Ringelblum

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Emanuel Ringelblum

Emanuel Ringelblum (* 12. November 1900 in Buczacz in Ostgalizien; † März 1944 in Warschau) war ein polnisch-jüdischer Historiker, Politiker, Pädagoge und Publizist, der unter der deutschen Herrschaft im Generalgouvernement das Untergrundarchiv Oneg Szabat (weitere Schreibweisen: Oneg Schabbat oder Oneg Shabbat oder Oyneg Shabbes) des Warschauer Ghettos aufbaute und leitete.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Emanuel Ringelblum wurde am 21. November 1900 in Buczacz als Sohn eines Lehrers im damals österreichischen Galizien geboren. Diese Stadt liegt heute in der westlichen Ukraine in der Oblast Ternopil. Kindheit und Jugend verbrachte er in Nowy Sącz. Als Halbwaise - seine Mutter starb, als er zwölf Jahre alt war - musste sich Emanuel seine Ausbildung hart erarbeiten - ständig unterernährt vor allem als Nachhilfelehrer. Er studierte ab 1922 an der Philosophischen Fakultät der Warschauer Universität und promovierte dort 1927 mit der Dissertation "Die Juden in Warschau von den Anfängen bis zum Jahr 1527" (Zydzi w Warszawie od czasów najdawniejszych do roku 1527). Mit dieser bahnbrechenden Arbeit über die Geschichte der Warschauer Juden, die 1932 gedruckt wurde, war die Richtung seiner wissenschaftlichen Laufbahn bestimmt - vom Beginn der jüdischen Ansiedlung in Warschau bis zu deren fast vollständiger Vernichtung 1943. Besonders interessierten den jungen Ringelblum allgemeine soziale Fragen sowie die spezifisch jüdischen Nationalitätenprobleme - Probleme, die auch in seiner Geschichtsschreibung und Dokumentation des jüdischen Alltagslebens in Warschau, wie es sich später auch im Untergrundarchiv "Oneg Schabbat" ("Freude am Schabbat") widerspiegeln sollte - dem letzten Werk Ringelblums.

In den politisch bewegten Jahren der jungen Republik Polen trat er der linkszionistischen Partei Linke Poale Zion bei und wurde schnell zu einem ihrer führenden Vertreter. Er propagierte einen proletarischen Palästinismus, der die Gründung eines sozialistischen jüdischen Territoriums in Palästina anstrebte - auch wenn dieses Projekt für ihn ein weit entfernter Zukunftstraum war. Die Grundlage sollte ein friedliches, gleichberechtigtes Zusammenleben der Einwanderer mit der arabischen Bevölkerung sein. An letzterem Punkt traf er sich mit ähnlichen Gedanken Hannah Arendts. Angesichts der sich abzeichnenden Katastrophe wies Ringelblum den Gedanken an Emigration weit von sich und bemühte sich stattdessen intensiv mit den Problemen der jüdischen Gemeinschaft in Polen - theoretisch wie praktisch.

Mehrere Jahre arbeitete er als Geschichtslehrer an jüdischen Schulen, und bald begann er auch seine Mitarbeit am 1925 gegründeten "Jidischer Wisnschaftlecher Institut" (YIVO) in Wilna, einem Zentrum zur soziologischen und sprachwissenschaftlichen Erforschung der jiddischen Sprache. Schon hier lernte Ringelblum den Umgang auch mit der Konspiration, ging das YIVO doch in seinen Wurzeln bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück, als die Grundlagen der modernen jüdischen Wissenschaft im Verborgenen konspirativer Arbeiterzirkel begonnen hatte (Max Weinreich). Dabei arbeitete das YIVO nicht allein sprachwissenschaftlich, sondern widmete sich insbesondere auch dem Grenzbereich zwischen Geschichte, Ökonomie, Soziologie und Ethnographie, wobei mit nichtprofessionellen Interviewern das Alltagsleben der Menschen erforscht werden sollte - diese Methode wandten Ringelblum und seine Mitarbeiter später im Warschauer Ghetto an. Weiterhin gehörte Ringelblum auch zu den Mitbegründern eines Kreises junger Historiker im Jüdischen Studentenheim in Warschau, dessen Arbeit als "Seminar zur Geschichte der Juden in Polen" bekannt wurde und aus dem 1929 die dem Wilnaer YIVO angeschlossene Warschauer Kommission für die Geschichte der Juden in Polen hervorging. Die Resultate dieser Arbeit konnte Ringelblum später erfolgreich für seine Lehrpraxis im Geschichtsunterricht der Centrale Jidische Schul Organisatzie (CYSHO)umsetzen - die CYSHO war eine Initiative jüdischer Schulen zur Verbreitung der jiddischen Unterrichtssprache vor dem Hintergrund laizistischer, sozialistischer Orientierung, für die Ringelblum lebenslang kämpfte. Gleichzeitig aber engagierte sich Ringelblum auch für ein Geschichtsbild, das die Juden als integrativen Bestandteil der polnischen Geschichte ansah. 1933 organisierte Ringelblum die Teilnahmen des YIVO am 7. Internationalen Kongress der Historischen Geschichtswissenschaften in Warschau, wo er sein Referat über "Die soziale und wirtschaftliche Situation der polnischen Juden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts" vortrug.

1938 wurde Ringelblum als Vertreter des Joint Distribution Committee in das Auffanglager Zbąszyń (bis 1918: Bentschen) an der Grenze zu Deutschland geschickt, um die Ende Oktober 1938 dorthin vertriebenen, etwa noch 6000 polnischen Juden karitativ zu betreuen.

Später lebte er im Warschauer Ghetto. Marcel Reich-Ranicki, der im November 1940 zur Umsiedlung in das Warschauer Ghetto gezwungen worden war, arbeitete dort bei dem von den Nationalsozialisten eingesetzten Judenrat als Übersetzer und auf besondere Anforderung für den „Obmann“ des Rates Adam Czerniakow. Gleichzeitig war er Mitarbeiter des Ghetto-Untergrundarchivs des Emanuel Ringelblum. In seiner Autobiographie beschreibt Reich-Ranicki seine Arbeit für Ringelblum und den Eindruck, den dieser auf ihn gemacht hat. Im Archiv wurde alles gesammelt, was das Leben im Ghetto dokumentieren konnte. Daraus sollten künftige Historiker Nutzen ziehen. Auf Grund dieser Materialien wurden auch Berichte für die polnische Untergrundbewegung und für die polnische Exilregierung in London verfasst. Insbesondere der Briefwechsel des „Judenrates“ mit den deutschen Behörden war für das Archiv von großer Bedeutung. Reich-Ranicki schreibt, dass er von allen wichtigeren Briefen und Berichten Kopien anfertigen und sie einem der Mitarbeiter Ringelblums im Sekretariat des "Judenrates" auszuhändigen hatte.[1]

Emanuel Ringelblum wurde am 7. März 1944 mit seiner Frau, seinem kleinen Sohn und anderen Untergetauchten in seinem Versteck aufgestöbert. Einige Tage später wurden alle, zusammen mit den polnischen Beschützern, im Warschauer Pawiak-Gefängnis von Deutschen erschossen.

Das Ringelblum-Archiv (Oneg Schabbat)

Am 22. Juli 1942 begann die Große Aussiedlung der Warschauer Juden in das Vernichtungslager Treblinka. Anfang August sicherten die Mitarbeiter des Untergrundarchivs ihre wertvollen Bestände: Zehn wasserdichte Metallkisten für Dokumente wurden angefertigt und im Keller einer ehemaligen Schule im Ghetto eingemauert. Ein mithelfender 18jähriger Schüler schrieb noch rasch seinen Lebenslauf und sein Vermächtnis:

Ich möchte den Augenblick erleben, wenn die Schätze, die wir hier verstecken, ausgegraben werden und die Welt die ganze Wahrheit erfährt. Glücklich sei, wem das Schicksal diese Leiden erspart hat! Und wir werden uns fühlen wie Veteranen mit Orden auf der Brust, wie die Weisen, die in die Zukunft schauen.

Nach der Befreiung begannen überlebende Mitarbeiter Ringelblums mit der Suche nach dem verborgenen Untergrund-Archiv. Im September 1946 wurden die zehn Blechkisten mit 1208 Archivalien tief unter den Trümmern des Hauses wiedergefunden. Im Dezember 1950 wurden bei einer weiteren Suchaktion zwei große Milchkannen mit 484 Archivalien geborgen. Von der dritten Abteilung des Archivs fanden sich an anderer Stelle nur eine Anzahl halbzerstörter Blätter. Der vierte und letzte Teil mit Ringelblums letzten Arbeiten aus den Jahren 1943 und 1944 war noch während des Kriegs bei polnischen Freunden versteckt worden und wurde später an das Museum der Ghettokämpfer im Kibbuz Lochamej haGeta’ot (Israel) abgegeben. Die Sammlung Oneg Shabbat wird im Jüdischen Historischen Institut in Warschau aufbewahrt. Sie umfasst 1.680 Archivposten mit etwa 25.000 Seiten.

Eine umfassende Edition der Dokumente des Ringelblum-Archivs ist in Arbeit. Der Name Oneg Schabbat bedeutet „Sabbath-Freude“, er war ein Tarnname und sollte vielleicht auch unter Ghetto-Bedingungen Überlebensmut aufrecht erhalten.

Werke

  • Emanuel Ringelblums Dissertation (1927): Zydzi w Warszawie od czasów najdawniejszych do roku 1527. (poln; dt: Die Juden in Warschau von den Anfängen bis zum Jahr 1527)
  • Emanuel Ringelblum: Notes from the Warsaw Ghetto, New York, 1958. Polen. Ausgabe mit Einl. von Artur Eisenbach. Warszawa, 1988
  • Emanuel Ringelblum, Joseph Kermish, Shmuel Krakowski. Übersetzt von Danuta Dabrowska, Dana Keren: Polish-Jewish Relations During the Second World War. Northwestern University Press, 1992, 330 Seiten. ISBN 0810109638, ISBN 9780810109636 (engl.; Auszüge)

Literatur

  • Shimon Huberband, Kiddush Hashem: Jewish Religous and Cultural Life in Poland during the Holocaust. New York, 1987
  • Joseph Kermish (Hrsg.): To Live with Honor and Die with Honor. Selected Documents from the Warsaw Ghetto Underground Archives „O.S.“ („Oneg Shabbath“). Yad Vashem, Jerusalem, 1986
  • Ruta Sakowska: Die zweite Etappe ist der Tod. NS-Ausrottungspolitik gegen die polnischen Juden, gesehen mit den Augen der Opfer. Ein historischer Essay und ausgewählte Dokumente aus dem Ringelblum-Archiv 1941–1943. Edition Hentrich, Berlin, 1993, ISBN 3894680776.
  • dieselbe: Menschen im Ghetto. Die jüdische Bevölkerung im besetzten Warschau 1939–1943 Fibre-Verlag, Osnabrück, 1999, ISBN 3929759373
  • dieselbe: Archiwum Ringelbluma. Getto warszawskie lipiec 1942 - styczen 1943, Warszawa, 1980.
  • Oneg Schabbat. Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos Ausstellungskatalog. (deutsch – erhältlich über die Aussteller, s. Weblinks, 111 S., viele Bilder, Dokumente, Namensverzeichnis), ISBN 83-85888-72-1
  • A Commemorative Symposium in Honour of Dr. Emanuel Ringelblum and His „Oneg Shabbat“ Underground Archives Jerusalem: Yad Vashem, 1983 (79 S.)

Einzelnachweise

  1. Marcel Reich-Ranicki: Autobiographie Mein Leben, S. 215, 216

Weblinks


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