Progressive multifokale Leukoenzephalopathie

Progressive multifokale Leukoenzephalopathie
Klassifikation nach ICD-10
A81.2 Progressive multifokale Leukenzephalopathie
ICD-10 online (WHO-Version 2006)

Die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) ist eine Erkrankung des Zentralen Nervensystems, die durch das zur Gattung der Polyomaviren gehörende JC-Virus verursacht wird. Der Name des Virus leitet sich von den Initialen des Patienten ab, bei dem es erstmals isoliert wurde. Die Erkrankung kommt fast ausschließlich bei schwer abwehrgeschwächten Personen vor. Es handelt sich um eine akute, progrediente Krankheit, bei der zahlreiche funktionelle Veränderungen des Nervensystems, beispielsweise motorische und kognitive Störungen, auftreten können.

Inhaltsverzeichnis

Epidemiologie

Die seltene Krankheit tritt fast ausschließlich bei abwehrgeschwächten Personen auf, die einen erheblichen Defekt der T-Zellimmunität aufweisen. Gesunde oder immunkompetente Personen oder Patienten mit einem Defekt lediglich des humoralen Abwehrsystems (Antikörper und Komplementsystem) erkranken in der Regel nicht an einer PML, trotz einer sehr hohen Durchseuchungsrate von über 80% und einer lebenslangen Persistenz.[1] Patienten mit T-Zell-Immunschwäche leiden entweder an Erkrankungen des Immunsystems oder es handelt sich um iatrogen herbeigeführte Abwehrstörungen, die entweder als Nebenwirkung oder als gewünschte Wirkung von Medikamenten auftreten, beispielsweise im Rahmen einer Immunsuppression nach Organtransplantationen, oder zur Behandlung von Autoimmunerkrankungen (Immunsuppressiva) und Tumoren (Chemotherapie). Gehäuft tritt eine PML nach Knochenmark-Transplantation auf.

Der überwiegende Teil der PML-Fälle tritt im Rahmen des erworbenen Immundefektsyndroms (AIDS) im Stadium C3 auf. Etwa 80-90% der PML-Patienten sind gleichfalls an AIDS erkrankt.[2]. 1980 betrug die Prävalenz der PML bei AIDS noch über 5%[3], scheint aber seitdem kontinuierlich zu sinken. Die Hauptursache hierfür dürfte die inzwischen weitverbreitete Hochaktive antiretrovirale Therapie (HAART) sein.[4]

Seltener tritt die Erkrankung im Rahmen von Tumoren des lymphoretikulären Systems auf, vor allem beim Morbus Hodgkin, sowie bei chronisch entzündlichen Erkrankungen und bei Patienten mit Zustand nach Organtransplantation. Die Erkrankung wurde auch als Nebenwirkung von auf das Immunsystem wirkenden Medikamenten beschrieben (z. B. bei Natalizumab, Rituximab oder Efalizumab).[5][6][7]

Pathogenese und Pathologie

Immunhistochemischer Nachweis von JC-Virusprotein (braun angefärbt) in einer Hirnbiopsie.

Es handelt sich bei der Erkrankung um eine Reinfektion durch Reaktivierung des JC-Virus. Die Erst- oder Primärinfektion mit dem Virus verläuft nach dem aktuellen Kenntnisstand immer asymptomatisch. Die Durchseuchung beginnt bereits im Kindesalter und erreicht bei Erwachsenen eine Durchseuchungsrate von über 80%.[1]

Das JC-Virus gelangt bei T-Zell-Immungeschwächten wahrscheinlich vom Ort seiner Persistenz (möglicherweise Nierengewebe und/oder Knochenmark) über Leukozyten in das zentrale Nervensystem und repliziert in der weißen Substanz im Großhirn, im Hirnstamm, im Kleinhirn (Zerebellum) und im Rückenmark. Es handelt sich um eine Entmarkungskrankheit (Demyelinisierungskrankheit), das heißt, die Oligodendrozyten der Nervenscheiden (Myelinscheiden), die die Nervenfortsätze (Axone) umhüllen werden befallen und degenerieren. Da die graue Substanz hauptsächlich aus den Nervenzellen besteht und nur zu einem geringen Anteil aus Axonen, ist selbige von der Infektion fast nicht betroffen. Histologisch handelt es sich um eine entzündliche Entmarkung. Insbesondere die ausgeprägte Polymorphie der infizierten Gliazellen ist typisch. Die neuropathologische Diagnose wird durch den Nachweis von JC-Virus-Protein in der Immmunhistochemie oder den Nachweis von JC-Virus-Genom in der in-situ-Hybridisierung bestätigt.

Symptome

Die Symptome der PML richten sich nach der Lokalisation der Entmarkungsherde im zentralen Nervensystem. Wenn diese beispielsweise im Sprachzentrum liegen, kommt es zu Sprachstörungen (Aphasie), wenn die sensiblen Bahnen betroffen sind, zu Gefühlsstörungen, wenn die motorischen Bahnen betroffen sind, zu motorischen Ausfällen in Form von feinmotorischen Störungen oder Lähmungen. Ist die Sehbahn betroffen kommt es zu Gesichtsfeldausfällen (z. B. Hemianopsie). Im weiteren Verlauf der Erkrankung kann es zu kognitiven Störungen, Konzentrationsstörungen, Verwirrtheit bis hin zur Demenz. Auch epileptische Anfälle (Krampfanfälle) können im Krankheitsverlauf auftreten.

Diagnose

Eine relativ sichere Diagnose ist nur durch den Nachweis der Virus-DNA im Liquor cerebrospinalis möglich. Der Nachweis des Virus im Urin lässt keinen Zusammenhang mit der Erkrankung zu, da etwa 20% der Bevölkerung das Virus dauerhaft ausscheiden. Die relativ unspezifischen Demyelinisierungsherde, die mit einer Magnetresonanztomografie (MRT, Kernspintomografie) nachgewiesen werden können, können einen Beitrag zur Verdachtsdiagnose leisten. Die Herde stellen sich bei T1-Gewichtung hypointens dar und nehmen kein Kontrastmittel auf. Das Virus kann auch elektronenmikroskopisch in Hirngewebe nachgewiesen werden.

Differentialdiagnose

Vor dem Verdacht einer PML im Rahmen von AIDS müssen zunächst die häufigeren Enzephalitiden durch Toxoplasmose, Kryptokokkose und eine HIV-Enzephalopathie ausgeschlossen werden. Bei Verdacht auf PML im Rahmen einer Behandlung mit Natalizumab bei Multipler Sklerose stellt ein MS-Schub die hauptsächliche Differentialdiagnose dar.

Therapie

Die momentan effektivste Behandlung der PML sind Maßnahmen zur Wiederherstellung der Immunkompetenz:

  • Bei AIDS-Patienten konnte die Sterblichkeit und die Schwere der Erkrankung durch eine hochdosierte antiretrovirale Therapie (HAART) reduziert werden, da die Zahl der T-Zellen im Zuge einer solchen Behandlung wieder steigt.[8]
  • Bei Patienten, die eine immunsuppressive Therapie erhalten, sollte diese Behandlung ausgesetzt werden. Bei Arzneimitteln mit langer biologischer Wirkung werden Maßnahmen zur Entfernung des Arzneimittels empfohlen.[9]
  • Bei Patienten, die aufgrund einer Organtransplantation mit immunsuppressiven Medikamenten behandelt werden, muss unter Umständen das transplantierte Organ entfernt werden.

Eine medikamentöse Behandlung der PML konnte bislang nicht etabliert werden. Für zahlreiche Medikamente existierten Einzelfallberichte oder kleine Fallserien, die zunächst zur Hoffnung Anlass gaben (z. B. Foscarnet, Cytosin-Arabinosid, Cidofovir, Interferon, Kortison). Überprüfungen dieser Behandlungen an größeren Patientenkollektiven verlief bislang aber enttäuschend.[9]

Prognose

Die Prognose ist schlecht. Wenn durch die Behandlung die Funktion des Immunsystems nicht adäquat verbessert werden kann, tritt innerhalb von durchschnittlich 3-20 Monaten der Tod ein.

Literatur

  • K. Poeck, W. Hacke: Neurologie. Springer-Verlag 2006, 12. Auflage. ISBN 3-540-29997-1

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Weber T et al.: Analysis of the systemic and intrathecal humoral immune response in progressive multifocal leukoencephalopathy. J Infect Dis 1997;176:250-4. PMID 9207375
  2. Koralnik IJ et al.:Case records of the Massachusetts General Hospital. Weekly clinicopathological exercises. Case 14-2004. A 66-year-old man with progressive neurologic deficits. N Engl J Med 2004;350:1882-93. PMID 15115835
  3. Berger JR et al.: Progressive multifocal leukoencephalopathy associated with human immunodeficiency virus infection. A review of the literature with a report of sixteen cases. Ann Intern Med 1987;107:78-87. PMID 3296901
  4. Sacktor N: The epidemiology of human immunodeficiency virus-associated neurological disease in the era of highly active antiretroviral therapy. J Neurovirol 2002;8 (Suppl 2):115-21. PMID 12491162
  5. Yousry TA, Major EO, Ryschkewitsch C et al. Evaluation of patients treated with natalizumab for progressive multifocal leukoencephalopathy. N Engl J Med 2006;354:924-33. PMID 16510746
  6. US Food and Drug Administration. Information for Healthcare Professionals. Rituximab (marketed as Rituxan) Information. Zugegriffen am 17. September 2008.
  7. http://www.arznei-telegramm.de/blitz-pdf/b090220.pdf
  8. Albrecht H, Hoffmann C, Degen O et al. Highly active antiretroviral therapy significantly improves the prognosis of patients with HIV-associated progressive multifocal leukoencephalopathy. AIDS. 1998;12:1149-54. PMID 9677163
  9. a b Stüve O, Marra CM, Cravens PD et al. Potential risk of progressive multifocal leukoencephalopathy with natalizumab therapy: possible interventions. Arch Neurol. 2007;64:169-76. PMID 17296831
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