Kurt Breysig

Kurt Breysig

Kurt Breysig (* 5. Juli 1866 in Posen; † 16. Juni 1940 in Bergholz-Rehbrücke) war ein deutscher Historiker mit stark soziologischem und kulturanthropologischem Einschlag.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Seine Jugend verbrachte Breysig größtenteils in Erfurt. Sein Vater war Gymnasiallehrer (Altphilologe). 1884 nahm er in Berlin ein Studium der Rechtswissenschaft auf, wechselte 1885 nach Tübingen (bes. Kunstgeschichte) und kehrte 1886 endgültig nach Berlin zurück, um sich der Geschichtswissenschaft zu widmen.

Unter seinen Professoren befanden sich Hans Delbrück, Hans Droysen, Reinhold Koser und Heinrich von Treitschke. Besonders beeindruckt war Breysig von Gustav von Schmoller, bei dem er 1888-90 über „die brandenburgisch-preußische Finanzverwaltung von 1640 bis 1697“ dissertierte. Ab 1894 gab er in dessen Auftrag die Akten zur „Entwickelung des preußischen Ständetums“ heraus. 1892 erfolgte die Habilitation, 1896 wurde er auf Betreiben Schmollers außerordentlicher, aber erst 1923, auf Betreiben Carl Heinrich Beckers, ordentlicher Professor für Universalgeschichte und Gesellschaftslehre. Um in Ruhe an seinen Büchern weiterzuarbeiten, ließ Breysig sich 1933 emeritieren. Ab 1914 wohnte Breysig bis zu seinem Tode in Bergholz-Rehbrücke, südlich von Potsdam, im "Haus Ucht", das ihm zuvor vom "Werkring"-Architekten Curt Stoeving erbaut worden war.

Werk

Im Zeitalter des Deutsch-Nationalismus stand die politische Geschichte im Mittelpunkt - dennoch fühlte sich Breysig mehr zur Kunstgeschichte hingezogen. Mit Ranke und Treitschke verband Breysig seine Wertschätzung großer Persönlichkeiten (obwohl er den dt. Historismus überwinden wollte), mit Karl Lamprecht und Marx das Interesse an Wirtschaftsgeschichte, wobei ihm aber deren Antipersonalismus missfiel. Mit Burckhardt und Nietzsche teilte er die Erkenntnis der Bedeutung der Kunst in der Entwicklung der Völker. [1]

Um 1900 wird ihm das riesige Ausmaß des Feldes bewusst, das vor ihm liegt: er "brauchte 200 Jahre“, sagt er. Er schrieb ca. 30 Bücher - vieles blieb unvollendet. In seinem Werk „Kulturgeschichte der Neuzeit“ von 1900 und 1901 finden sich bereits wesentliche Aspekte seiner Betrachtungsweise: Jedes Volk geht von einer "Urzeit“ aus und könnte sich potenziell zur Zivilisation erheben, aber nur wenigen gelingt es, in Abhängigkeit von ihrer "Rasse", so etwa den Griechen, Römern und den Völkern im Kern Europas. Andere blieben bisher und wahrscheinlich für immer in der Urzeitstufe stehen ("Neger" u. a.), etliche auf „altertümlichem“ (Perser) oder „mittelalterlichem“ Niveau „stecken“ (China, Byzanz); die mittelamerikanischen Völker wurden in ihrer Entwicklung beim Übergang ins „Mittelalter abgewürgt“. Die Vorstellung, Urzeit, Altertum usw. seien für jedes Volk etwas Eigenes (und keine allgemein menschheits-geschichtliche Entwicklungs-Gliederung) findet sich schon bei Carl Friedrich Vollgraff und wurde auch, mit etwas anderer Gewichtung, für Spengler maßgebend.

Die Entwicklung illustriert er mit dem Bild einer Kegel-Spirale (1905a), das er 1928 mit seiner Kinetologie der Geschichtsentwicklungen noch präzisiert. Diese Spirale ist mehrdimensional: sie wird mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, in verschiedene Richtungen durchlaufen, ihre Spitze kann „oben“ oder „unten“ liegen, der Verlauf kann zentripetal oder zentrifugal sein, sie bezieht sich auf die Kulturentwicklung insgesamt oder auf Teilaspekte. Wichtig ist dabei die Spiralbewegung, die es auch gestattet, übereinander liegende Punkte im Zusammenhang zu betrachten (vgl. Toynbees Religions-Helix).- Im selben Jahr erscheint auch seine tiefsinnige, "evolutionäre" Ableitung des Theismus aus animistischen Vorstellungen vom „Heilbringer“ (1905b).

Breysig betonte wiederholt, zu seinen Resultaten nur durch empirische Forschung zu gelangen. Um 1910 bemüht er sich um die Einrichtung eines Seminars für Vergleichende und Kulturgeschichte an der Friedrich-Wilhelms-Universität, scheitert jedoch.[2] Auch Breysigs Etablierung durch den parteilosen Minister Becker (s. o.) war anderen Geschichtswissenschaftlern ein Dorn im Auge.

Mit großem Eifer wendet Breysig sein Einteilungsraster schon 1901 auf die drei uns bekanntesten Kulturen an: das „Altertum“ beginnt für die Griechen spätestens um 1400, für die Römer wohl später und für die „Germanischen Völker“ um 400; es folgen die „frühen Mittelalter“ ab 1000, „753“ und ca. 800; die „späten“ ab ca. 750, 500 bzw. 1300; dann beginnt je die Neuzeit, und zwar die „Neuere“ um 500, 380 bzw. ca. 1500, und die „Neueste Zeit“ ab 338 (bis 30), 133 (oder 31; bis 476) bzw. 1789 (bis zur Gegenwart).

Während des Krieges erkennt er, dass er auch naturwissenschaftlicher Kenntnisse bedarf, um sich der „Urzeit“ (deren Bedeutung er ähnlich Spengler immer höher einschätzt) annähern zu können: zum Mentor hierfür wählt er sich den Vitalisten Hans Driesch.

In Abgrenzung zu seiner Interpretation Spenglers ist für Breyisg das "Abendland" nicht oder noch lange nicht dem Untergang geweiht.[3] Spengler sieht Zwangsläufigkeiten der Kultur-Entwicklung, während Breysig daneben vitalistisch auch Selbstbewegungen zulässt. Der arischen Rasse droht zwar „Entnordung“ (und Untergang, wie ja die Griechen und Römer beweisen), aber wir können das jetzt aufhalten – auch das schrieb Breysig, schon 1905; dem Regime ab 1933 war er dennoch unwichtig: zu liberal, zu kosmopolitisch (1912 publiziert er seine Gedanken zur Zukunft des deutschen Menschen).

Bei seinem Tod lagen große Teile unpubliziert vor. Drei Bücher wurden noch im Krieg herausgebracht (1942, 1944ab). Weitere drei folgten nach 1949, herausgegeben von seiner vierten Gattin, Gertrud Friedburg, die er 1924 geheiratet hatte. Diese hatte zwei Jahre in Theresienstadt zubringen müssen, während dieser Zeit lagerten die Manuskripte z. T. unbeaufsichtigt und Teile gingen verloren. Eine authentische Ausgabe des „Gesamtwerkes“ ist daher unmöglich. Das Interesse daran war nach 1945 auch lange sehr gering – erst in den Neunzigerjahren erwachte es wieder: 2001 brachte Hartmut Böhme die fünfbändige (Universal-)„Geschichte der Menschheit“, deren Konzept Breysig seit 1901 nicht mehr geändert hatte, neu heraus (mit einem Vorwort von A. Toynbee [1955]).

Quellen

  1. Breysig hielt eine Ansprache an Nietzsches Sarg in Weimar. Am nächsten Tag (28. Aug. 1900) fuhr Breysig auch mit dem Trauerzug zum Begräbnis nach Röcken mit. Breysig war in Deutschland einer der ersten, die es wagten, eine Vorlesung über Nietzsche zu halten (ca. 1897).
  2. Tim B. Müller 2008
  3. K. Breysig: Der Prophet des Unterganges Oswald Spengler. Velhagen und Klasing's Monatshefte 35 (1921): 261-270.

Zitierte Werke Breysigs

  • (1900) Kulturgeschichte der Neuzeit. (Ein universalgeschichtlicher Versuch.) Bd. 1. Aufgaben und Maßstäbe einer allgemeinen Geschichtsschreibung.- Berlin.
  • (1901) – Bd. 2. Altertum und Mittelalter als Vorstufen der Neuzeit.- Berlin. 2 Bde.
  • (1905a) Der Stufenbau und die Gesetze der Weltgeschichte.- Berlin. (2., stark vermehrte Aufl.: 1927, 3. 1950)
  • (1905b) Die Entstehung des Gottesgedankens und der Heilbringer.- Berlin.
  • (1907) Die Völker ewiger Urzeit.- Berlin
  • (1912) Von Gegenwart und von Zukunft des deutschen Menschen.- Berlin.
  • (1926) Die Macht des Gedankens in der Geschichte, in Auseinandersetzung mit Hegel und mit Marx.- Stuttgart.
  • (1931) Der Aufbau der Persönlichkeit von Kant.- Stuttgart.
  • (1933) Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte.- Berlin.
  • (1935a) Der Werdegang der Menschheit vom Naturgeschehen zum Geistgeschehen.- Breslau.
  • (1935b) Vom Sein und Erkennen geschichtlicher Dinge. Bd. 1. Psychologie und Geschichte.- Breslau
  • (1936) – Bd. 2. Die Meister entwickelnder Geschichtsforschung.- Breslau.
  • (1942) Der Wille der Welt an unserem Tun.- Berlin. (Ethik.)
  • (1944a) Das neue Geschichtsbild im Sinn der entwickelnden Geschichtsforschung.- Berlin.
  • (1944b) Das Recht auf Persönlichkeit und seine Grenzen.- Berlin.
  • (1955) Die Geschichte der Menschheit. Einleitung von H. Boehme. Vorwort von A. Toynbee (1954).
  • (1958) Gesellschaftslehre. Geschichtslehre. (Hrg.: Gertrud Breysig.) Berlin.
  • (1962) Aus meinen Tagen und Träumen (Hrg.: Gertrud Breysig). Berlin. Mit Bibliografie.
  • (1964) Gedankenblätter (Hrg.: Gertrud Breysig). Berlin.
  • (1967) Gertrud Breysig: Kurt Breysig – ein Bild des Menschen.- Heidelberg. (Biografie.)

Werke

Literatur

  • Hartmut Böhme (1955): Der Dämon des Zwiewegs. Einleitung zu K. Breysig (1955): v-xxvii, s. o.
  • Bernhard vom Brocke (1971): Kurt Breysig. Geschichtswissenschaft zwischen Historismus und Soziologie. Matthiesen Verlag, Lübeck und Hamburg,ISBN 978-3-7868-1417-7
  • Bernhard vom Brocke (1972): Kurt Breysig. In: H. U. Wehler (Hrg.): Deutsche Historiker, Bd. V (p. 581-602).
  • Franz M. Wimmer (2005): Geschichtsphilosophie im 20. Jh. Morphologische Geschichtstheorien. Vorlesung U Wien SS 2005.

Weblinks


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