zwischen Antigenen, welche im Rahmen viraler bzw. bakterieller Infektionen in den Körper gelangen, und solchen, die beim Guillain-Barré-Syndrom angegriffen werden. Bei zwei Drittel der erkrankten Menschen lässt sich eine vorausgegangene virale oder bakterielle Infektion nachweisen. Üblicherweise handelt es sich um Infektionen des Magen-Darm-Traktes (Gastrointestinaltrakt) oder der Atemwege (Respirationstrakt). Häufig nachgewiesene Erreger sind Campylobacter jejuni, Epstein-Barr-Virus, Zytomegalievirus oder das Varizella-Zoster-Virus.
Es wurden auch Fallbeispiele beschrieben, in denen das Guillain-Barré-Syndrom nach Insekten- oder Zeckenstichen, Schwangerschaften oder Operationen aufgetreten ist. Auch Impfungen werden als Auslöser diskutiert: Nach Einzelfällen in den 1950er Jahren wurde in den USA deshalb ein Grippeimpfstoff vom Markt genommen.

Symptome

Das Guillain-Barré-Syndrom ist durch eine sich rasch entwickelnde Schwäche gekennzeichnet. Innerhalb weniger Tage treten die Symptome auf und verschlechtern sich kontinuierlich. Nach längstens vier Wochen ist der Höhepunkt der Erkrankung erreicht.
Die Lähmungen steigen typischerweise von den Beinen über den Rumpf und die Arme zum Kopf hin auf. Dabei sind die zuerst betroffenen Muskeln in der Regel schwerer beeinträchtigt als die später befallenen. Üblicherweise sind die Muskeln symmetrisch geschwächt oder gelähmt. Problematisch sind Lähmungen von Atem- und Schluckmuskulatur, welche eine intensivmedizinische Therapie notwendig machen. Das Ausmaß der Lähmungserscheinungen ist sehr variabel, d.h. das Spektrum reicht von kaum merkbaren Bewegungseinschränkungen bis hin zu schweren Lähmungen großer Teile des Körpers. Bei bis zu 25 von 100 betroffenen Menschen kommt es zu einer Atemlähmung, die eine künstliche Beatmung erforderlich machen.
Neben motorischen Problemen treten auch regelmäßig sensible Reizerscheinungen auf. Sie sind meist von deutlich leichterer Ausprägung. Häufig wird begleitend auch von Schmerzen in der Muskulatur berichtet.
Wesentlich ist auch die Beteiligung des vegetativen Nervensystems mit Über- oder Unteraktivität des Sympathikus und Parasympathikus. Mögliche Symptome sind:

  • schneller Anstieg oder Abfall des Blutdrucks
  • Anstieg (Tachy-) oder Abfall (Bradykardie) der Herzfrequenz
  • vermehrtes Schwitzen
  • Blasen- und Darmstörungen

Verlauf und Prognose

Die Erkrankung entwickelt sich zumeist über Tage und dauert Wochen bis Monate. Die Krankheit verschlechtert sich definitionsgemäß nicht länger als 4 Wochen (Lit.: Leitlinie). Zwei bis vier Wochen nach dem Höhepunkt der Erkrankung beginnt die Rückbildung der Symptome, welche sich dann über Monate und Jahre hinziehen kann. Die meisten Menschen erholen sich sehr gut vom Guillain-Barré-Syndrom. Je ausgeprägter die Lähmungen und je länger der Verlauf, desto schlechter wird die Prognose.
Das Guillain-Barré-Syndrom kann bis zu seiner Maximalausprägung voranschreiten, bei der die betroffenen Menschen komplett gelähmt sind, aber trotzdem bei vollem Bewusstsein bleiben. Sie müssen intensivmedizinisch behandelt werden, insbesondere durch Beatmung.
Etwa 5 von 100 erkrankten Menschen versterben am Guillain-Barré-Syndrom, zumeist durch Komplikationen des Kreislaufsystems (reflektorischer Herzstillstand oder fulminante Lungenembolie bei Beinvenenthrombosen) oder schwere Infektionen (meist beatmungsbezogene Pneumonie).
Bei zwei von zehn Menschen bleiben Funktionsstörungen zurück. Rezidive werden nur ganz selten beobachtet.

Die Prognose der axonalen Verlaufsform ist ungünstiger, hier verbleiben oft mehr oder weniger ausgeprägte Lähmungen.

Diagnostik

Nach der ersten Woche kann im Liquor cerebrospinalis (Nervenwasser) eine Eiweißvermehrung bei normaler Zellzahl festgestellt werden (zytoalbuminäre Dissoziation). Die Nervenleitgeschwindigkeit der peripheren Nerven ist deutlich verlangsamt. Man kann noch weitere Parameter mittels transkranieller Magnetstimulation, Elektromyografie und somatosensibler evozierter Potenziale bestimmen.

Zur Labordiagnostik eignen sich der Antikörpernachweis gegen das GM1. Bei neun von zehn Menschen mit dem Miller-Fisher-Syndrom ist ein Antikörper gegen das Gangliosid GQ1b nachweisbar.

Therapie und Prognose

Das Syndrom kann vollständig geheilt werden. Vorausgesetzt wird allerdings die rechtzeitige Diagnose. Als Basistherapie für leichtere Verlaufsformen kommen vor allem prophylaktische Maßnahmen in Frage. Verhinderung von Infektionen und Thrombosen sowie Krankengymnastik zur Vorbeugung von Kontrakturen stellen wesentliche Schritte dar. Bei akuten und schweren Fällen ist eine Immuntherapie angezeigt. Dabei können entweder Immunglobuline in Kombination mit Kortikoiden gegeben, oder eine Plasmapherese durchgeführt werden. Die Therapie mit Immunglobulinen ist zwar kostspieliger, allerdings deutlich schonender und wird von weniger Nebenwirkungen begleitet. Die Plasmapherese stellte sich vor allem bei rasch fortschreitenden und lang dauernden Krankheitsverläufen als wirkungsvoll heraus.

Varianten

Die Landry-Paralyse ist eine sehr rapide fortschreitende Form, bei der innerhalb von wenigen Stunden eine künstliche Beatmung notwendig wird.

Das Miller-Fisher-Syndrom mit Augenmuskellähmungen und schwereren Koordinationsstörungen (Ataxie) sowie die Akute Motorische Axonale Neuropathie (AMAN), bei der nicht nur die Nervenhülle (Myelinscheide) sondern auch der innere Nervenanteil (Axon) betroffen sind. Die Prognose dieser sehr seltenen Varianten ist hinsichtlich einer kompletten Heilung insgesamt ungünstiger.

Die Chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie (CIDP) ist im Anfangsstadium nicht vom GBS zu unterscheiden, dauert aber länger als 4 Wochen an und reagiert auf die Therapie mit Glukokortikoiden.

Geschichtliches

Das Guillain-Barré-Syndrom wurde bereits 1859 vom französischen Arzt Jean Landry beschrieben. Das Syndrom ist nach den französischen Ärzten Georges Charles Guillain (1876–1961) und Jean-Alexandre Barré (1880–1967) benannt, die es 1916 zusammen mit André Strohl an zwei Soldaten im Ersten Weltkrieg beschrieben und zum ersten Mal die charakteristische Eiweißvermehrung im Nervenwasser feststellten. Strohl bleibt in dem Syndromnamen oft unerwähnt.[1]

Einzelnachweise

  1. http://www.whonamedit.com/synd.cfm/1766.html Guillain-Barré-Strohl syndrome in Who Named It

Literatur

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