Stephan von Garlande

Stephan von Garlande

Stephan von Garlande (* um 1070; † vor dem 2. Juni 1147; franz. Étienne de Garlande) war Ritter und Kleriker zugleich und in dieser Doppelrolle umstritten wie kein Zweiter. Er stieg in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts im Königreich Frankreich wiederholt in höchste Ehren auf, bekleidete viele Hofämter und beeinflusste die Politik in der Krondomäne entscheidend.

Inhaltsverzeichnis

Herkunft

Stephan stammt aus dem Landadel des Brie. Die Genealogie seiner Familie ist umstritten.[1]

Vermutlich liegt das Stammschloss der Politikerfamilie Garlande in Livry-en-l'Aunoye, später gehört die Burg Gournay-sur-Marne zu ihrem Fundus. Der Herr von Garlande und seine Söhne schaffen aus unbedeutenden Anfängen heraus den Aufstieg in die höchsten Hofämter: Der Vater ist zunächst königlicher Mundschenk, sein Sohn Gilbert Paganus avanciert um 1100 unter König Philipp I. zum Seneschall des Reichs. Es gelingt dem Senior, in seiner Nachfolge auch seine weiteren Söhne am Hof zu etablieren: Nach seinem Tod im Jahr 1101 folgt ihm Anselm von 1101 bis 1118 – mit kurzer Unterbrechung zwischen 1104 und 1107 – ins Amt, danach auch ein zweiter Sohn namens Wilhelm, allerdings nur für kurze Zeit. Bruder Gilbert ist anschließend unter König Ludwig VI. vom 1108 bis 1127 königlicher Mundschenk.

Lebensleistung

Doch all diese Karrieren werden bei Weitem durch diejenige Stephans von Garlande in den Schatten gestellt. Neben seiner weltlichen Karriere am Hof beschreitet er auch eine geistliche Laufbahn, erwirbt zahlreiche Pfründen an verschiedenen Kirchen der Krondomäne und bringt dadurch den Spagat fertig, gleichzeitig nicht nur kämpfender Ritter, sondern auch Förderer der Wissenschaften und hochrangiger Kirchenmann zu sein.

In seinem Machthunger, in seiner ambivalenten Stellung als Kleriker und Soldat und in seiner Begünstigung der freien Lehre polarisiert Stephan von Garlande seine Zeitgenossen wie kein anderer. Mitunter zieht er sich die unverhohlene Feindschaft reformerischer Kirchenkreise und oppositioneller Adelsgruppierungen, ja sogar des Königshauses und des Heiligen Stuhls, zu.

Vermutlich handelt es sich bei Stephan um den entscheidenden Förderer des Philosophen und Theologen Peter Abaelard im ersten Abschnitt seiner Karriere. In dessen letzten Lebensjahren scheint sich Stephan jedoch von Peter Abaelard weitgehend abgewandt zu haben.[2] Die Bezüge zu Abaelard sind in der folgenden Aufstellung kursiv und eingerückt dargestellt.

Leben

Um 1070 wird Stephan von Garlande geboren, als einer der fünf Söhne Gilberts I. von Garlande, der bereits von 1099 bis 1101 Seneschall des Königs ist.

Über seine frühe Ehe ist nichts bekannt, Ivo von Chartes nannte Stephan später einen „öffentlich überführten Ehebrecher“, der deswegen exkommuniziert worden sei.

Aufstieg unter König Philipp I. (1100–1104)

Noch vor 1100 wird Stephan Kanoniker von Notre-Dame in Paris und Hofkaplan König Philipp I. Bereits zu dieser Zeit macht er Bekanntschaft mit dem Kanoniker Fulbert, dem Onkel Heloisas. Er rivalisiert mit dem Kanoniker und Lehrer Wilhelm von Champeaux um Einfluss am königlichen Hof.

Abaelard trifft in Paris ein und findet vermutlich bald die Unterstützung Stephans in seiner Auseinandersetzung mit Wilhelm von Champeaux.

Im Jahr 1101 wird Stephan von Garlande auf Wunsch des Königs Bischof von Beauvais, gegen den Willen des dortigen Domkapitels, welches Galon, den Propst des Kanoniker-Stifts Saint-Quentin in Beauvais, favorisiert.

Nach dem Tod Bischof Wilhelms von Montfort im Heiligen Land im Jahr 1102 folgen 2 Jahre der Sedisvakanz in Paris. Als Fulko, als ehemaliger Dekan eine Interimslösung auf dem Bischofsstuhl von Paris, nach kurzer Zeit stirbt, entscheidet sich die Mehrheit des Domkapitels gegen den Widerstand Stephans für Galon.

Abaelard muss Paris verlassen, er geht an den königlichen Hof nach Melun, vermutlich durch die Vermittlung Stephans von Garlande, der in Paris keinen großen Einfluss mehr hat.

Im Jahr 1103 erklimmt Nachfolger Wulgrins Wilhelm von Champeaux, Freund Ivos von Chartres und späterer Freund Bernhards von Clairvaux, das Archidiakonat von Paris. Er wird zum großen Rivalen und Gegenspieler Stephans.

Abstieg unter König Philipp I. (1104–1108)

Der König wechselt im Jahr 1104 unter offensichtlichem Druck seine Politik. Seneschall wird nun Guido der Rote, Herr von Rochefort. Guido veranlasst den König, den Thronfolger Ludwig mit seiner Tochter Lucienne zu verloben, obwohl diese noch nicht im heiratsfähigen Alter ist. Stephan von Garlande muss den Bischofsstuhl von Beauvais wieder abgeben, da er sich gegen Bischof Ivo von Chartres, der die Reformpartei des französischen Episkopats gegen den König vertritt, nicht durchsetzen kann.[3] Stephan wird stattdessen Archidiakon von Paris, trotzdem hat er durch den Ämterwechsel einen erheblichen Prestigeverlust hinnehmen müssen. Der dritte Archidiakon in Paris, Rainald, spielt politisch keine Rolle.

Ohne die Unterstützung Stephans kann sich Abaelard in Melun nicht mehr halten, und er wechselt nach Corbeil. Er gibt an, näher bei Paris sein zu wollen, aber in Wirklichkeit ist ihm Paris verschlossen, und Graf Odo von Corbeil opponiert gegen den Sturz der Familie Garlande.

Um 1105 hat Stephan von Garlande hat seinen politischen Einfluss am Hof weitgehend verloren.

Abaelard wechselt in die Bretagne, aus gesundheitlichen Gründen, wie er angibt, tatsächlich aber, weil er dem Archidiakon Wilhelm von Champeaux schutzlos ausgeliefert wäre. Drei bis vier Jahre hält er sich fern vom Machtzentrum des Königs auf, genau in den drei Jahren der Machtlosigkeit Stephans.

Aufstieg unter König Ludwig VI. (1108–1127)

Nach Jahren der Auseinandersetzung mit der französischen Krone reist Papst Paschalis II. im Jahr 1108 nach Frankreich und empfängt in Saint-Denis Kniefall und Huldigung des Königs und des Thronfolgers. Dieser überraschende Bund von Papst und französischem König hat sofort innenpolitische Konsequenzen. Der Thronfolger löst seine Verlobung mit Lucienne von Rochefort. König Philipp favorisiert nun erneut Stephan von Garlande: Er wird Kanzler im königlichen Rat, sein Bruder Ansel wieder Seneschall. Das entmachtete Haus Rochefort erhebt sich gegen den König, die Garlandes schlagen den Aufstand nieder. Abt Adam von Saint-Denis wird wegen seiner Verbindung mit dem Haus Senlis angeklagt, Wilhelm von Champeaux verliert das Archidiakonat. Sein Nachfolger als Archidiakon und Leiter des Dialektiklehrstuhls wird der bisherige Kanzler des Domkapitels, Gilbert, für kurze Zeit. Auch unter dem neuen König Ludwig VI. bleibt Stephan von Garlande zunächst Leiter der Hofkanzlei.

Abaelard kehrt nach Paris zurück, geht jedoch bald auch nach Melun, wo zeitweise der König residiert, und lehrt dort.

Während der König in Melun residiert, nimmt im Jahr 1111 Graf Galeran II. von Meulan, bereits Herr der Montagne Sainte-Geneviève und des Hafens Grève, die Seine-Insel von Paris ein. Die Bürger jedoch vertreiben den Grafen und befreien so den König aus der peinlichen Lage, nicht zwischen seinen Residenzen Paris und Melun wechseln zu können. Galeran II. verliert seine Macht über Sainte-Geneviève, und Stephan von Garlande erhält zu seinen Ämtern auch noch das Amt des Dekans des Säkularkanonikerstifts Sainte-Geneviève am linken Seine-Ufer. In dieser Funktion hat er die Aufgabe, die Klosterdisziplin zu fördern. Stephan erwirbt am 12. März 1111 vom König das Privileg, dass das Kloster als einzigen Gerichtsstand das Kapitel des eigenen Klosters hat, dem der König oder sein dazu befugter Vertreter vorsitzt: der Kanzler des Königs, also Stephan, oder der Seneschall, sein Bruder Ansell, oder der Mundschenk, der im Jahre darauf Gilbert von Garlande heißt. Stephan von Garlande unterliegt somit nicht mehr der Gerichtsbarkeit des gegnerischen Bischofs von Paris.

Abaelard kehrt von Melun nach Paris zurück. Da an der Domschule keine Vorlesungen möglich sind, beginnt er – vermutlich mit Hilfe Stephans von Garlandes – erneut Vorlesungen auf dem Genovevaberg.

Im Jahr 1113 ist Stephan nichts nur Archidiakon von Notre-Dame und Dekan von Sainte-Geneviève, durch Beförderung wird er jetzt auch noch Dekan von Sainte-Croix, Saint-Avit, Saint-Samson und Saint-Aignan in Orléans und Kanoniker in Étampes. Wilhelm von Champeaux verliert seinen politischen Einfluss und zieht sich als Regularkanoniker nach Saint-Victor zurück, hat jedoch durch seine Verbindungen zu Bischof Galon Einfluss auf die Besetzung seines Dialektiklehrstuhls. Der vormalige Dekan Hugo wird Bischof von Laon, stirbt jedoch schon nach kurzer Zeit.

In Laon befindet sich eine der gefeiertsten Theologieschulen von Europa. Abaelard begibt sich dorthin und studiert bei Anselm, einem berühmten Frühscholastiker, kurze Zeit Theologie. Möglicherweise hat der Tod Bischof Hugos seinen und Stephans Plan durchkreuzt, die dortige Domschule zu übernehmen.

In den beiden folgenden Jahren gewinnen Stephan von Garlande und sein Clan weiter an Einfluss.

Abaelard nimmt jetzt Wilhelm von Champeaux endgültig seine wissenschaftliche Bedeutung. Wilhelm gibt sein Lehramt auf, ersteigt aber eine Sprosse in der Kirchenkarriere, wenn auch weit entfernt: Er wird Bischof von Châlons-sur-Marne.

Als im Jahr 1116 Bischof Galon stirbt, weitet die Familie Garlande ihre Macht aus. Gilbert wird Nachfolger Galons, jener Gilbert, der als Kanzler des Kapitels Abaelard zum Leiter der logischen Studien gemacht hatte. Archidiakon wird Theobald der Notar, ein enger Vertrauter Stephans von Garlande.

Abaelard ist auf dem Gipfel seines Ruhmes. Er ist zwei Jahre lang Leiter des von ihm lange avisierten Dialektiklehrstuhls und liest auch Theologie. Er lernt Heloïsa kennen. Es folgt das heimliche Verhältnis, die Entdeckung durch Fulbert, die Flucht, die heimliche Heirat und schließlich die Entmannung Abaelards.

Im Jahr 1118 fällt Ansell von Garlande in einer Schlacht; es folgt als Seneschall sein Bruder Wilhelm.

Abaelard tritt nach seiner Genesung in Saint-Denis als Mönch ein und lehrt alsbald wieder.

Im Jahr 1120 wird Stephan von Garlande, bisher schon Kanzler der königlichen Verwaltung und Archidiakon von Paris sowie Dekan von Sainte-Geneviève, nach dem Tod seines Bruders auch noch Seneschall von Frankreich. Er ist am Gipfel seiner Macht. Durch seinen Rat wird ganz Frankreich regiert – „quasi wie von einem Hausmeier“, so berichten die Annalen von Morigny.[4] Ein Kleriker ist somit Leiter der königlichen Armee. Die Familie Garlande besetzt drei der fünf wichtigsten Ämter des Königreiches, alle Gerichtsfunktionen des Reiches sind in ihrer Hand, und an ihr vorbei kann im Herzen von Frankreich auch keine kirchliche Entscheidung getroffen werden.

Abaelard flieht vor den Nachstellungen der Mönche von Saint-Denis nach Maisoncelles-en-Brie. Im Jahr 1121 wird er auf dem Konzil von Soissons verurteilt, aber rasch aus Klosterhaft entlassen. Möglicherweise hat sich Stephan von Garlande für ihn eingesetzt.

Im Jahr 1122 verhandelt Stephan von Garlande mit Abt Suger von Saint-Denis wegen der Loslösung Abaelards aus Saint-Denis.

Stephan wird das einzige Mal von Abaelard namentlich als Unterstützer erwähnt. Abaelard wird aus dem Klosterverband entlassen und gründet seine Schule am das Paraklet-Oratorium.

Abstieg unter König Ludwig VI. (1127–1132)

Im Jahr 1127 hat sich der Wind gedreht und es kommt zum Bruch zwischen Seneschall Stephan von Garlande und seinem obersten Dienstherrn, König Ludwig VI. Offen zu Tage tritt der schwelende Konflikt bereits im zeitigen Frühjahr 1127, als Bischof Stephan von Senlis wegen der Affäre mit Archidiakon Theobald noch in Rom weilt.

Gefolgsleute Stephans von Garlande greifen gewaltsam auf den Besitz der Abtei Saint-Germain-des-Prés vor den Toren von Paris über und Abt Gilduin von Saint-Victor belegt in Stellvertretung des Pariser Bischofs nun Dekan Stephan von Garlande und den gesamte Genovefaberg mit dem Interdikt, obwohl Stephan nach seinen eigenen Aussagen Genugtuung angeboten und sich durch einseitige Erklärung dem Schutz des Heiligen Stuhls unterstellt hat. Diese Aktion dokumentiert den erneuten ernsthaften Zugriffsversuch des Episkopats auf das Weltklerikerstift, nach Jahrzehnten der Ruhe. Er ist nur möglich, weil Stephan von Garlande soeben beim König in Ungnade gefallen ist.

Stephan hat versucht, während der Abwesenheit des Königs[5] durch Verheiratung seiner Nichte Agnes mit Amalrich III. von Montfort das Seneschallat von Frankreich in eine Art von Erbhof zu verwandeln, deshalb erwächst ihm plötzlich in Königin Adelheid von Savoyen und dem königlichen Vetter Rudolf von Vermandois eine gefährliche Opposition am Hof.[6]

Stephan von Garlande und seine Familie werden gestürzt. Stephan verliert das Amt des Kanzlers und Seneschalls, nur nicht das Archidiakonat. Sein Bruder Gilbert verliert das Amt des Mundschenks. Abt Suger von Saint-Denis ist auf der Höhe seiner Macht. Wie im Vorjahr appelliert Dekan Stephan an seinen Vetter, den Metropoliten von Sens, Heinrich den Eber. Dieser zitiert den Pariser Bischof Stephan von Senlis zum Himmelfahrtstag, den 12. Mai 1127, nach Provins. Doch dieser vermutet ein Komplott und weigert sich, „ins Feindesland“ zu kommen. Die Garlandes suchen die Hilfe des Hauses Montfort und Graf Theobalds II. der Champagne. Die Champagne wird mit Krieg überzogen, der sich über die Jahre 1128 und 1129 hinzieht.[7] Inzwischen geht der Riss auch quer durch die Reihen der französischen Bischöfe: Der Erzbischof von Tours, Hildebert von Lavardin, bezieht öffentlich zugunsten Stephans von Garlande Stellung.

Nach einigen Jahren Lehre am Paraklet fühlt sich nun auch Abaelard in der Champagne zunehmend unsicher. Er geht als Abt nach Saint-Gildas in die Bretagne, eventuell durch eine letzte Vermittlung Stephans von Garlande.

Aufstieg unter König Ludwig VI. (1132–1137)

Mitten in der Auseinandersetzung wechselt König Ludwig VI. ab dem Jahr 1130 die Fronten. Da auf Dauer gegen die Häuser Garlande und Montfort in Frankreich nicht regiert werden kann und Stephan von Garlande seinerseits ein Einlenken signalisiert und auf das Amt des Seneschalls verzichtet, vollzieht der König die nicht mehr erwartete Kehrtwendung und nimmt Stephan ihn wieder in seine Huld auf. In die erfolgreichen Friedensverhandlungen sind Bernhard von Clairvaux und der päpstliche Legat, Bischof Gottfried von Chartres, eingeschaltet. Stephan wird erneut Kanzler des Königs, Simon, der Neffe Sugers, muss auf dieses Amt verzichten. Seneschall wird Rudolf von Vermandois. Wenngleich Stephan von Garlande 1132 das Hofamt des königlichen Kanzlers hat zurückgewinnen können, so geht er insgesamt aus den Querelen deutlich geschwächt hervor. Zwar bleibt er in seinen geistlichen Ämtern unbeschadet, das heißt er ist weiterhin Archidiakon von Brie (in Paris) und Dekan von Sainte-Geneviève, doch eine wesentliche Einflussnahme auf die Staatsgeschäfte sind ihm durch den Verlust der militärischen Würden nicht mehr möglich.

In dieser Zeit Abaelard übergibt das Paraklet-Oratorium Heloisaund ihren Nonnen. Er ist zunehmend häufig von Saint-Gildas abwesend.

Im Jahr 1133 lässt Archidiakon Theobald der Notar den Prior von Saint-Victor, Thomas, ermorden. Dies geschieht auf dem Boden Stephans von Garlande, unweit seiner Burg Gournay-sur-Marne, und möglicherweise mit seinem Gutheißen. Erneut kommt es zu Unruhen. Bernhard von Clairvaux protestiert nun heftig gegen Stephan von Garlande in einem Brief an Suger von Saint-Denis, mittlerweile enger Berater des Königs: „Ich frage Dich, wer ist dieses Monstrum, der Kleriker und Krieger zugleich zu sein scheint und keines von beiden ist …“

Abaelard kehrt nach Paris zurück und beginnt erneut auf der Montagne Sainte-Geneviève zu lehren, doch diesmal nicht unter dem Schutz Stephans von Garlande und nicht im Stift selbst, wo dieser an Einfluss verfügt hätte, sondern an der Kirche Saint-Hilaire, die zum Säkularkanonikersstift Saint-Marcel gehört und möglicherweise unter der Leitung des Magisters Gilbert de la Porrée steht, eines Freundes und Gönners Abaelards. Abaelard hat einen ungeheurem Zulauf von Schülern. Er zieht sich damit die Feindschaft der konservativen Theologen erneut zu.

In einem Vergleich aus dem Jahr 1134 korrigiert der König die vorherige, unrechtmäßige Beschlagnahmung und Verwüstung der Pariser Weingärten Stephans von Garlande. Allerdings fallen diese nun nicht auf die Familie Garlande zurück, sondern auf den Dom von Paris.

Abstieg unter König Ludwig VII. (1137–1141)

Im Jahr 1137 kommt zum vollständigen Machtverlust Stephans beim Tod Königs Ludwig VI. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt am 1. August 1137 vollzieht der junge Ludwig VII. einen für sein Alter erstaunlich resoluten Richtungswechsel. Die neue politische Doktrin entsteht vermutlich unter dem Einfluss seiner angeheirateten aquitanischen Verwandtschaft. Durch die Ehe mit Eleonore von Aquitanien, einer Frau mit gehörigem politischem Sachverstand, hat der französische König sein Legitimationsgebiet erheblich erweitert: Er nennt sich nun auch Herzog von Aquitanien. Selbst wenn sein tatsächlicher Exekutivradius erheblich kleiner ist, so ist damit der anglonormannischen Herrschaft, die sich anschickt, auf die Loire-Grafschaften überzugreifen, endlich ein bedeutsamer Widerpart entstanden. Im selben Maß, wie Ludwig nun das Haus Vermandois unterstützt, befreit er sich von den alten Seilschaften seines Vaters: Binnen kurzer Zeit löst er sich aus dem Einfluss seiner Mutter Adelheid, die sich resigniert in das von ihr gegründete Stift auf dem Montmartre zurückzieht.

Auch für die Mitglieder der Familie Garlande ist nun am Hof endgültig kein Platz mehr: Stephan von Garlande verliert das Kanzleramt und ist damit sämtlicher Ehrenstellungen am Hof entledigt. Seine Brüder hat er inzwischen alle verloren. Obwohl er noch immer das Archidiakonat am Dom Notre-Dame und das Dekanat von Sainte-Geneviève innehat, befindet sich Stephan nun in einer ähnlich isolierten Position wie der Bischof von Paris.

Doch Stephan hat schon in den Jahren vor dem Regierungswechsel die Trendwende erkannt und betreibt nun vorsichtig den Ausgleich mit dem Bischof und Saint-Victor.[8]

Annäherung an Bernhard von Clairvaux und die Kirchenorthodoxie (1137–1142)

Im Jahr 1141 ist Stephan in Paris so machtlos geworden, dass nun einige Bischöfe der Francia ungestört gegen ihn beim Papst Innozenz II. intrigieren, wenn auch mit mäßigem Erfolg.[9]

Es gibt Hinweise dafür, dass in dieser Zeit Bernhard von Clairvaux sich Stephan von Garlande, den er früher so harsch getadelt hat, wieder annähert, denn auch er droht seinen Einfluss beim König von Frankreich nun zu verlieren. Eventuell setzt er sich bei dem genannten Antrag der Bischöfe am Heiligen Stuhl für Stephan ein, denn das Urteil fällt unerwartet milde aus.

Schon zuvor, um 1137, hat Bernhard einen sehr versöhnlichen Brief an Stephan geschrieben.[10] Eventuell erhofft er sich dadurch, dass Stephan bei dem Prozess gegen Abaelard nun seinen Einfluss in Sens nicht für Abaelard geltend machen wird. Dies wäre prinzipiell möglich gewesen, denn Stephan war nicht nur Dompropst in Sens, sondern auch der Vetter des Erzbischof von Sens, Heinrichs des Ebers.

In der Tat ist zu der Zeit, als das Konzil zusammentritt, am 25. Mai 1141, von einer Einflussnahme Stephans zugunsten Abaelards nichts mehr zu spüren. Bernhard von Clairvaux und die Bischöfe der Franzia sowie andere namhafte Theologen und geistliche Würdenträger betreiben ungestört die Ausschaltung Abaelards auf dem Konzil: Seine Lehrsätze und Bücher werden als Ketzerwerk verurteilt. Abaelard stirbt im Jahr darauf, am 21. April 1142 in Saint-Marcel-sur-Saône, einem Priorat von Cluny.

Kurz vor Abaelards Tod ist ein persönliches Treffen zwischen Bernhard von Clairvaux und Stephan von Garlande bezeugt. Nach seiner berühmten Predigt De conversione vor den Schulleuten von Paris besucht Bernhard Archidiakon Stephan und erleidet einen seelischen Zusammenbruch in dessen Oratorium Saint-Aignan.[11]

In dieser Kapelle haben mehr als zwei Dekaden zuvor Heloisa und Peter Abaelard geheiratet, der über 70jährige Stephan von Garlande hat sie inzwischen dem Dom überschrieben.

Dass sich Bernhard und Stephan nach der Ausschaltung Peter Abaelards weiter annähern, erklärt sich gut durch die chaotischen Zustände, die inzwischen durch den Krieg mit der Champagne auch in der Krondomäne herrschen, und die Notwendigkeit neuer Koalitionen.

Letzte Jahre (1142–1147)

Die letzte Urkunde im Cartulaire Générale de Paris, in der Stephan von Garlande als Dekan von Sainte-Geneviève in Erscheinung tritt, datiert aus dem Jahr 1140. Danach scheint er für sein Stift nicht mehr entscheidend in Aktion getreten zu sein.

Seine Laufbahn als Archidiakon von Paris lässt sich allerdings über einen deutlich längeren Zeitraum verfolgen: In einer Charta, die um 1140 abgefasst und wahrscheinlich von Heloïsas Onkel Fulbert kurz vor seinem Tod mitunterfertigt wird, ist erwähnt, dass Archidiakon Stephan zwei weitere Schenkungen an Saint-Victor bewilligt. Eine datierte Urkunde von 1145 trägt Stephans Unterschrift in seiner Eigenschaft als Archidiakon, eine zweite dürfte etwa zur selben Zeit verfasst worden sein.

Zwei weitere Urkunden aus dem Jahr 1146 sind die letzten von Stephan signierten Urkunden. Eine von ihnen stellt Stephans Testament zugunsten des Doms von Paris dar.[12]

Als Lohn für seinen auf Ausgleich bedachten Kurs der letzten Jahre erhält Stephan das Plazet, dass sein Neffe Manasses de Garlande zum Bischof von Orléans gewählt wird (1146).

Eine letzte Urkunde erwähnt Stephan von Garlande im Jahr 1147, sie belegt die Versöhnung des bereits schwerkranken, vom nahen Tod gezeichneten Mannes – divino spiritu afflatus – mit dem Papsttum und der Kirchenorthodoxie.[13]

Demnach hat Stephan von Garlande nach einem rasanten, von Höhen und Tiefen geprägten Leben spätestens am 2. Juni 1147 die Augen für immer geschlossen. Sein letzter Ruheort ist unbekannt. Wahrscheinlich ist er in der besagten Kapelle Saint-Aignan im Cloître von Notre-Dame bestattet worden, in dem Oratorium, welches er einst seiner Familie als Mausoleum errichtet hat.

Reminiszenz

  • Die weltberühmte Kathedrale Notre-Dame von Paris, die in den Jahren 1169 bis 1300 errichtet wurde, trägt am rechten Nebenportal der Hauptfassade, dem so genannten Annenportal, noch einige Bauteile der Vorgängerkirche Saint-Etienne aus dem 6. Jahrhundert. Dieses Portal wird noch mit dem potentiellen Spender Stephan von Garlande verbunden. Es trägt den Namen Le portail d'Etienne de Garlande.
  • Die Rue Galande im Quartier de la Sorbonne des 5. Arrondissements in Paris erinnert an die Stelle, in der einst der ummauerte Weingarten Stephans, der Clos de Garlande, lag, der im Stadtkrieg mit dem Bischof von Paris und König Ludwig VI. im Jahr 1127 zerstört wurde.

Quellen

  • Robert-Henri Bautier: Paris au temps d'Abélard. In: Jean Jolivet (Hrsg.): Abélard en son temps. Actes du colloque international… 1979. Editions Belles Lettres, Paris 1981, S. 53-77, ISBN 2-251-34302-4.
  • Abaelard: Historia Calamitatum. In: Eric Hicks (Hrsg.): La vie et les epistres Pierres Abaelart et Heloys sa fame. Champion, Paris 1991, ISBN 2-05-101173-7.
  • Werner Robl: Das Konzil von Sens 1141 und seine Folgen, Der Ketzerprozess gegen Peter Abaelard im Spiegel der Zeitgeschichte. Neustadt 2003, Kap.: Namensvettern: Stephan von Garlande und Stephan von Senlis, S. 71-80, und Kap.: Kurswechsel: Die späten Jahre des Stephan von Garlande, S. 96-101. (online)
  • Éric Bournazel: Le gouvernement capétien au XIIe siècle, 1108-1180. Structures sociales et mutations institutionelles. PUF, Paris 1975, S. 35-40.
  • Jean Dufour: Garlande. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4. Sp. 1118-1119.
  • Rolf Grosse: Saint-Denis zwischen Adel und König. Die Zeit vor Suger (1053–1122) (Francia/Beihefte; Bd. 57). Thorbecke, Stuttgart 2002, S. 168, ISBN 3-7995-7451-4 (zugl. Habilitationsschrift; Universität Heidelberg 2001).

Weblinks

Fussnoten

  1. Die Ursprünge der Familie Garlande liegen weitgehend im Dunklen. Der Vater der Garlande-Söhne, der bisweilen mit Wilhelm I. von Garlande-en-Brie verwechselt wird, wird in unterschiedlichen Publikationen z. T. als Gilbert und Adam pincerna bezeichnet. Beides ist nicht gesichert, allerdings weisen Urkunden aus Saint-Martin-des-Champs einen gewissen Adam als Vater und einen Alberich als weiteren Vorfahren aus. Ungewöhnlich erscheint, dass zwei der Garlande-Brüder gleichzeitig den Namen Gilbert getragen haben sollen. Vielleicht liegt hier eine Namensverwechslung mit dem Vater vor. Vgl. E. Bournazel, a.a.O., J. Dufour, a.a.O., R. Grosse, a.a.O.
  2. Im Lebenslauf Stephans entdeckt man über weite Abschnitte erstaunliche Kongruenzen und Parallelen zu demjenigen Peter Abaelards. Nur an einer einzigen Stelle im Werk Abaelards, nämlich in der sog. Historia Calamitatum, wird Stephan von Garlande in diesem Sinn erwähnt, nämlich als er sich für die Entlassung Abaelards aus dem Klosterverband von Saint-Denis bei dessen Abt Suger und beim König einsetzt. Vgl.Bautier, a.a.O.
  3. In einem Brief an Papst Paschalis II. nennt Ivo Stephan "einen ungebildeten Menschen, Spieler und Weiberhelden, der früher einmal wegen öffentlichen Ehebruchs vom Erzbischof von Lyon exkommuniziert worden sei..." Ivo von Chartres: Brief an Papst Paschalis II., in: PL 162, Sp. 167-168, auch in: RHF 15, S. 110-111.
  4. Chronik von Morigny, ed. L. Mirot, Paris 1912, S. 34 und 42–43.
  5. Er befindet sich in Flandern im Krieg.
  6. Die Königin, die als Nichte des Papstes Kallixtus II. dem Papsttum und der Kirchenreform anhängt und in den Staatsgeschäften ein gewichtiges Wort mitzureden hat, hat den Seneschall des Königs schon lange zuvor argwöhnisch beäugt. Der König, der Stephans Ratschlägen bis dahin immer vertraut hatte, ließ sich nun durch seine Gattin von dessen Anmaßung und Gefährlichkeit überzeugen.
  7. Chronik von Morigny, ed. L. Mirot, Paris 1912, S. 43.
  8. Er stimmt u. a. dem Vertrag zu, der seine vom König während des Bürgerkriegs verwüsteten Weingärten ins Episkopalgut integriert. Das Totenbuch von Saint-Victor bestätigt in etwa für denselben Zeitraum Stephans ausdrückliche Empfehlung, dem Stift Saint-Victor die Jahreserträge der Königsabteien, die sog. Annalia, zu überschreiben. Im Jahr 1135 erklärt sich Stephan auch mit einem Austausch von Leibeigenen, den sog. Serfs, zwischen Sainte-Geneviève und dem Dom von Paris einverstanden.
  9. Am 10. März 1141 erläßt Papst Innozenz II. im Lateran eine Bulle, in der er zur öffentlichen Tadelung Stephans aufruft, aber von einer Konfiszierung seiner Güter abrät. De facto bedeutet dies einen Gnadenerlass.
  10. Der Archidiakon ist kurz zuvor von schwerer Krankheit genesen. In der Vermutung, ihn jetzt in milder Stimmung anzutreffen, bittet Bernhard Stephan, er solle mit eigenen Mitteln eine zisterziensische Neugründung ermöglichen. Was er Stephan als Gegenleistung anbietet, kann zwischen den Zeilen herausgelesen werden: seine Huld und seine künftige Unterstützung! Vgl. Brief 512 SBO, ed. J. Leclercq/H. Rochais, Bd. 8, S. 471, auch in: Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke, ed. G. Winkler, Bd. 3, Innsbruck 1992, S. 960-961.
  11. Vgl. Herbert von Torres: De miraculis liber secundus, in: P.-F. Chifflet: Sancti Bernardi Clarevallensis abbatis genus illustre assertum, Dijon 1660, pp. 279-281, hier zitiert nach: PL 185, Sp. 1326-1327
  12. Schon früh, im Jahr 1108, hat er sein Haus im Cloître dem Domkapitel überschrieben und seinen Anniversartag organisiert. Um 1120 hat er mit Bischof Girbert die weitere Verwendung seiner Hauskapelle Saint-Aignan durch Schaffung zweier Halbpfründen geregelt und den dort tätigen Priestern sein Haus und seine Weingärten auf dem Genovefaberg und bei Ivry vermacht.
  13. Wider Erwarten zeichnet hier nicht Bischof Theobald von Paris, sondern Kardinalbischof Alberich von Ostia, ein ehemaliger Kluniazenser, der als päpstlicher Legat in Frankreich weilt. Sie bestätigt die früheren Schenkungen Stephans unter den Bischöfen Stephan und Girbert: Häuser, Weingärten und Buschland. Jeder, der sich künftig daran bereichern will, wird vom Legaten mit dem päpstlichen Anathem bedroht. Da Kardinalbischof Alberich von Ostia erstmals im April 1145 als Legat in Paris weilt, wird die Urkunde von W. Janssen auf das Jahr 1145 umdatiert. Wahrscheinlich entsteht sie jedoch später, weil Stephan in der Urkunde bereits als tödlich erkrankt beschrieben wird, andererseits noch im Jahr 1146 als Archidiakon aktiv tätig und deshalb offensichtlich gesund gewesen ist. Deshalb muss man dieses „Testament Stephans“ auf das Jahr 1147 datieren, anlässlich des Osterkonsistoriums in Paris, als Papst Eugen III. mit dem Kardinalskollegium in einer ersten Anhörung den Ketzerprozess Gilberts Porreta verhandelt und Alberich von Ostia anwesend ist.

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