Midnight’s Children

Midnight’s Children

Mitternachtskinder ist der deutsche Titel des Romans von Salman Rushdie, der im Original unter dem Titel Midnight’s Children erschienen ist.

Inhaltsverzeichnis

Kurzzusammenfassung

„Mitternachtskinder“ beschreibt auf 640 Seiten die Geschichte des Saleem Sinai. Er wird exakt um Mitternacht am 15. August 1947 geboren, dem Tag der Unabhängigkeit Indiens. Seine Lebensgeschichte ist eng mit der Indiens verwoben:

Im Rückblick beschreibt er die Geschichte seiner Vorfahren, die an den wichtigen Ereignissen im politischen Indien seit Beginn des 20. Jahrhunderts teil haben, wenn auch meist nur als Zuschauer. So wird das Blutbad in Amritsar 1919 beschrieben, die Bemühungen Mahatma Gandhis, und immer wieder der Konflikt zwischen Pakistan und Indien.

Saleem selbst gerät in alle großen Konflikte hinein, zieht mit seiner Familie von Indien nach Pakistan und zurück, wird im indisch-pakistanischen Krieg traumatisiert und leidet insbesondere unter dem Regime von Indira Gandhi. Seine Geschichte endet in der Gegenwart, also kurz vor dem Erscheinen des Buches 1981.

Magischer Realismus

Was den Roman so besonders macht, ist die gekonnte Verknüpfung von Mythos und Realität. Das Indien Saleems ist durchsetzt von Mythen und Mysterien, Magie ist mehr als nur Aberglaube. Die tatsächlichen historischen Ereignisse werden eingebettet in einen Rahmen aus Zauber und ungewöhnlichen Kräften.

„Wahrheit und Wirklichkeit sind nicht unbedingt dasselbe. Wahrheit war für mich seit meiner frühesten Kindheit etwas, was in den Geschichten verborgen war, die Pereira mir erzählte: Mary; meine Ayah. die gleichzeitig mehr und weniger war als eine Mutter; Mary; die alles über uns wußte. Wahrheit war etwas, was direkt hinter dem Horizont verborgen war, auf den in dem Bild an meiner Wand der Finger des Fischers deutete, während der Knabe Raleigh seinen Erzählungen lauschte. Während ich dies nun im Lichtkegel meiner Schwenklampe schreibe, messe ich die Wahrheit an diesen frühen Dingen: Hätte Marie sie so erzählt, frage ich? Hätte der Fischer das gesagt? […] Und nach diesen Maßstäben ist es unanfechtbar wahr, daß meine Mutter an einem Tag im Januar 1947, sechs Monate, bevor ich auftauchte, alles über mich erfuhr, während mein Vater mit einem Dämonenkönig aneinandergeriet.“ (104–105)

Die Mitternachtskinder sind ein Phänomen zwischen Realität und Magie. Saleem findet mit dem Eintritt in die Pubertät heraus, dass alle Kinder, die in der Nacht der indischen Unabhängigkeit geboren worden sind, besondere Kräfte besitzen. Als genau um Mitternacht Geborener hat er die herausragendsten: Er kann die Gedanken anderer lesen und auch vermitteln. So ist es ihm möglich, die über ganz Indien und Pakistan verstreuten Mitternachtskinder mit ihren besonderen Aufgaben aufzuspüren und ihnen – in seinem Kopf, der als Medium fungiert – ein Forum zu bieten.

Doch wie sich herausstellt, sind auch diese besonderen Menschen nicht in der Lage, alte Vorurteile zu überbrücken, wie sie zum Beispiel zwischen Moslems und Hindus herrschen.

Themen

Koppelung Biographie / Geschichte

Das Schicksal der Romanfiguren ist untrennbar mit den historischen Ereignissen gekoppelt. Die Geburtsstunde des Erzählers Saleem Sinai, die Mitternachtsstunde des 15. August 1947, ist gleichzeitig der Gründungszeitpunkt Indiens, dessen Entwicklung das Leben des Erzählers nachvollziehbar macht.

„… war mein Geschick unlösbar mit dem meines Landes verkoppelt worden“ (9)

Aber auch andere Ereignisse in der Familie Saleems verweisen auf historische Parallelen. 1918, mit dem Ende des Ersten Weltkriegs, sieht der Großvater zum ersten Mal das Gesicht der Großmutter (vgl. 34), Urgroßvater und Urgroßmutter sterben (35).

Die Mutter verkündigt ihre Schwangerschaft öffentlich, um einen Hindu vor einem Moslempogrom zu retten. „Vom Augenblick meiner Empfängnis an, scheint es, bin ich öffentliches Eigentum gewesen.“ (102)

Das Warten auf Saleems Geburt wird zu einem Countdown. Die Zeit vom 4. Juni 1947 bis zur Unabhängigkeit Indiens ist erzählerisch mit dem Warten auf die Mitternachtskinder durch den Preis der Regierung für die erste Geburt gekoppelt. (121 ff., 132) Noch während der Wehen gründet M. A. Jinnah Pakistan. (149)

Die Hausübergabe Methwolds an die Familie stellt die englischen Bedingungen für die Machtübergabe an Indien dar. (128)

Exil

Der Großvater Saalem Sinais hatte in Deutschland Medizin studiert und dort starrköpfig jede Anpassung verweigert. Erst nachdem er in die Heimat zurückgekehrt ist, bekommt er die Wirkung des Exils zu spüren: Seine „weitgereisten Augen“ (11) lassen aus der „Schönheit“ der Heimat „Beschränktheit“ (11) werden. Er fühlt sich abgewiesen in „feindliche Umgebung“ (14). Durch seine Liebeserfahrung mit der deutschen Kommilitonin Ingrid hat sich sein Frauenbild verändert, tief im Inneren hat er eine Verachtung für den Glauben entwickelt (12). Er sieht sich selbst und seine Heimat mit kolonialem Blick. Indien erscheint ihm als Erfindung seiner europäischen Vorfahren (Vasco da Gama [12]). So sehr er im Ausland als exotischer Repräsentant der fernen Heimat wahrgenommen wurde, so schwer fällt ihm doch eine wirkliche Rückkehr. Er lebt in einem „Zwischenreich“ (13).

Zeit

Ein Thema des Romans ist die Ungleichzeitigkeit, die mangelnde Objektivität selbst der Zeit:

„‚Es war nur eine Frage der Zeit‘, sagte mein Vater mit allen Zeichen von Freude; doch die Zeit war meiner Erfahrung nach schon immer eine unsichere Sache und nichts, auf was man sich verlassen konnte. Sie konnte sogar geteilt werden: Die Uhren in Pakistan eilten ihren indischen Gegenstücken eine halbe Stunde voraus […] Herr Kemal, der mit der Teilung nichts zu tun haben wollte, sagte gern: ‚Hier liegt der Beweis für die Idiotie ihres Plans. Diese Liga-Leute planen, sich mit ganzen dreißig Minuten zu absentieren! Zeit-ohne-Teilung‘, rief Herr Kemal aus, ‚das ist die Lösung!‘ Und S. P. Butt sagte: ‚Wenn sie die Zeit einfach so verändern können, was ist dann noch wirklich, frage ich Sie? Was ist wahr?‘“ (104)

Die Hindus benutzen das gleiche Wort für gestern und morgen, so der Erzähler (142). Er verweist auf die elektrizitätsabhängige Zeitansage und kommt zu dem Schluss:

„Zeit ist meiner Erfahrung nach so veränderlich und unbeständig wie Bombays Stromversorgung.“

Ausgerechnet in einem alten Uhrturm findet Saleem Sinai schließlich seinen Rückzugsort vor der rasenden Zeit, einen Ort, an dem die Zeit stillsteht (198).

Indien / Kolonialismus

Ein zentrales Thema ist der indische Unabhängigkeitskampf. Dargestellt werden etwa der Generalstreik Gandhis 1918 (1942) und britischer Massenmord, aber auch der Zusammenschluss Freier Islam und seine Zerschlagung durch die Dogmatiker (1942). Die Zerrissenheit dokumentiert sich in einer Radikalisierung beider Seiten. Auch die Hindu-Brandanschläge und Erpressungen der Moslems im Jahre 1945 werden erzählt (93ff)

„Teilung bringt Zerstörung! Moslems sind die Juden Asiens!“ (Flugblatt, S. 95)

Das Haus der Familie in Bombay wird zum Gleichnis für die Übergabe Indiens durch England. Die Sinais und ihre Nachbarn (→ die reichen Inder) werden von William Methwold, einem Nachfahren des Begründers des englischen Bombay (→ den Engländern) gezwungen, ein Haus zu übernehmen, an dem sie für eine Zeit nichts ändern dürfen, und übernehmen so, mit wenigen Ausnahmen (Amina), die englische Lebens- und Denkweise bis hin zur „scheußlichen Nachahmung“ der Oxforder Sprechweise (127).

„… der Wind kommt von Norden, und er riecht nach Tod. Diese Unabhängigkeit ist bloß für die Reichen; die Armen werden dazu gebracht, sich gegenseitig umzubringen, wie Ungeziefer. Im Pandschab, in Bengalen. Aufruhr, Aufruhr, Arme gegen Arme. Es liegt im Wind.“ (139)

Indien erscheint als „… ein mythisches Land, ein Land, das es nie geben würde außer durch die Anstrengung eines phänomenalen kollektiven Willens – außer in einem Traum, den zu träumen wir alle einwilligten; es war eine Massenphantasie, an der Bengalen und Pandschabis, Madrasis und Jats in verschiedenem Maße teilhatten und die in regelmäßigen Abständen der Sanktionierung und Erneuerung bedurfte, die nur blutige Rituale bereithalten können. Indien, der neue Mythos – eine Gemeinschaftserfindung, in der alles möglich war, eine Fabel, der nur die beiden anderen mächtigen Phantasien gleichkamen: Geld und Gott.“ (150)

Zufall oder Schicksal?

Das Leben der Romane steckt voller Absurditäten und Zufälle. Adam Asiz (Saleems Großvater) deutsche Freunde, die Anarchisten Ilse und Oskar Lubin, kommen auf groteske Art zu Tode. Oskar stolpert über seine Schnürsenkel und wird von einem Stabswagen angefahren. Ilse ertrinkt auf dem See in Kaschmir (vgl. 38). Dagegen rettet dem Großvater ein Nießanfall das Leben, durch den er einer Salve des britischen Militärs entgeht (vgl. 46). Menschliche Versuche, das Schicksal zu wenden, produzieren eher zufällige Folgen oder bleiben wirkungslos. Die Interpretation der historischen und privaten Ereignisse als zielgerichtet erscheint immer ironisch.

„… dann sollten wir entweder – optimistisch – aufstehen und jubeln, denn wenn alles vorhergeplant ist, dann haben wir alle einen Sinn, und der Schrecken, uns als Zufallsprodukte ohne warum zu erkennen, bleibt uns erspart; oder wir könnten – pessimistisch -natürlich auf der Stelle aufgeben, da wir die Sinnlosigkeit von Gedanke Entscheidung Handlung einsehen, weil sowieso nichts, was wir denken, von Belang ist; alles wird sein, wie es sein wird. Wo liegt dann der Optimismus? Im Schicksal oder im Chaos? War mein Vater opti- oder pessimistisch, als meine Mutter ihm ihre Neuigkeit mitteilte (nachdem jeder in der Nachbarschaft sie schon gehört hatte) und er antwortete: ‚Ich habe es dir ja gesagt; es war nur eine Frage der Zeit‘? Die Schwangerschaft meiner Mutter, scheint es, war vom Schicksal bestimmt; meine Geburt jedoch verdankte viel dem Zufall.‘“ (104)

Saleem Sinai wurde bei der Geburt vertauscht, seine Familiengeschichte ist die einer fremden Familie, so sehr sie ihn auch prägt.

Erzähltechnik

Sprache

„Mitternachtskinder“ ist im Original auf Englisch verfasst. Da Rushdie selbst aber aus Indien stammt, einer muslimischen Familie angehört und versucht, fast ein ganzes Jahrhundert indischer Geschichte, aber auch die indischen Lebensweisen, Mentalitäten und Eigenheiten darzustellen, ist seine Sprache durchwoben mit orientalischen Einschüben. Dies bezieht sich nicht nur auf die Wortwahl, sondern auch auf die Art zu schreiben. Da im Orient Erzählungen eine große Tradition haben, sieht sich auch der Protagonist Saleem als Erzähler, und in seiner Sprunghaftigkeit, Vielfalt, Verworrenheit aber auch Leichtigkeit erinnert der Ton so an eine mündlich vorgetragene Erzählung, was den Text von anderen abhebt.

Anderseits erfordert die Verwinkelung der Sprache, die reiche Verwendung von Motiven, die besondere Situation des Erzählers, an dessen Zuverlässigkeit ständig gezweifelt werden muss, auch ein erhöhtes Maß an Konzentration und Aufmerksamkeit vom Leser.

Schreiben erscheint als kreativer Geburtsvorgang, der Erzähler ist Schöpfer seiner selbst (vgl. 133).

„… der Fötus … voll ausgeformt … Was (am Anfang) nicht größer als ein Punkt gewesen war, hatte sich zu einem Komma, einem Wort, einem Satz, einem Absatz, einem Kapitel ausgedehnt; nun entwickelte es sich spurenhaft zu komplexeren Formen, wurde sozusagen ein Buch – vielleicht eine Enzyklopädie –, sogar eine ganze Sprache …“ (133) „… mein Erbe schließt auch die Gabe ein, wenn nötig, neue Eltern für mich zu erfinden. Die Macht, Vätern und Müttern das Leben zu schenken …“ (144)

Metaphorik

Metaphern werden in den Mitternachtskindern schnell zur Realität. So wird die Großmutter von den ungesprochenen Worten während ihres langen Schweigeprotestes aufgebläht (77). Ihre charakterliche Veränderung erzeugt ein hexenähnliches Aussehen (77).

Ein zentrales Bild ist die Picklesproduktion. Leben erscheint als gieriges Essen (10), die Vielfalt der Pickles verbildlicht die Überfülle des Lebens. Die „Doppelbegabung für Kochkunst und Sprachkunst“ (49), das „Werk des Konservierens“ (49) der Speisen und Geschichten durch das Aufschreiben spiegeln einander. Wie beim Kochen kommt es beim Erzählen auf die richtige Würze an.

„Familiengeschichte hat natürlich ihre eigenen rituellen Diätvorschriften. Es wird von einem erwartet, daß man nur die erlaubten Teile, die Halalportionen der Vergangenheit, denen ihre Röte, ihr Blut entzogen ist, herunterschluckt und verdaut. Leider macht das Geschichten weniger saftig, daher bin ich im Begriff, das erste und einzige Mitglied meiner Familie zu werden, das die Gesetze des Halal verhöhnt. Ohne Blut aus dem Körper der Erzählung rinnen zu lassen, komme ich zum unaussprechlichen Teil und dränge vorwärts.“ (78)

Ein anderes Bild ist der Zerfall des Erzählers, er bekommt Risse und spiegelt damit die Zerrissenheit des Subkontinents wider.

Auch die Allwissenheit des Erzählers spiegelt sich in den Berichten Saalems wider, der aber dennoch nie ganz Herr der Geschichte ist. Dennoch, ein Romanerzähler hat überraschende Fähigkeiten, wenn er auch dem Erzählen Grenzen gesetzt sind, alles erscheint „… durch meinen Blick von hoch oben im Himmel“ (99). Herr über Raum und Zeit bleibt der Erzähler dennoch: „… fliege über die Stadt“ zur „St. Thomas Kathedrale“ (137), „denn dort passiert etwas.“

Farbsymbolik

Indien als Kosmos der Farben und Gerüche prägt auch die Bildlichkeit des Romans. Kashmir, die Heimat des Großvaters ist ein Gebiete jahrhundertealter Völkermischungen. So verweisen seine blauen Augen und sein roter Bart auf Kaschmirs Eroberungsgeschichte, aber auch auf die kolonialen Engländer („Fremdartigkeit der blauen Augen“; 143)

Die weißen Hautflecken der Rani von Cooch Naheen, der Geliebten des Großvaters, dokumentieren ihre vielfältigen kulturellen Interessen: „Meine Haut ist der äußere Ausdruck für den Internationalismus meines Geistes“ (58).

Rot ist der Saft, der in den Spucknapf gespuckt wird, sind Jod und Blut, rot vor Wut.

Dunkle und helle Haut sind in Indien soziale Maßstäbe. Saleems Mutter, die dunkle Mumtaz, zieht sich durch ihre dunkle Hautfarbe den Hass der Mutter zu.

„Wie schrecklich, schwarz zu sein, Vetterchen, jeden Morgen zu erwachen und davon angestarrt zu werden, den Beweis deiner Minderwertigkeit im Spiegel gezeigt zu bekommen. Natürlich wissen sie es, selbst Schwarze wissen, daß Weiß schöner ist …“ (Cousine Zohra über Amina [92])

Nur die Götter können diese Kategorisierung umgehen:

„… unser Herr Jesus Christus von wunderschöner kristallener blasser himmelblauer Farbe …“ (137)

Die Farbe erinnert gleichzeitig an den mit blauer Haut dargestellten Liebesgott Krischna und vermeidet den Gegensatz zwischen schwarz und weiß. (vgl. 138 f.)

Safrangelb und grün“ (153 ff) sind die Farben Indiens .

Leitmotive

Löcher und Lücken

Beim Großvater erzeugt der Glaubensverlust eine Lücke, die Platz für Frauen und Geschichte schafft. So wird er denn als Arzt zu einem reichen, blinden Grundbesitzer gerufen, dessen Tochter er behandeln soll. Da der Vater aber strenggläubig ist, darf der Arzt nur durch ein Loch im Laken den zu behandelnden Körperteil sehen. So entwickelt denn seine zukünftige Frau allerlei Krankheiten, um sich dem Großvater nach und nach zeigen zu können.

Das allmähliche Sichtbarwerden des Körpers, das wachsende Wissen verlaufen synchron zum Glaubensverlust als Verlust der Unschuld. Sichtbar wird hier das Erzählprinzip: Saleem Sinai präsentiert keine systematische oder chronologische Entwicklung des Geschehens, sondern aneinandergereihte Einzelbilder, wobei das wichtigste oft weggelassen oder erst spät gezeigt wird. Dadurch entsteht Spannung, die Rolle der Vorstellungskraft des Lesers als synthetisierende Kraft wird herausgestellt (vgl. 32).

Obwohl die Großmutter Saleems das Spiel durch ihre eingebildeten und echten Krankheiten selbst steuert, empfindet sie dennoch Scham. So sieht denn der Großvater „wie in der Hinterbacke eine scheue, aber entgegenkommende Schamesröte aufsteigt.“ (33) Das Laken mit dem Loch wird für die Familie etwas Geheiligtes und Magisches, denn durch dieses Laken hatte er die Dinge gesehen, die das durch den Glaubensverlust entstandene Loch in ihm gefüllt hatten. Leitmotivisch taucht das Laken immer wieder in der Geschichte auf, bei der Entjungferung der Großmutter (39), beim Gespensterspiel des neunjährigen Erzählers (40).

Auch Aminas stückweise Erarbeitung der Liebe zu Ahmed Sinai folgt der Logik der Lücke.

„… sie verfiel dem Bann des Lakens ihrer eigenen Eltern, weil sie beschloß, sich Stück für Stück in ihren Ehemann zu verlieben.“ (90)

Nasen

Die übergroße Nase des Großvaters verweist auf den Rüssel des Elefantengotts Ganesha. Sie ist „die Stelle, an der die Außenwelt die Welt in dir trifft“ (21), zugleich das Organ der Erinnerung (23). Sie verbürgt, so hofft der Großvater, die Echtheit der Nachkommen. Aber nicht nur Saleem und der Großvater verfügen über dieses Kennzeichen, auch William Methwold kommt also als Vater in Frage („französische Aristokratie aus Bergerac“) (126).

Im Gegensatz zur Nase ist das Stethoskop Symbol der objektivierten Wahrnehmung (11), es wird als künstliche Nase bezeichnet (26) und verweist auf den Verlust der natürlichen Orientierung.

Die Nase ist aber auch Wahrnehmungsorgan für die vielfältigen, zum Teil drastischen Gerüche und Düfte Indiens. Der beißender Gestank der Furunkel der Urgroßmutter erzeugt Scham (23), der Fährmann Tai hört auf, sich zu waschen (34), um den Großvater zu verjagen, Padma, die Dunggöttin (40) verströmt nicht nur Heiligkeit, das heilige Amritsar riecht 1918 nach Exkrementen (41) beim blutig niedergeschlagenen friedlichen Protest. Der nach Urin stinkende Tadch Mahal (76) desillusioniert romantische Indienvorstellungen. Drastisch auch die „Rotzkaskaden“, die reichlichen Ausscheidungssubstanzen von Baby Saleem (168).

Groteske

Auf der Flucht von seinem brennenden Lagerhaus wird Ahmed Sinai von einer kaum „angeknabberten Parsenhand“ für sein Versagen geohrfeigt, die einem Geier aus dem Schnabel fällt, der aus den Türmen des Schweigens über ihn herfliegt (121). Das Element der Groteske, die bewusste Überzeichnung einiger Ereignisse, stellt die Absurdität vieler Entwicklungen heraus. Der Einzelne wehrt sich mit grotesken Verhaltensweisen und absurden Marotten gegen die Zwänge von Familie und Geschichte.

„Wenn ich ein wenig wunderlich erscheine, denken Sie an die unbändige Fülle meines Erbes […] vielleicht muß man sich, wenn man ein Individuum bleiben will, grotesk darstellen.“ (146)

Typisch ist in diesem Zusammenhang auch der Zerfall des Erzählers, er wird wird „rissig“, trocknet aus, löst sich schließlich sogar langsam auf. Das Erzählen ist sein einziges Gegenmittel, gegen das Vergessen (47), gegen die Zerstörung der Träume, die die Mitternachtskinder verkörpern.

Vorausdeutungen

Zahlreiche Vorausdeutungen irritieren den Leser, stellen eigenartige Verbindungen her, etwa zwischen der blutenden Nase des Großvaters, als er seinen Glauben verliert, und dem Blut auf dem Laken von der Entjungferung seiner Frau. Sie erzeugen Spannung, wecken verfehlte und berechtigte Erwartungen. Sie sind Ausdruck der Überfülle an Leben, Zeichen kommender Geschichten, die herauswollen.

„diese Ereignisse, die ich weiß nicht wie, über meine Lippen gepurzelt sind, durch Eile und Emotion verstümmelt, sollen andere beurteilen“ (39)

Erzählen wird unter Berufung auf Scheherazade zur lebensrettenden Produktion von Sinn, die Ereignisse drängen sich vor, ufern aus, vermischen sich.

Analogien zur Filmtechnik

Bewusst setzt der Roman Darstellungsformen des Films ein, zeigt Nahaufnahmen und Totale, benennt Schnitte (vgl. etwa 42). Die Mischung verschiedener Zeitebenen, Gedankenströme und Handlungsstränge wird explizit gekoppelt an analoge Filmtechniken, obwohl der Roman angesichts seiner Komplexität schwer zu verfilmen sein dürfte. Mit den Vergleichen mit dem Medium Film werden literarische Techniken sichtbar gemacht, etwa die Montagen von realitätsbezogenen Berichten mit den individuellen Schicksalen der Figuren, die Verbindung von historischer Makroebene mit dem Mikrokosmos des Romans.

Diskurs mit dem Leser

Padma, die Geliebte Saleems, verkörpert die Bedürfnisse eines naiven Zuhörers. Sie kann nicht lesen und Saleem muss sich sein Essen durch Vorlesen bei ihr verdienen (40)

„Ich habe für mein Brot gesungen.“

Saleem schlüpft hier in die Rolle Wee Willie Winkies, des Clowns mit dem Akkordeon.

„Wee Willie Winkie ist mein Name, für mein Brot zu singen meine Gabe!“ (135)

Der Erzähler sieht sich in der „Tradition des Narren“ (136), der die Leute mit seinen Clownerien und Geschichten unterhält. Das Publikum erweist sich aber als kritisch gegen Experimente, fordert traditionelles Erzählen („in das Universum des Was-geschah-danach zurückscheucht.“ [49]), höheres Tempo (49). Aber der Erzähler weiß sich zu wehren:

„Meine Geschichte hat sie bei der Gurgel gepackt.“ (49)

Padma hat „angebissen“ (49), metaphorisch erscheint der Autor als Angler, der den Leser fängt. Fasziniert durch seine Erzählkunst, liebt Padma Saleem, obwohl er „entmannt“ ist (50). Die Fähigkeit zum Schreiben erscheint als phallische Potenz („dein anderer Stift“; 50). Stellvertretend für den Leser wird Padma direkt als Zuhörerin angesprochen (118). Es ist ein ungeduldiges Publikum, das sie repräsentiert. (135)

„Ich wünsche mir zuweilen ein einsichtigeres Publikum; eins, das die Notwendigkeit für Rhythmus, Tempo, die feinsinnige Einführung von Moll-Akkorden verstünde, die später ansteigen, anschwellen, die Melodie an sich reißen werden …“ (135)

Das Schreiben greift ein in die „Realität“ Saleems, Padma verlässt ihn zeitweilig, weil er schreibt, dass sie ihn liebt (163).

Dichtung und Wahrheit

Salman Rushdie ist nicht der erste Literat, der Goethes selbstbewusste Schilderung der eigenen Geburt in „Dichtung und Wahrheit“ verfremdet. Seine Version knüpft an die Verfremdungen von Günter Grass in der „Blechtrommel“.

„Am 28. August 1749, Mittags mit dem Glockenschlage Zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Constellation war glücklich: die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und culminirte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sich freundlich an, Mercur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig, nur der Mond, der so eben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war.“
(Goethe, „Dichtung und Wahrheit“)
„Es war in den ersten Septembertagen. Die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau. Von fern her schob ein spätsommerliches Gewitter, Kisten und Schränke verrückend, durch die Nacht. Merkur machte mich kritisch, Uranus einfallsreich, Venus ließ mich ans kleine Glück, Mars an meinen Ehrgeiz glauben. Im Haus des Aszendenten stieg die Waage auf, was mich empfindlich stimmte und zu Übertreibungen verführte. Neptun bezog das zehnte, das Haus der Lebensmitte und verankerte mich zwischen Wunder und Täuschung. Saturn war es, der im dritten Haus in Opposition zu Jupiter mein Herkommen in Frage stellte.“
(Günter Grass, „Die Blechtrommel“)
„13. August 1947: Unzufriedenheit in den Himmeln. Jupiter, Saturn und Venus sind in zänkischer Stimmung, die drei Sterne auf der Kreuzbahn ziehen in das ungünstigste Haus von allen.“
(Salman Rushdie, „Mitternachtskinder“)

Das Motiv von Dichtung und Wahrheit erscheint bei Rushdie variiert als Märchen und Wahrheit: „Es war einmal ein kleiner Junge, der wurde in der Stadt Bombay geboren.“ Die märchenhaften Erlebnisse des Protagonisten symbolisieren Geburt und Entwicklung des indischen Subkontinents. Es ist aber nicht wie bei Grass die ärmliche Umgebung, angestrahlt durch das Licht „zweier Sechzig-Watt-Glühbirnen“, sondern Dr. Narlikars privates Entbindungsheim, also durchaus ein komfortabler Ort, an dem Saleem und damit symbolisch Indien am 15. August 1947 das Licht der Welt erblicken.

Es ist sind aber nicht nur Grass und Goethe, die Rushdies literarisches Schaffen beeinflussen. Musilsche Ironie findet sich an verschiedenen Stellen, etwa wenn es in Anspielung an einen Kapiteltitel des „Mannes ohne Eigenschaften“ heißt:

„Es scheint, daß mein Großvater, Doktor Aadam Aziz, sich im Spätsommer dieses Jahres eine höchst gefährliche Form von Optimismus zuzog.“ (50)

Chronologie

Zeit Ereignis Ort
1890 Geburt des Großvaters „1942 […] zweiundfünzig Jahre alt“ (50 f) Kaschmir
1910…1915 Studium des Großvaters Aadam Aziz in Deutschland (aus der Perspektive 1915 erzählt) Deutschland
Frühjahr 1915 Glaubensverlust des Großvaters Kaschmir
1918 „Tag, an dem der Weltkrieg endet“; der Großvater sieht zum ersten Mal das Gesicht der Großmutter Naseem Ghani / Aziz (Tod des Urgroßvaters und der Urgroßmutter)
Winter 1918/-19 Tai wird krank
6. April 1919 Gandhi „verfügt“ Generalstreik (42) Amritsar
~1921 Alia geb. (erste Tochter)
~1923 Mumtaz geb.(zweite Tochter)
~1924 Hanif geb.
~1926 Mustapha geb.
~1927 Emerald geb. (dritte Tochter)
1932 der Großvater übernimmt die Aufsicht über die Erziehung seiner Kinder (54)
1942 (Zeitsprung) „Daß sich mein Großvater, Dr. Adam Aziz, sich im Spätsommer dieses Jahres eine höchst gefährliche Form von Optimismus zuzog.“ (50)

„Gründung des Zusammenschlusses Freier Islam“ durch Mian Abdullah (der Kolibri) (51)

Agra
Januar 1945 Vorbereitungen für die Unabhängigkeit (85)
Amina (Mumtaz) und Ahmed Sinai in Delhi (85 ff)
Ankündigung der Geburt des Erzählers
antimoslemische Pogrome in Delhi
Delhi (Haus in der Cornwallis Road)
6. August 1945 „alles änderte sich“ (77)

Tod der Rani von Cooch Naheen

6. August (78): Mumtaz nach zwei Jahren Ehe noch Jungfrau → Scheidung von Nadir, Verrat Emeralds
Januar 1946 Hochzeit Emerald-Zulfikar

Mumtaz spannt Alia Ahmed Sinai aus (83), nennt sich in Amina um (84)

Januar 1947 antimoslemische Brandanschläge, Pogromstimmung

öffentliche Ankündigung der Geburt des Erzählers bei der Rettung des Guckkastenmanns durch die Mutter (102) „Meine Verkündigung rettete ein Leben.“ (102)

im mosl. Viertel (Muhalla)
4. Juni 1947 Reise der Eltern nach Bombay

Earl Mountbatten verkündet die Teilung Indiens Zusammenfassung des bisherigen Beginn des Countdowns (121)

Delhi → Bombay
19. Juni 1947 Kauf eines Hauses von William Methwold Bombay
15. Aug. 1947 Geburt Saleem Sinais

Indiens Unabhängigkeit
Vertauschung der Kinder
Tod der leiblichen Mutter

Bombay
1956 Saleems Gespensterspiel mit dem Laken
~1978 „Nun läuft jedoch die Zeit ab (da sie keine weitere Verwendung für mich hat). Ich werde bald einunddreißig Jahre alt. Vielleicht.“

„Vision meines Großvaters vor dreiundsechzig Jahren.“ (23)

Literatur

  • Salman Rushdie: Midnight’s Children. 1981
  • Salman Rushdie: Mitternachtskinder.
  • Batty, Nancy E.: The Art of Suspense. Rushdie’s 1001 (Mid-)Nights. In: Fletcher, M.D. (ed.) Reading Rushdie. Perspectives on the fiction of Salman Rushdie. Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1994. 69–81.
  • Harrison, James. Salman Rushdie. New York: Macmillan 1992.
  • Juan-Navarro, Santiago: “The Dialogic Imagination of Salman Rushdie and Carlos Fuentes: National Allegories and the Scene of Writing in Midnight's Children and Cristóbal Nonato.” Neohelicon 20.2 (1993): 257-312. [1]
  • Petersson, Margareta: Unending Metamorphoses. Myth, Satire and Religion in Salman Rushdie’s Novels. Lund: Lund University Press 1996.
  • Wilson, Keith: Mitternachtskinder and Reader Responsibility. In: Fletcher, M.D. (ed.) Reading Rushdie. Perspectives on the fiction of Salman Rushdie. Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1994. 55–67.

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