Stigmatisation

Stigmatisation
Die Tiroler Mystikerin Maria Domenica Lazzeri mit Stigmata, zeitgenössisches Aquarell von 1846

Stigmatisation (von altgriechisch: στíγμα stigma = „Stich“, „Stigma“, „Zeichen“; lat. für „Brandmal“) bezeichnet das Auftreten der Wundmale Christi am Körper eines lebenden Menschen. Die entsprechenden Wundmale werden als Stigmata (singular: Stigma), Menschen, bei denen Stigmatisation auftritt, als Stigmatisierte bezeichnet.

In der Antike bezeichnete man mit στíγμα ein Malzeichen, das auf die Stirn oder die Hand eingebrannt wurde.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Biblische Erwähnung

Bereits im Brief des Apostels Paulus an die Galater werden die Wundmale Christi erwähnt: „Ich trage die Zeichen (στíγμα) Jesu an meinem Leib.“ (Gal 6,17 EU), wobei allerdings die Deutung dieser "Zeichen" unsicher ist und sie vermutlich nicht äußerlich sichtbar waren.

Träger der Wundmale Christi

Ab 1000 gibt es als Folge der verstärkten Passionsmystik Berichte von vorgetäuschten Wundmalen Christi (siehe: Selbstverletzendes Verhalten), die seitens der katholischen Kirche nur dann als sichere Stigmatisation gerechnet werden, wenn die betroffene Person bereits selig gesprochen wurde.

Franziskus empfängt die Stigmata, 13. Jahrhundert

Der erste anerkannte Fall von Stigmatisation ist der des Franz von Assisi (1181/82–1226). Das Phänomen seiner spontanen Stigmatisation soll sich am 17. September 1224 ereignet haben. Die erste Frau, die Stigmata erhielt, soll die selige Christina von Stommeln (1242–1312) gewesen sein, deren Reliquien heute in Jülich in der dortigen Propsteikirche aufbewahrt werden; am Schädel der Seligen sind Spuren einer Dornenkrone zu sehen.

In der Folgezeit gibt es vermehrt Berichte über Stigmatisationen. Die Zahl der bekannten Stigmatisierten schwankt je nach Autor zwischen 100 und über 330, da genaue Kriterien fehlen, was unter Stigmatisation zu verstehen ist (innere und äußere Stigmatisation). Die Anzahl der Träger mit den sichtbaren und spontan blutenden Wundmalen Christi dürfte 100 nicht überschreiten; der Arzt Franz Lothar Schleyer wies 1948 für eine medizinische Studie knapp 70 gesicherte Fälle nach.[1]

Zu den bekannten Stigmatiserten der neueren Zeit zählen die selige Anna Katharina Emmerick († 1824), Therese Neumann aus Konnersreuth († 1962), der am 16. Juni 2002 heilig gesprochene Pater Pio († 1968) und Marthe Robin († 1981). Bekannte zeitgenössische Stigmatisierte sind der italienische Ordensmann Bruder Elia (* 1962), die griechisch-katholische Syrerin Myrna Nazzour (* 1964) und die Berliner Architektin Judith von Halle (* 1972), eine Anthroposophin, die laut eigenen Angaben, welche ärztlich überprüft wurden, seit Ostern 2004 stigmatisiert ist. 13 Stigmatisierte wurden durch die römisch-katholische Kirche heilig und einige weitere selig gesprochen. Die katholische Kirche wertet eine Stigmatisation nicht automatisch als übernatürlich oder als Beweis der Heiligkeit. Bei den durchgeführten Heilig- und Seligsprechungen wurden die Stigmata entweder mit Schweigen übergangen oder nur als Randphänomen erwähnt.

Einige der neuzeitlichen Stigmatisierten mussten sich mehrfach medizinischen Untersuchungen von weltlicher und kirchlicher Seite unterziehen, um eine Selbstbeibringung ihrer Wunden auszuschließen. Beispielsweise wird berichtet, Handwunden von Anna Katharina Emmerick seien fest verbunden und von einer Kommission Tag und Nacht beobachtet worden, ohne dass sich an ihren Blutungen etwas geändert habe. Louise Lateau (1850–1883) ist einer der am besten dokumentierten Stigmatisationsfälle; ihre Stigmata sollen an Freitagen geblutet haben. Rudolf Virchow, der allerdings das Angebot, sie persönlich zu untersuchen, ablehnte, hielt sie für eine Betrügerin. (Bei wissenschaftlich tätigen Medizinern seiner Zeit war es üblich, Untersuchungen, bei denen von vornherein klar ist, dass sie höchstwahrscheinlich zu gar keinem Ergebnis führen können, von vornherein nicht durchzuführen.) Die heilige Veronica Giuliani (1660–1727), die am Karfreitag 1697 an Händen, Füßen und Herzen stigmatisiert wurde, trug nur die Wundmale an den Händen und Füßen, nicht aber an der Seite. Bei der Sektion nach ihrem Tode durch zwei Ärzte in Gegenwart zahlreicher Zeugen fand man angeblich jedoch ihr Herz ganz durchstochen.

Erklärungsversuche

Fresko der Stigmatisation des Franz von Assisi in St. Katharinen (Lübeck)

Die Mehrzahl der Mediziner wie auch Theologen geht von einer überwiegend natürlichen, psychogenen Ursache der Stigmatisation aus. Andererseits gelang es dem ehemaligen Zauberkünstler und Privatdetektiv Joe Nickell nicht, auch nur einen einzigen Fall zu finden, in dem das Einsetzen von Blutungen beobachtet werden konnte. Psychosomatische Phänomene wie Autosuggestion, Ideoplastie oder Hysterie verbunden mit einer starken Passionsfrömmigkeit könnten ebenso wie bewusste oder unbewusste Manipulation die Ursache für eine Stigmatisation sein. So kommt auch eine aus der Psychiatrischen Klinik der Universität München stammende aktuelle Interpretation eines Untersuchungsberichtes aus dem Jahre 1927 über Therese Neumann zu dem Ergebnis, dass die Stigmen im Rahmen einer psychosomatischen Symptombildung auf dem Hintergrund intensiver religiöser Phantasien spontan, d. h. ohne Manipulation, entstanden sind.[2] Untersuchungen zeigten, dass durch Hypnose immer wiederkehrende Unterhautblutungen entstehen und nicht heilende Wunden wieder verschwinden können. Die Stigmatisation ist anscheinend verwandt mit dem Blutschwitzen und Blutweinen, bei denen eine natürliche Ursache gesichert scheint. Bei diesen Phänomenen treten allerdings keine offenen Wunden auf, sondern das Blut tritt direkt über die unverletzte Haut aus, so wie es auch bei einigen Stigmatisierten von Stirn- und Kopfblutungen berichtet wird.

Umstritten sind allerdings die genauen psychischen Mechanismen und ob sich alle Formen der Stigmatisation dadurch erklären lassen. Beispielsweise wird behauptet, dass offene Wunden über viele Jahre hinweg (bei Pater Pio sogar 50 Jahre) nicht heilen, sich aber auch nicht entzünden oder eitern und dies medizinisch nicht erklärt werden könne. Aus der medizinischen Anwendung von Dauerkathetern ist bekannt, dass die Infektionsanfälligkeit bei dauerhaften, tiefen Verletzungen der Haut von Patient zu Patient sehr unterschiedlich ist. Es gibt Fälle, bei denen über Jahre oder Jahrzehnte hinweg keinerlei entzündliche Veränderungen auftreten. Für einen Blutfluss entgegengesetzt zur Schwerkraft, wie es z. B. bei Anna Katharina Emmerick berichtet wird, sowie ähnliche paranormale Phänomene fehlen objektive Beweise.

Auffällig ist, dass die Handstigmata in der Regel auf der Handinnenseite oder dem Handrücken zu sehen sind. Es gilt heute jedoch als wahrscheinlich, dass bei Kreuzigungen der Nagel in der Nähe der Handwurzel zwischen Elle und Speiche des Unterarms eingeschlagen wurde.

Interessant hierbei ist, dass die Wunden bei Stigmatisierten generell so auftreten, wie diese in diesem Kulturkreis bekannt sind. Zeigt ein Kulturkreis also Stigmata am Handrücken, dann haben die Personen dort Wunden am Handrücken. Werden hingegen Wunden an den Gelenken dargestellt, treten sie dort auf. Es scheint also einen Zusammenhang mit der Darstellung zu geben. Dies lässt zusammen mit der obigen Erkenntnis, dass die Nägel nicht an den üblich gezeigten Stellen eingeschlagen wurden, vermuten, dass eine Stigmatisation im Regelfall durch die psychischen Kräfte der Person selbst hervorgerufen werden und sich damit laut der Vorstellung der Person manifestiert.

Gegen ein rein psychosomatisches Phänomen spricht allerdings die regelmäßig bei Stigmatisierten zu beobachtende Nahrungslosigkeit. So kann die Anthroposophin Judith von Halle nur geringe Mengen von Wasser zu sich nehmen, feste Nahrung lehnt der Körper ab.

Filme

Das Thema der Stigmatisation wurde in mehreren Filmen aufgegriffen:

Literatur

  • René Biot: Das Rätsel der Stigmatisierten. Pattloch, Aschaffenburg 1957.
  • Irmtraud Götz von Olenhusen (Hrsg.): Wunderbare Erscheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert. Schöningh, Paderborn u. a. 1995. ISBN 3-506-76178-1.
  • Michael Hesemann: Stigmata: Sie tragen die Wundmale Christi. Güllesheim 2006.
  • Ron Hansen: Mariette in Ecstasy. A Novel. New York 1992. ISBN 0-06-098118-0.
  • Johannes Maria Höcht: Träger der Wundmale Christi. Eine Geschichte der Stigmatisierten. 1994. ISBN 3-7171-0596-5.
  • Ingrid Malzahn: Pater Pio von Pietrelcina. Wunder, Heilungen und von der Kraft des Gebets. 2001. ISBN 3-931723-12-7.
  • Joe Nickell: Looking for a Miracle. Prometheus Books, Buffalo 1993. ISBN 0-87975-840-6.
  • Franz L. Schleyer: Die Stigmatisation mit den Blutmalen. Biographische Auszüge und medizinische Analyse. Hannover 1948.
  • Fiorella Turolli: Fra’ Elia, von den Aposteln Gottes. Das Mysterium des Lichts. 2005. ISBN 3-931723-28-3.
  • Judith von Halle: „Und wäre Er nicht auferstanden …“,, 2005. ISBN 3-7235-1255-0.
  • Wolfgang Garvelmann: Sie sehen Christus. Erlebnisberichte von der Passion und der Auferstehung Christi. Anne Katharina Emmerich, Therese Neumann, Judith von Halle. Eine Konkordanz. Verlag am Goetheanum, Dornach 2008
  • Peter Tradowsky: Stigmatisation - Ein Schicksal als Erkenntnisfrage Verlag am Goetheanum, Dornach 2009
  • Michael Heinen-Anders: Aus anthroposophischen Zusammenhängen, BOD, Norderstedt 2010, S. 40 - 42
  • Martin Kollewijn: Stigmatisation - Eine Mitteilung des Arbeitszentrums Berlin der Anthroposophischen Gesellschaft, Dezember 2004
  • Oktavian Schmucki: Stigmatisation. In: Josef Höfer, Karl Rahner (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche (LThK). 2. Auflage. Band 9, Herder, Freiburg im Breisgau.
  • Otmar Seidl Zur Stigmatisation und Nahrungslosigkeit der Therese Neumann (1898-1962). In Der Nervenarzt Band 79(7), S. 836-844. 2008

Einzelnachweise

  1. Franz Lothar Schleyer: Die Stigmatisation mit den Blutmalen. Hannover 1948, 45 ff
  2. O. Seidl Zur Stigmatisation und Nahrungslosigkeit der Therese Neuman (1898-1962). In Der Nervenarzt, Band 79, 2008, S. 836-844

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