Sonatensatzform

Sonatensatzform

Sonatensatzform (auch: Sonatenhauptsatzform) ist ein Begriff aus der musikalischen Formenlehre. Er bezeichnet ein Formschema, nach dem in der Regel der erste Satz (= Kopfsatz oder „Hauptsatz“) einer Sonate bzw. Sinfonie aufgebaut ist, gelegentlich auch der letzte, sehr selten auch ein Mittelsatz.

Inhaltsverzeichnis

Aufbau eines Satzes nach der Sonatensatzform

Ein nach der Sonatensatzform gegliederter Satz besteht aus den drei Hauptteilen: Exposition, Durchführung und Reprise. Optional sind eine Einleitung am Beginn und eine Coda am Ende des Satzes.

Beispiel: Siehe bei der Sinfonie Nr. 5 von Ludwig van Beethoven.

Einleitung

Schon vor Beginn der Exposition kann eine kürzere oder längere Einleitung stehen. Meist erscheint sie bei ausgedehnteren Werken, d.h. eher in einer Sinfonie und seltener in einer Klaviersonate. Sie eröffnet den Satz in einem langsamen Tempo, bevor sich die Exposition mit einem schnelleren, kontrastierenden Tempo anschließt. Typisch für Sätze mit Einleitung sind also Tempoangaben wie Andante – Allegro ma non troppo.

Neben dem Spannungsaufbau hatte die Einleitung beim zeitgenössischen Publikum aufgrund ihres (in der Regel) Forte-Beginns auch eine Signalwirkung: Das Publikum sollte zur Ruhe kommen und wahrnehmen, dass nun ein Werk beginne, dem Aufmerksamkeit zu schenken sei. Daher kann oft auf eine derartige Einleitung der Beginn der Exposition mit einem Thema im Piano gestaltet sein, während Werke ohne Einleitung (meistens) forte beginnen.

Langsame Einleitungen finden sich beispielsweise bei einigen Sinfonien von Joseph Haydn (z. B. Nr. 6, Nr. 53 und vielen der späteren Werke, vgl. die „Londoner Sinfonien“) und bei einigen Sinfonien von Ludwig van Beethoven (Nr.1, Nr.2, Nr. 4 und Nr.7).

Exposition

Die Exposition (= „Ausstellung“) stellt das thematische Material des Satzes vor. Sie gliedert sich typischerweise in Hauptsatz, Überleitung, Seitensatz, Fortspinnung und Schlussgruppe.

  • Der Hauptsatz einer Exposition steht in der Grundtonart (Tonika-Tonart) des Satzes. Er enthält das erste Thema, dem die klassische Formenlehre typischerweise einen eher „männlich“ kraftvollen Charakter attestiert. Obwohl diese Charakterisierung sehr oft zutrifft, kann sie keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, da es durchaus auch Beispiele für weiche, lyrische Hauptthemen gibt. In selteneren Fällen kann der Hauptsatz auch noch weitere Themen bzw. themenähnliche Nebengedanken enthalten.
    • Dem Hauptsatz folgt eine meist modulierende Überleitung als Verbindung zum Seitensatz. Sie besteht häufig in einer motivischen Fortführung des ersten Themas oder, vor allem in den Werken der Früh- und Wiener Klassik, oft aus eher unthematischen, motorisch-figurativen Floskeln.
  • Der Seitensatz, der oft (wenn auch nicht immer) ein weiteres Thema (Seitenthema), enthält, steht in einer anderen Tonart als der Hauptsatz. Bei Hauptthemen in Dur steht der Seitensatz meist in der quinthöheren Dur-Tonart, mit dem Begriff der Funktionstheorie auch Dominant-Tonart genannt. Bei Hauptthemen in Moll hingegen steht das Seitenthema in der Regel in der parallelen Dur-Tonart (Tonikaparallel-Tonart). Das Seitenthema hat typischerweise einen lyrischeren Charakter als das erste Thema.
    • Die so genannte „Fortführung“ oder „Fortspinnung“ des Seitenthemas knüpft meist an dessen Motivik an, kann aber auch, ähnlich wie die Überleitung, aus unthematischem Figurenwerk bestehen.
  • Den Abschluss der Exposition bildet meist eine Schlussgruppe (auch Epilog genannt) in der gleichen Tonart wie der Seitensatz, die somit das Ziel der vorausgegangenen Modulation bekräftigt. Sie kann neues thematisches Material enthalten, motivisch an das erste Thema anknüpfen oder eine motivische Synthese aus erstem und zweitem Thema darstellen.

Traditionell wird die Exposition wiederholt, sodass man ihr Ende auch leicht an den Wiederholungszeichen erkennen kann. Während im 18. Jahrhundert die Wiederholung der Exposition nur gelegentlich weggelassen wird (z. B. in op. 3. Nr. 4 von Franz Ignaz Beck), verzichten Komponisten seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts immer häufiger auf eine tongetreue Wiederholung der Exposition.

Das Spannungsverhältnis von Haupt- und Seitensatz ist ein wesentliches Merkmal der Sonatensatzform. Es drückt sich immer in der tonalen Spannung zwischen den verschiedenen Tonarten beider Teile aus.

Durchführung

Auf die Exposition folgt die Durchführung, in der das in den verschiedenen Teilen der Exposition vorgestellte Material verarbeitet wird. Man spricht von motivisch-thematischer Arbeit.

Durchführungen können sehr unterschiedlich gestaltet sein. Als typisch gilt im Falle eines vorliegenden Themenkontrastes die dialektische Auseinandersetzung zwischen den beiden Themen, wobei es zum charakterlichen Rollentausch und zu konflikthaft dramatischen Steigerungen kommen kann. Es kann aber ebenso vorkommen, dass nur eines der beiden Themen in der Durchführung verwendet wird, oder dass die Durchführung ausschließlich mit den Motiven der Schlussgruppe oder gar mit dem aus Überleitung oder Fortspinnung stammenden Figurenwerk bestritten wird. Manchmal taucht in der Durchführung als Episode sogar ein völlig neuer musikalischer Gedanke auf.

Charakteristisch für nahezu alle Durchführungen ist eine verstärkte Modulationstätigkeit, die oft auch in harmonisch weit entfernte Bereiche vordringt.

In Sinfonien wurde während der Wiener Klassik das Verlassen der Tonika-Tonart auch klanglich erfahrbar. Da das bis etwa 1840 vorwiegend verwendete Naturhorn nur über einen begrenzten Tonvorrat in der Nähe der Grundtonart verfügte, deutete ein Schweigen der Hörner auf eine tonale Entfernung von der Grundtonart hin.

Reprise

Mit der Wiederkehr des Hauptthemas in der Tonika-Tonart setzt die Reprise (von frz.: reprendre = „wieder aufnehmen“) ein. Die Reprise ist eine leicht veränderte Wiederholung der Exposition. Die tonale Spannung zwischen Haupt- und Seitenthema wird aufgehoben, da jetzt auch das Seitenthema in der Grundtonart erscheint. Ein eventuell vorhandener Konflikt zwischen Haupt- und Seitensatz erscheint dadurch im Sinne einer Annäherung gemildert.

Coda

Als Coda wird der Schlussteil bezeichnet, in dem meist mit thematischem Material aus dem Hauptthema der Satz gesteigert und zu Ende gebracht wird. Am Ende der Reprise wird nicht selten noch eine Coda (ital. Endstück) angehängt, die die Ausmaße von einem kurzen Anhängsel bis zu einer Erweiterung der Schlussgruppe, in der Exposition, hat. Die Coda wird vor allem bei Beethoven zu einem sehr wichtigen Abschnitt, der den Charakter einer zweiten Durchführung annehmen kann. Sie ist im Kopfsatz der 9. Sinfonie länger als die Reprise. Oft ist sie nicht nur im Charakter, sondern auch in der Thematik der Schlussgruppe sehr ähnlich.

Entwicklung der Sonatensatzform

Ursprünglich (seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts) bedeutete „Sonata“ im Gegensatz zur Vokalkomposition (canzona) instrumentales „Klangstück“. Der Begriff bezeichnete anfangs weder ein spezifisches Formmodell noch einen bestimmten Kompositionsstil. Die ersten Werke mit dem Titel „Sonata“ stammen von italienischen Komponisten, wie z.B. Giovanni Gabrieli (1597, 1615). Gabrielis Sonaten hatten Vorbildfunktion durch die formale Anlage und ihren improvisatorischen Stil. Das Formmodell bestand aus mehreren klar beschriebenen Abschnitten in kontrastierendem Tempo und mit kontrastierender Textur (siehe bei Sonate).

Entsprechend zur Ausbreitung der zyklischen Dreisätzigkeit in der Opernsinfonie auf die meisten anderen musikalischen Gattungen bildete sich in der Grundanlage des Sinfoniesatzes, v. a. des Kopfsatzes, eine Architektur aus, die modellhaft Geltung erlangte und ebenfalls auf sämtliche Gattungen der Musik übergriff, auch auf den des Konzertsatzes.[1] In der Zeit bis zum Ende des 18. / Anfang des 19. Jahrhunderts wurde der sich aus den Tanzsätzen der Suite entwickelnde Grundriss eines Sinfoniesatzes als zweiteilig (jedoch teilweise mit untergeordneter Dreigliederung) und nicht – wie später in der Sonatensatzform – als dreiteilig angesehen. Weiterhin waren für die Anlage der Sätze harmonische Verläufe wesentlicher als die thematisch-motivische Arbeit, die von der Sonatensatzform betont wird. So besteht die Anlage eines Sinfoniesatzes nach Heinrich Christoph Koch in seinem Buch „Versuch einer Anleitung zur Composition“ (drei Bände, erschienen 1782 bis 1793) aus folgenden Abschnitten[1]:

  • I. Teil (wiederholt oder unwiederholt):
    • Erster Hauptperiode[2], ggf. mit Anhang: Abschnitt in der Grundtonart und Übergang in die Dominante bzw. in Moll-Sätzen in die Dur-Parallele; Abschnitt in der Dominante, oft mit einem „mehr singbaren, und gemeiniglich mit verminderter Stärke des Tons vorzutragenden Satz“ verbunden, und Kadenzschluss in der Dominante.
  • II Teil (wiederholt oder unwiederholt):
    • Zweiter Hauptperiode: Beginn in der Dominante meist mit dem „Thema“ oder einem „anderen melodischen Haupttheile“; harmonische Abweichungen, Wiederholungen bzw. „Zergliederungen“ melodischer Wendungen. Abschluss in der Dominante oder Rückleitung zur Grundtonart (Tonika).
    • Dritter Hauptperiode: Beginn in der Grundtonart mit dem „Thema“ oder mit einem „andern melodischen Haupttheile“, Wiederaufnahme der „vorzüglichsten Sätze“ des ersten Hauptperioden in zusammengedrängter Form und in der Grundtonart verbleibend.

Die Interpretation dieser Grundanlage aus der Sicht der zunehmend bedeutender werdenden thematisch-motivischen Vorgänge ergab dann in der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts das oben beschriebene Schema der Sonatensatzform, welches teilweise auch rückwirkend auf die vorher komponierte Musik der Wiener Klassik angewendet wurde. Der Begriff „Sonatenform“ als ideales, von Gattungskriterien (Sinfonie, Quartett, etc.) abstrahiertes Modell erscheint in ausführlicher Beschreibung erstmals in der Kompositionslehre von Adolf Bernhard Marx (Die Lehre von der musikalischen Komposition, Leipzig 1837-1847). Heinrich Birnbach, von dem Marx die Definition des Sonatensatzes im Wesentlichen übernahm, hatte noch den Begriff „Hauptform“ verwendet.[1][3] Marx Kompositionslehre etablierte die Begriffe „Exposition“, „Hauptsatz“, „Modulationsteil“, „Seitensatz“ und „Schlussgruppe“. Das wie oben beschriebene „vollständige“ Schema der Sonatensatzform mit den heute üblichen Begriffen taucht erstmals 1911 in der Formenlehre Hugo Leichtentritts auf.

Das „Standardmodell“ der Sonatensatzform, wie es üblicherweise analytisch gebraucht wird, war von Marx als Beschreibungsform der Sinfonien Beethovens entworfen worden und ist deshalb kaum oder nur eingeschränkt für entsprechende Werke der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geeignet.[4] An der zweiteiligen Auffassung der Grundanlage des Sinfonie-(Kopf-)Satzes wurde noch bis Anfang des 19. Jahrhunderts festgehalten, wie sich z. B. in der Rezension von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann über Beethovens Sinfonie Nr. 5 aus dem Jahr 1810 zeigt. Erst mit dem Konzept der Sonatenform geriet die übergeordnete Zweiteiligkeit schrittweise in Vergessenheit.[1]

Die romantische Musik des 19. Jahrhunderts (z. B. Carl Maria von Weber, Franz Schubert, Felix Mendelssohn Bartholdy, Frédéric Chopin, Robert Schumann, Franz Liszt, Anton Bruckner, Johannes Brahms) griff das Muster-Schema der Sonatensatzform zwar auf, veränderte es jedoch tiefgreifend: Als „in der romantischen Musik andere Voraussetzungen des musikalischen Denkens sich ausbildeten, verkam die Grundanlage zum Schema („Sonatensatz“), das – vom „Inhalt“ abtrennbar – keine musikalische Wirklichkeit mehr repräsentierte.“ [1]

Im 20. Jahrhundert setzen sich die Begriffe „Sonatenhauptsatzform“ (von Hermann Grabner 1924 eingeführt) und „Sonatensatzform“ gegenüber von „Sonatenform“ mehr und mehr durch.

Einzelnachweise

  1. a b c d e : Stefan Kunze: Die Sinfonie im 18. Jahrhundert. In Siegfried Mauser (Hrsg.): Handbuch der musikalischen Gattungen. Band 1, Laaber-Verlag, Laaber 1993, ISBN 3-89007-125-2.
  2. Unter einem „Periodem“ versteht Koch einen größeren, in sich zusammenhängenden Abschnitt oder Durchgang
  3. Heinrich Birnbach: Über die verschiedene Form größerer Instrumentalstücke aller Art und deren Bearbeitung. In: Berlinische Allgemeine Musikalische Zeitung, 1827, S. 269 ff. Zitiert bei Kunze (1993)
  4. Michael Walter: Haydns Sinfonien. Ein musikalischer Werkführer. C. H. Beck-Verlag, München 2007, ISBN 978-3-406-44813-3

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