Sibirien-Meteorit

Sibirien-Meteorit
Waldschäden durch das Tunguska-Ereignis (Foto aus dem Jahr 1927)

Als Tunguska-Ereignis bezeichnet man eine Explosion, die sich am 30. Juni 1908 in Sibirien in der Nähe des Flusses Steinige Tunguska (Podkamennaja Tunguska) im Siedlungsgebiet der Ewenken ereignete, dem damaligen Gouvernement Jenissei und der heutigen Region Krasnojarsk. Der Grund für diese Explosion wurde bisher nicht zweifelsfrei geklärt, wobei als wahrscheinlichste Ursache der Eintritt eines Asteroiden oder eines Kometen in die Erdatmosphäre angenommen wird.

Inhaltsverzeichnis

Ablauf

Ort des Tunguska-Ereignisses

Die meisten Augenzeugen berichten von einer Explosion am 17. Junijul./ 30. Juni 1908greg. gegen 7:15 Uhr, einige jedoch auch von mehreren, so wird berichtet, dass das Phänomen eine Zeit lang andauerte. Bei dem Ereignis wurden Bäume bis in etwa 30 Kilometer Entfernung entwurzelt und Fenster und Türen in der 65 Kilometer entfernten Handelssiedlung Wanawara eingedrückt. Es wird geschätzt, dass auf einem Gebiet von über 2000 km² rund 60 Millionen Bäume umgeknickt wurden.[1] Noch in über 500 Kilometern Entfernung wurden ein heller Feuerschein, eine starke Erschütterung, eine Druckwelle und ein Donnergeräusch wahrgenommen, unter anderem von Reisenden der Transsibirischen Eisenbahn. Aufgrund der dünnen Besiedlung des Gebietes gab es nur wenige Personenschäden.

Der russische Mineraloge Leonid Kulik sammelte auf einer Expedition von 1921 bis 1922 erste Informationen, gelangte aber nur bis Kansk in 600 Kilometern Entfernung vom Explosionsort. Erst 1927 konnte eine Expedition unter Kulik bis zum verwüsteten Bereich vordringen, 1938 veranlasste er Luftbildaufnahmen der Region.

Die Koordinate des vermuteten „Epizentrums“, ermittelt aus den Richtungen, in die die Bäume umstürzten, ist 60° 53′ 9″ N, 101° 53′ 40″ O60.885833333333101.894444444447Koordinaten: 60° 53′ 9″ N, 101° 53′ 40″ O[2] (andere Angabe: 60° 53′ 11″ N, 101° 55′ 11″ O60.886388888889101.919722222227[3]), die Höhe des Ereignisses über der Erdoberfläche wird auf 5 bis 14 Kilometer geschätzt. Die seismischen und barometrischen Aufzeichnungen ergaben einen Zeitpunkt um etwa 0:14 Uhr Weltzeit (7:14 Uhr Ortszeit).

Stärke

Eine Explosion mit einer Sprengkraft von 10 bis 15 Megatonnen TNT wäre nötig, um ein ähnliches Bild zu erzeugen. Dies entspricht etwa der 1150-fachen Sprengkraft der Atombombe „Little Boy“, welche die USA 1945 über Hiroshima abgeworfen haben. Manche Schätzungen gehen sogar von bis zu 50 Megatonnen TNT aus. Dies wäre dann nahezu ein Wert, wie ihn die Explosion der stärksten jemals gezündeten Wasserstoffbombe, der „Zar-Bombe“, freisetzte. Nach den Ergebnissen von Computersimulationen an den Sandia National Laboratories in Albuquerque (New Mexico, USA) durch Mark Boslough und David Crawford 2007 könnte die Sprengkraft lediglich ein Viertel dessen betragen haben, also etwa 2 bis 4 Megatonnen TNT.[4] Grund dafür ist ein mächtiger heißer Luftstrahl, der nach der Explosion eines Kometen in der Höhe dessen Weg zum Boden fortsetzt und dort eine stärkere Druckwelle und höhere Temperaturen hervorruft.

Theorien

Einschlagtheorien

Die Ursache des Ereignisses ist bis heute ungeklärt[5]. Als am wahrscheinlichsten gilt der Eintritt eines Steinasteroiden oder Kometen von geringer Dichte[6][7][8] und einem Durchmesser von 30 bis 80 Metern, der etwa fünf bis vierzehn Kilometer über dem Boden explodierte und daher keinen Krater verursachte.

Modellrechnungen ergaben jedoch, dass Kometen bereits weiter oben in der Atmosphäre „verpuffen“. Eisenmeteoroide gelangen im Gegensatz zu Steinmeteoroiden beim Durchfliegen der Erdatmosphäre unversehrter und häufiger bis zur Erdoberfläche. Sie können zwar zerfallen, rufen jedoch keine derart explosionsartige Erscheinung hervor.

Bis heute wurden keine makroskopischen Bruchstücke eines eingeschlagenen Himmelskörpers (Impaktors) gefunden. Eine kleinere Vertiefung wurde von Kulik als Krater gedeutet, was sich allerdings nicht bestätigt hat. Die Suche nach mikroskopischen staubförmigen Überbleibseln des Impaktors oder chemischen und isotopischen Anomalien, wie bei Eintritt außerirdischen Materials zu erwarten, war bisher wenig erfolgreich. Gefunden wurden mikroskopisch kleine Partikel, Diamantstaub, Graphitsplitter, geschmolzene Eisen- und Nickelkörnchen. Nach theoretischen Abschätzungen der möglichen Bahnen des Tunguska-Boliden[9] ist ein Steinasteroid am wahrscheinlichsten, obwohl auch hier ein Komet nicht vollständig ausgeschlossen wird. Die Ergebnisse einer Tunguska-Expedition von 1999 unterstützen die Ansicht vom Meteoriteneinschlag.

Im Juni 2007 veröffentlichte eine italienische Forschergruppe nach einer Expedition unter Leitung des Meeresgeologen L. Gasperini in der Online-Zeitschrift Terra Nova ihre Vermutung, dass es sich beim Tscheko-See 60° 57′ 50″ N, 101° 51′ 36″ O60.963888888889101.867 um den Krater eines Impaktors handle. Der See liegt ca. 8 Kilometer nördlich des Epizentrums und könnte von einem Bruchstück des ursprünglichen Boliden herrühren.[10][11][12]

Nur wenige Stunden nach dem Tunguska-Ereignis wurde in einem ukrainischen Dorf in der Umgebung von Kiew ein Meteoritenfall beobachtet. Zwischen dem aufgefundenen Meteoriten (L6-Chondrit von 1,9 kg, nach seinem Fundort Kagarlyk benannt) und dem Tunguska-Ereignis wurde wegen des ansonsten unwahrscheinlichen zeitlichen Aufeinandertreffens ein Zusammenhang vorgeschlagen.[13] Messungen des Bestrahlungsalters von Kagarlyk[14] ergaben jedoch einen für L6-Chondrite sehr typischen Wert von 16,2 Millionen Jahren. Demnach ist es unwahrscheinlich, dass Kagarlyk sich erst kurz vor der Explosion vom Tunguska-Objekt abgespalten hat, wie Steel[13] angenommen hatte; Kagarlyk scheint eher die gleiche Herkunft zu haben wie die anderen L6-Chondrite.

Geophysikalische Theorien

Neben der Einschlaghypothese wurden auch alternative Theorien vorgeschlagen. Der russische Wissenschaftler Andrei Olchowatow favorisierte Ende der 1980er Jahre eine rein geophysikalische Deutung des Tunguska-Ereignisses.[15] Ihm folgte der deutsche Astrophysiker Wolfgang Kundt, der die These vertrat, dass es sich um einen vulkanähnlichen Ausbruch gehandelt habe[16]. Demnach wäre das Ereignis als Explosion von 10 Millionen Tonnen Erdgas zu erklären, das über Risse aus einem unterirdischen natürlichen Erdgaslager unter hohem Druck entwich, bis in hohe Atmosphärenschichten aufstieg, sich dabei entzündete und in einer Flammenfront bis hinunter zur Austrittsstelle abbrannte[17]. Dies würde die von Zeugen berichteten verschiedenen Bewegungsrichtungen der hellen Leuchterscheinung erklären. Auch ein leichtes Erdbeben und merkwürdige atmosphärische Leuchterscheinungen, die in den Tagen vor der Explosion beobachtet wurden, könnten damit in Zusammenhang stehen.

Allerdings kann diese Theorie nicht so leicht die Helligkeit der Explosion erklären, da die Leuchtdichte eines in Luftsauerstoff brennenden Gases kaum größer als die einer Kerzenflamme ist und auch keine derart intensive Wärmestrahlung aussendet, wie sie tatsächlich von vielen Menschen wahrgenommen wurde. Daher erfordert eine Gasverbrennung ein sehr großes Flammenvolumen, um im 65 Kilometer entfernten Wanawara die beobachtete Licht- und Wärmestrahlung zu erklären.

Außenseitertheorien

Nachdem es auch nach hundert Jahren keine gesicherte Erklärung zur Ursache gibt, existieren heute ca. 120 verschiedene Hypothesen, darunter auch einige exotische Spekulationen, die keine wissenschaftliche Anerkennung gefunden haben. So wurden unter anderem der Einschlag eines kleinen Schwarzen Loches, der Absturz eines extraterrestrischen Raumschiffes oder der Kontakt mit Antimaterie für das Ereignis verantwortlich gemacht.

Darstellung in verschiedenen Medien

Romane

  • 1951: Stanisław Lem verarbeitete das Tunguska-Ereignis in seinem Roman Die Astronauten. Er schildert die Explosion eines Raumschiffs, das von einer auf der Venus beheimateten Zivilisation stammt.
  • 1965: Die Brüder Strugazki stellten im Buch „Der Montag fängt am Samstag an“ eine humorvolle phantastische These auf, dass das Tunguska-Ereignis von einem „kontramoten“ Raumschiff verursacht wurde, das auf der Zeitachse rückwärts reist: es landete auf der Erde, entzündete beim Landen die Taiga und wanderte dann weiter durch die Zeit zurück, so dass keine Spuren an der Brandstelle zurückblieben.
  • 1996: In dem Roman Rückkehr der Zauberer von Wolfgang Hohlbein dient das Ereignis als Aufhänger.
  • 2000: Erde ist ein Science-Fiction-Roman des Physikers David Brin – das Tunguska-Ereignis wird hier als Einschlag eines mikroskopisch kleinen Schwarzen Lochs gedeutet, welches nun im Innern der Erde heranwächst.
  • 2002: Ljod. Das Eis und dessen Fortsetzung Bro (2004) sind Romane von Wladimir Sorokin, die das Ereignis behandeln.
  • 2005: Just in Time - Das Portal von Peter Schwindt stellt den Vorfall als Antimaterieexplosion, verursacht durch Zeitreisende des Jahres 2385, dar.
  • 2007: In dem Roman Ghost Dancer (UK - The Dance of Death) von dem Pseudonym John Case, wird das Ereignis als Folge eines missglückten Experimentes von Nikola Tesla dargestellt.
  • 2008: In dem im April 2008 erschienenen Roman Gegen den Tag von Thomas Pynchon (Original 2007 „Against the Day“) spielt das Ereignis eine wichtige Rolle.
  • 2008: Martina André behandelt in ihrem dritten Roman Schamanenfeuer das Tunguska-Ereignis.

Comics

  • 1997: In dem italienischen Disneycomic Indiana Pipps e l'avventura siberiana (Der Grosse Knall) von Bruno Sarda und Massimo de Vita mit Micky Maus und Indiana Goof verursacht ein Botaniker das Tunguska-Ereignis beim Versuch, die Materie von Lebensmitteln mit Hilfe alchimistischer Aufzeichnungen zu vergrößern.

Musik

  • 1979: Isao Tomita veröffentlichte sein Album „The Bermuda Triangle“ („Das Bermudadreieck“), darin eine Bearbeitung des ersten Satzes der 6. Sinfonie von Sergei Prokofjew unter dem Titel „The Dazzling Bright Cylindrical Object Which Had Crashed Into Tunguska, Siberia“ („Das überwältigende helle zylindrische Objekt, das in Tunguska, Sibirien, abgestürzt ist“).
  • 2004: Alan Parsons widmete dem Ereignis das Stück Return to Tunguska auf dem Album A Valid Path.
  • 2008: Das Tunguska-Ereignis nimmt zusammen mit Mysterien um den Marsmond Phobos eine zentrale Rolle in dem Konzeptalbum Warring Factions der norwegischen Progressive-Metal-Band Ansur ein.
  • 2008: Metallica veröffentlichen ihr Album Death Magnetic. In dem Video zur zweiten Single-Auskopplung All Nightmare Long spielt das Tunguska-Ereignis eine zentrale Rolle.

Medien

  • 1980: In der Wissenschafts-Doku-Fernsehserie Unser Kosmos thematisierte der Astrophysiker Carl Sagan u. a. das Tunguska-Ereignis und versuchte dieses durch den Eintritt eines Kometensplitters in die Erdatmosphäre zu erklären.
  • 1984: Im Film Ghostbusters – Die Geisterjäger wurde in der Schlussszene das Tunguska-Ereignis als „Tunguska-Sprengung“ erwähnt.
  • 1996: Tunguska ist der Titel einer Doppelepisode der Fernsehserie Akte X. Hierbei beherbergt der niedergegangene Meteorit eine aus einer schwarzen Flüssigkeit bestehende außerirdische Lebensform (deutsch "schwarzer Krebs" genannt, englisch "black oil"), die in den menschlichen Körper eindringt und sich an die Zirbeldrüse hängt. In der Nähe des Einschlagortes befindet sich in der Folge ein geheimes Lager, in dem an Gefangenen ein Gegenmittel gegen den Organismus ausprobiert wird.
  • 2004: Im Film Hellboy wird der Tunguska-Vorfall durch ein von den „Ogdru-Jahad“ gesandtes „Portal zur Höllendimension“ erklärt, das „einfach vom Himmel fiel“.
  • 2009: In der Fernsehserie History des ZDF werden die bisherigen Forschungsergebnisse und Erklärungsversuche zum Tunguska-Ereignis umfassend dargestellt.

Spiele

  • 2006: Geheimakte Tunguska ist der Titel eines Computerspiels.
  • 2006: Im Ego-Shooter Resistance: Fall of Man: Der Tunguska-Meteorit könnte die Ursache des „Chimera-Virus“ sein.
  • 2007: Im Spiel Assassin's Creed sollen Assassinen für dieses Ereignis verantwortlich gewesen sein, die Templer suchen nun nach Überlebenden, um diese zerstörerische Technologie rekonstruieren zu können.

Einzelnachweise

  1. Nature, Vol. 440, 23. März 2006, S. 390; doi:10.1038/440390a
  2. V. G. Fast: Statisticheskij analiz parametrov Tungusskogo vyvala, in Problema Tungusskogo meteorita, part 2, Izdatelstvo Tomskogo Universiteta, Tomsk 1967, S. 40–61
  3. A. V. Zolotov: Problema Tungusskoj katastrofy 1908 g., Nauka i tekhnika, Minsk, 1969
  4. Tunguska-Katastrophe: Winzling mit Wucht, Süddeutsche Zeitung, 20. Dezember 2007
  5. Meteoriten-Einschlag in Sibirien vor 100 Jahren, Neue Zürcher Zeitung, 30. Juni 2008
  6. V. G. Fesenkov: Pomutneniye atmosfery, proizvedennoye padeniyem Tungusskogo meteorita 30 iyunya 1908 g., Meteoritika 6, 1949, S. 8–12
  7. Harlow Shapley: Flight from chaos. A survey of material systems from atoms to galaxies, McGraw-Hill, New York 1930
  8. Leonid Kulik: Dannyje po Tungusskomu meteoritu k 1939 godu. Doklady Akad. Nauk SSSR 22(8), 1939, S. 520–524
  9. P. Farinella, L. Foschini, Ch. Froeschl, R. Gonczi, T. J. Jopek, G. Longo, P. Michel: Probable asteroidal origin of the Tunguska Cosmic Body. Astronomy & Astrophysics 377, 2001, S. 1081–1097, Zusammenfassung, Volltext (PDF-Datei, englisch)
  10. L. Gasperini, F. Alvisi, G. Biasini, E. Bonatti, G. Longo, M. Pipan, M. Ravaioli, R. Serra: A possible impact crater for the 1908 Tunguska Event. Terra Nova (OnlineEarly Articles), 15. Juli 2007, doi:10.1111/j.1365-3121.2007.00742.x (englisch)
  11. Günter Paul: Doch ein Krater in der Taiga?, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 147, 28. Juni 2007, S. 34
  12. Luca Gasperini, Enrico Bonatti, Giuseppe Longo: Der Tag, an dem sich der Himmel teilte, Spiegel Online, 27. Juni 2008
  13. a b D. Steel: Tunguska and the Kagarlyk meteorite. The Observatory, Vol. 115, Nr. 1126, 1995, S. 136
  14. O. Eugster, E. Polnau, D. Terribilini: Cosmic ray and gas retention ages of newly recovered and of unusual chondrites. Earth and Planetary Science Letters 164, 1998, S. 511–519
  15. Andrei Yu. Ol'khovatov: The tectonic interpretation of the 1908 Tunguska event. Zusammenfassung 26. Januar 2005, ausführliche Version 4. Oktober 2006 (englisch)
  16. Wolfgang Kundt: The 1908 Tunguska catastrophe. In: Current Science. 81. 2001, S. 399-407 (PDF)
  17. Wolfgang Kundt: Tunguska 1908. In: Chinese Journal of Astronomy & Astrophysics. 3, 2003, S. 545-554 (PDF). 

Weblinks

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Englisch

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