Körper von Gewicht

Körper von Gewicht

Körper von Gewicht (OT: Bodies that matter, 1993) ist ein zentrales Buch der US-amerikanischen Feministin und Philosophin Judith Butler. Die darin ausgearbeiteten Konzepte des sozialen Geschlechts (gender) und der fiktiven Natürlichkeit des biologischen Geschlechts (sex) hatten enormen Einfluss auf die Gender Studies der 1990er Jahre (Siehe Gender).

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Butler reagiert in „Körper von Gewicht“ auf die Kritik, die ihr in der Debatte um ihr zuvor veröffentlichtes Buch Das Unbehagen der Geschlechter vielfach entgegengebracht wurde: Sie scheine zu glauben, die sexuelle Identität sei von einem denkenden Subjekt frei wählbar, indem es sich aus den Möglichkeiten performativer Geschlechts-Zuschreibungen bedient wie aus einem Kleiderschrank. Außerdem setzt sie sich zentral mit dem Problem der Materialität des biologischen Geschlechtskörpers auseinander, denn auch darum ging es in der Debatte, die sie mit ihrem vorangegangenen Buch angestoßen hatte. Ihr wurde u.a. vielfach vorgeworfen, diese Materialität aufzulösen, die Frau zu „entkörpern“ und „reinen Text“ zur Grundlage der Körper zu machen.

In den einzelnen Kapiteln von Körper von Gewicht setzt sich Butler mit dieser Kritik an ihrem Werk und mit den daraus entstehenden Fragestellungen auseinander, indem sie sich verschiedenen Autoren, Themen und Konzepten zuwendet (z.B. Jacques Lacan, Freuds Psychoanalyse, Slavoj Žižek) und sie im Kontext von Geschlecht analysiert und dabei ihre eigenen Ideen und Konzepte erweitert und neu denkt.

Materialität (des Geschlechts) bei Butler

Für Butler ist Materie immer etwas zu Materie Gewordenes. Der Anschein von Festigkeit, Oberfläche und Dauer, sowie von Irreduzibilität ist ein Effekt von Macht. Indem der Diskurs bestimmte regulierende Normen beständig wiederholt und zitiert erzeugt er das, was er scheinbar nur benennt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Begriff der Performativität. Diese wird „nicht als der Akt verstanden, durch den ein Subjekt dem Existenz verschafft, was sie/er benennt, sondern vielmehr als jene ständig wiederholende Macht des Diskurses, diejenigen Phänomene hervorzubringen, welche sie reguliert und restringiert“ [1]. Materialität muss also als materielle Wirkung einer Machtdynamik verstanden werden, die sie historisch spezifisch immer wieder neu konstituiert. Macht darf nicht als eine äußerliche Beziehung verstanden werden, sie ist von den Subjekten nicht zu trennen.

Außerdem betont Butler ausdrücklich, den Körper als konstruiert zu denken habe nichts mit Beliebigkeit oder Freiwilligkeit zu tun. Körper entstehen immer innerhalb bestimmter Zwänge, Einschränkungen und Verwerfungen, innerhalb einer und als eine geschlechtliche Matrix. Der Prozess ihrer Materialisierung funktioniert auf verschiedenen Ebenen. Butler betrachtet insbesondere die Verschränkung von Sprache und Materie, die psychische Dimension der körperlichen Gestalt bei Individuationsprozessen und die Wirkungsweise von Diskursen zur körperlichen Geschlechterdifferenz.
In Bezug auf die Materialität des Geschlechtskörpers oder „biologischen Geschlechts“ (sex) wendet sie sich gegen die Annahme eines faktischen, materiellen körperlichen Geschlechts, das mit einem sozialen Konstrukt (gender) überschrieben wird. Sie geht davon aus, dass der Begriff des „biologischen Geschlechts“ (und der damit zusammenhängende Rekurs auf Naturalität) selbst „eine kulturelle Norm, die die Materialisierung von Körpern regiert“ ist.[2]

Wichtig ist, dass es Butler nicht darum geht, den Körper aufzulösen, sondern vielmehr darum, eine Rückkehr zum "Körper als einem gelebten Ort der Möglichkeit, dem Körper als einem Ort für eine Reihe sich kulturell erweiternder Möglichkeiten"[3] zu schaffen.

Das Geschlecht (sex) ist also ein „normatives Phantasma[2] – zugleich sozial konstruiert, kulturell erlernt und gefestigt (und damit zur Doxa gehörig); es ist als Konstrukt Verschiebungen und Umwertungen unterworfen, muss aber durch rituelle performative Praktiken als Phantasma gefestigt werden.

Natürlichkeit

Butlers Prämissen sind also mit der Anstrengung verbunden, auch „Materialität“ und „Natürlichkeit“ als kulturelles Konstrukt sichtbar und damit rational fassbar zu machen, und den symbolischen Formen dieser normativen Diskursformation nachzuspüren. Dabei erweitert sie auch die Begriffe der Performativität und der Konstruktion bewusst über das gewöhnliche Verständnis hinaus.

Wie aber lässt sich die Konstruiertheit des biologischen Geschlechts begreifen, ohne dass man einem Konstruktivismus im landläufigen Sinne verfällt? Eine Möglichkeit wäre, so Butler, als „phantasmatisches Feld, das das eigentliche Terrain kultureller Intelligibilität konstituiert“, als eine Fiktion, „in deren Notwendigkeiten wir leben und ohne die das Leben selbst undenkbar wäre“[4]. Damit gerät man allerdings ins Feld eines radikalen linguistischen Konstruktivismus, in dem das (vordiskursive) biologische Geschlecht vom sozialen Geschlecht als „Fehlbezeichnung“ konstruiert wird.

Andererseits stellt sich die Frage: „’Wenn das Subjekt konstruiert ist, wer konstruiert dann das Subjekt?’“[5]. – eine grammatikalische Fehlwahrnehmung, auf die nur entweder eine deterministische oder eine voluntaristische Antwort gegeben werden kann. „Dem sozialen Geschlecht unterworfen, durch das soziale Geschlecht aber auch zum Subjekt gemacht, geht das ‚Ich’ diesem Prozess der Entstehung von Geschlechtsidentität weder voraus, noch folgt es ihm nach, sondern entsteht nur innerhalb einer Matrix geschlechtsspezifischer Beziehungen und als diese Matrix selbst.“[6].

Die soziale Performanz wird jedoch deutlicher konturiert etwa an der Geschlechtszuschreibung des vorgeburtlichen Kindes („es ist ein Mädchen!“). Mit dieser Benennung (als Sprechakt verstanden) „wird das Mädchen ‚mädchenhaft gemacht’, es gelangt durch die Anrufung des sozialen Geschlechts in den Bereich von Sprache und Verwandtschaft“[6] und erfährt damit zum ersten, aber nicht zum letzten Mal die normative Wirkkraft sprachlicher Zuschreibungen und damit eine erste „Naturalisierung“. „Das Benennen setzt zugleich eine Grenze und wiederholt einschärfend eine Norm“[6]. Mit den beiden Verben dieses Satzes rückt die Relevanz der Sprechakt-Theorie in den Blickpunkt.

Normen müssen durch rituelle Wiederholung gefestigt werden – das gilt auch und vor allem für sprachliche Rituale - und schaffen damit zugleich die Eingrenzung des Benannten durch die sprachliche Identifikation des Eigenen bzw. der konstitutiven Exklusion des jeweils Anderen. Die Analyse dieser Form performativer sprachlicher Gewalt lässt sich mit einem Wort benennen: Dekonstruktion.

Einzelnachweise

  • Butler, Judith: Körper von Gewicht. Gender Studies, Frankfurt/Main 1997. ISBN 3518117378
  1. S. 22
  2. a b S. 23
  3. S. 11
  4. S. 27
  5. S. 28
  6. a b c S. 29

Literatur


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