Konferenz von Évian

Konferenz von Évian

Die Konferenz von Évian fand vom 6. Juli 1938 bis zum 15. Juli 1938 im französischen Évian-les-Bains am Genfersee statt. Vertreter von 32 Nationen trafen sich auf Initiative des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, um die Möglichkeiten der Auswanderung von Juden aus Deutschland und Österreich zu verbessern.

Inhaltsverzeichnis

Ausgangssituation

Nach der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 begann die Zahl der jüdischen Auswanderer stark anzusteigen, von denen zunächst auch viele trotz der durch die Wirtschaftskrise schwierigen Situation in den Aufnahmeländern politisches Asyl fanden. Während aber die Situation für die Juden in Deutschland durch die Verschärfung der gegen sie gerichteten Gesetze (insbesondere durch die Nürnberger Gesetze 1935) immer unerträglicher wurde und entsprechend die Ausreisebereitschaft wuchs, ließ die Bereitschaft zur Aufnahme von Juden in den Zielländern nach. Die Briten erließen im November 1937 rigide Aufnahmebeschränkungen für Palästina, obwohl den Juden in der Balfour-Deklaration dort eine „nationale Heimstätte” zugesagt worden war.

Die praktische Flüchtlingshilfe dieser Jahre lag weitgehend in den Händen des sogenannten Nansen-Büros (Internationales Nansenamt für Flüchtlingsangelegenheiten), das 1931 vom Völkerbund eingerichtet worden war. Speziell für die deutschen Emigranten wurde 1933 in Lausanne das Hochkommissariat für Flüchtlinge aus Deutschland eingerichtet.

Da 1938 die Flüchtlingsströme jüdischer Auswanderer aus Deutschland erneut anstiegen – seit März waren auch die österreichischen Juden den Verfolgungsmaßnahmen der deutschen Regierung ausgesetzt, im April wurden alle Juden in Deutschland gezwungen, ihr Vermögen anzumelden (s. Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden) –, war bald klar, dass es hier einer internationalen Vereinbarung bedurfte, um die immer unerträglicher werdende Situation in den Griff zu bekommen. In dieser Lage übernahmen die Vereinigten Staaten die Initiative und schlugen eine Konferenz vor; als Ort war zunächst Genf, der Sitz des Völkerbundes vorgesehen, doch befürchtete die Schweiz eine Beeinträchtigung ihres Verhältnisses zum deutschen Nachbarn, so dass sich schließlich Frankreich bereit erklärte, die Konferenz auf seinem Territorium in Évian stattfinden zu lassen.

Auf die Einladung des Präsidenten der Vereinigten Staaten (Myron C. Taylor als Verhandlungsleiter) waren folgende Staaten, zumeist durch ihre Delegierten beim Völkerbund, vertreten: Großbritannien (Lord Winterton), Frankreich (Henri Bérenger), die Niederlande, Belgien, Schweiz (Heinrich Rothmund), Schweden, Irland, Dänemark, nahezu alle anderen nord- und die südamerikanischen Staaten sowie Australien und Neuseeland. Polen und Rumänien entsandten Beobachter. Nicht eingeladen waren Deutschland, Italien, Japan, die Sowjetunion, die Tschechoslowakei und Ungarn. Es nahmen weiter viele private Hilfsorganisationen und Pressevertreter teil.

Verlauf und Ergebnis der Konferenz

Ursprünglich war nur daran gedacht, die Situation der aus Deutschland auswandernden Juden zu regeln. Schnell erkannten aber insbesondere nationalistische und antisemitische Vertreter osteuropäischer Staaten die Gelegenheit, auf ihr jeweiliges „Judenproblem” hinzuweisen. Damit standen die möglichen Zielländer vor der Perspektive, nicht mehr lediglich 500.000 deutsche jüdische Flüchtlinge, sondern möglicherweise zusätzlich mehrere Millionen Juden aus Osteuropa aufnehmen zu sollen. Der anfängliche humanitäre Impuls geriet so in den Hintergrund, und „Juden” wurden nunmehr weitgehend als „Problem” betrachtet. Nachteilig wirkte sich für die jüdischen Flüchtlinge außerdem aus, dass keiner der führenden Vertreter der Zionistischen Weltorganisation anwesend war; dies lag offenbar darin begründet, dass man von der Konferenz die Anerkennung der britischen Einreisebeschränkungen für Palästina befürchtete.

Bald wurde klar, dass sich die Aufnahmebereitschaft der meisten Länder in engen Grenzen hielt. So erklärten mehrere Konferenzteilnehmer, ihr Land sei grundsätzlich kein Einwanderungsland, andere wiesen darauf hin, dass sie lediglich den Transit von jüdischen Flüchtlingen zulassen könnten; im Übrigen würde eine weitere Zuwanderung lediglich dem Antisemitismus weiteren Auftrieb geben. Die Vereinigten Staaten hielten an ihrer Quote von jährlich 27.370 Einwanderern aus Deutschland und Österreich fest[1].

Zwar gab es diverse Pläne zur Ansiedlung jüdischer Siedler, so im von der Sowjetunion eingerichteten Autonomen Gebiet Birobidschan oder in der portugiesischen Kolonie Angola. Eine unautorisierte Zeitungsmeldung aus Südafrika nannte Madagaskar als mögliche Zufluchtstätte. Tatsächlich waren diese Projekte, die darauf abzielten, die jüdischen Flüchtlinge möglichst weit aus dem Blickfeld der Industriestaaten abzuschieben, kaum praktikabel. Der Versuch des Diktators der Dominikanischen Republik, Rafael Trujillo auf der Konferenz durch seinen Bruder vertreten, sich dadurch zu profilieren, dass sein Land die Einwanderung von 100.000 Juden zugestand, reiht sich in diese Projekte wegen seiner in Frage gestellten Motive ein: man warf ihm vor, er wolle dadurch von seiner Terrorherrschaft ablenken; außerdem würden rassistische Motive hinter der Entscheidung stehen, da es Trujillo darum gehe, das „weiße” Element in seinem Land durch die Einwanderung zu stärken (tatsächlich gelangten lediglich 600 Juden in die Dominikanische Republik). 15.000 Juden retteten sich nach China, ehe auch dieses Land seine Türen vor den Juden verschloss.

Letztlich war das einzige konkrete Ergebnis die Gründung des Intergovernmental Committee on Refugees, auch Comité d'Évian genannt, das künftig in Kooperation mit Deutschland die Modalitäten der deutschen jüdischen Auswanderung regeln sollte. Dessen Erfolge hielten sich wegen der Weigerung der Völkergemeinschaft, deutsche Juden im Rahmen konkreter neuer Kontingente aufzunehmen, in engen Grenzen. Zudem wurden bereits im nächsten Jahr durch den Kriegsausbruch die Auswanderungsmöglichkeiten erneut drastisch eingeschränkt.

Deutungen

Wie viele Juden bei einem erfolgreicheren Ausgang der Konferenz vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten im Holocaust hätten bewahrt werden können, bleibt ungeklärt. Zwar war der Bau von Massenvernichtungslagern, der nur vier Jahre später im besetzten Polen erfolgte, 1938 noch nicht absehbar, wohl aber wusste man von der nahezu vollständigen und beispiellosen Entrechtung der Juden in Deutschland.

Die moralische Katastrophe, die der Ausgang dieser Konferenz bedeutete, wird deutlich, wenn man zwei Aussagen dazu gegenüberstellt. Im Völkischen Beobachter stand nach Abschluss der Konferenz der hämische Kommentar zu lesen, Deutschland biete der Welt seine Juden an, aber keiner wolle sie haben. Auf der anderen Seite schrieb Golda Meïr später über die Konferenz: „Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich Leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung. […] Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten ‚Zahlen‘ menschliche Wesen sind, Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn ihr sie nicht aufnehmt?“

Unterschiedlich bewerten Historiker die Frage, ob die internationale Staatengemeinschaft versagt habe, weil sie zu wenig Aufnahmebereitschaft für die entrechteten und ihrer wirtschaftlichen Existenz beraubten deutschen Juden entwickelt habe. Weingarten behauptet, dass „alle Völker der Welt auch an der Endlösung und deren Ausmaß voll mitschuldig“ geworden seien.[2] Dieser These ist lebhaft widersprochen worden, da sie die Geschichte vom Ende her interpretiere, Täter und Außenstehende auf eine Stufe stelle[3] und letztlich die nationalsozialistische Verantwortung verharmlose[4].

Siehe auch

Literatur

  • Magnus Brechtken: „Madagaskar für die Juden“. Antisemitische Idee und politische Praxis 1885–1945. Oldenbourg, München 1997, ISBN 3-486-56240-1 (Studien zur Zeitgeschichte 53), (Zugleich: Bonn, Univ., Diss., 1994).
  • Hans Jansen: Der Madagaskar-Plan. Die beabsichtigte Deportation der europäischen Juden nach Madagaskar. Herbig, München 1997, ISBN 3-7844-2605-0.
  • Ralph Weingarten: Die Hilfeleistung der westlichen Welt bei der Endlösung der deutschen Judenfrage. Das Intergovernmental Committee on Political Refugees (IGC) 1938–1939. 2. Auflage. Lang, Bern u.a. 1983, ISBN 3-261-04939-1 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 157), (nur knappen Auszug eingesehen).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Magnus Brechtken: Madagaskar für die Juden. München 1997, S. 217.
  2. Ralph Weingarten: Die Hilfeleistung der westlichen Welt bei der Endlösung der deutschen Judenfrage... Bern u.a. 1983, S. 204.
  3. Magnus Brechtken: „Madagaskar für die Juden“... München 1997, S. 195.
  4. Walther Hofer: Stufen der Judenverfolgung im Dritten Reich. In: Herbert Strauss / Norbert Kampe (Hrsg.): Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust. Bonn 1995, Seite 185.

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