Straßentheater

Straßentheater
The Living Theatre präsentiert ihr Anti-Kriegs-Stück The Brig im Rahmen des Myfest 2008 auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg

Als Straßentheater werden Formen des Theaters bezeichnet, die im öffentlichen Raum stattfinden, wie etwa auf Straßen, aber auch auf Plätzen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Parks, an Häuserfassaden oder auf Bäumen, in Städten wie in Dörfern. Das Straßentheater bietet oft weniger herkömmliche, genau einstudierte Inszenierungen und verlässt sich auf die kreativen Kräfte, die durch Improvisation hervorgerufen werden. Nicht zuletzt dadurch, dass sich die auftretenden Künstler unter freiem Himmel erst einmal Aufmerksamkeit verschaffen müssen, sind viele Inszenierungen sehr spektakulär angelegt, z. B. durch Stelzenläufer, Großobjekte, Musik und akrobatische Elemente. Allerdings gibt es auch Formen des Straßentheaters, die sich nicht oder nicht sofort als Theateraufführung zu erkennen geben.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte des deutschen Straßentheaters

Das deutsche Straßentheater der Neuzeit hat seine Ursprünge im Arbeitertheater, das zur Zeit der Sozialistengesetze in Deutschland (1879 bis 1890) entstand, sowie im kommunistisch geprägten Agitprop-Theater der Russischen Revolution. Straßentheater wurde verstanden als Kultur von unten. Es hatte proletarische Wurzeln und verfolgte damals meist politische Ziele, teilweise wurde offen Wahlwerbung für bestimmte Parteien des linken Spektrums betrieben. Aufführungsorte waren z. B. Fabriktore, um die Arbeiterschaft direkt anzusprechen. Führender Vertreter eines Arbeitertheaters in Deutschland war Erwin Piscator, der 1920/21 in Berlin das Proletarische Theater gründete, ein Theater nur für Arbeiter, das allerdings von der offiziellen Kulturpolitik der KPD abgelehnt wurde. Als er später wie viele andere Künstler vor der Naziherrschaft fliehen musste, gründete er nach Umwegen über die Sowjetunion und Paris in New York den Dramatic Workshop an der New School for Social Research. Dort unterrichtete er auch Judith Malina und Julian Beck, die 1947 The Living Theatre gründen sollten.

Neuere Geschichte

In der Bundesrepublik Deutschland fanden zu Anfang der 1960er-Jahre die ersten Happenings statt. Dabei handelt es sich um eine Kunstform, die durch die Verbindung von Theater und Bildender Kunst entstand (Joseph Beuys und andere). Erst während der Studentenunruhen (und in den USA den Protesten gegen den Vietnamkrieg) Mitte der 1960er-Jahre wurde das Straßentheater wiederentdeckt und erfreute sich größerer Beliebtheit. Dies war in Nord-, Mittel- und Südamerika und in Mittel- und Südeuropa sowie in Skandinavien, aber auch in Polen bis zum Ausrufen des Kriegsrechtes 1981, als Form politischer Bewusstmachung, zur Lösung von Konflikten wie auch zur Unterhaltung der Fall.

In den 1960er-Jahren waren es vor allem Theatergruppen wie das Living Theatre, das aus den USA nach Europa, später nach Brasilien gezogen war, der Jord Circus (Earth Circus) aus Schweden (gegründet von Chris Torch, einem früheren Mitglied des Living Theatre), das Odin Teatret aus Dänemark (gegründet in Oslo von Eugenio Barba, einem Schüler Jerzy Grotowskis), die San Francisco Mime Troupe, die sich als „Guerillatheater“ verstanden, The New York Street Theatre Caravan oder das von dem Deutschen Peter Schumann gegründete New Yorker Bread and Puppet Theater aus den USA, die auch in Deutschland und im weiteren Europa auftraten und das Straßentheater als Form des (politischen) Kampfes besonders in der sogenannten „Sponti-Szene“ populär machten. Diese Gruppen traten allerdings nur zum Teil auf den Straßen auf; viele von ihnen erprobten schon lange vorher neue Raum- und Theaterkonzepte, die stark von Erwin Piscator und dem „Epischen Theater“ beeinflusst waren.

Zu dieser Zeit wurde auch der polnische Regisseur und Theatertheoretiker Jerzy Grotowski und sein „armes Theater“ (wieder)entdeckt. Gleichzeitig erinnerten sich Gruppen und Künstler an die italienische Commedia dell’arte und es fanden Jonglieren und andere Zirkuskünste immer mehr Zuspruch und eroberten die Fußgängerzonen. Der „Narr“ und Clown wurde wieder populär, hier vor allem durch Jango Edwards, ob solo oder mit der Friends Roadshow. Andere beschäftigten sich mit dem „Theater der Unterdrückten“ nach Augusto Boal und praktizierten das von ihm entwickelte „unsichtbare Theater“ oder das „Forumtheater“ . Ebenso bewegte sich ein Anachronistischer Zug durch Deutschland.

Einige Gruppen legten sich (Zirkus-)Zelte zu und gingen damit auf Tourneen. Dazu zählte der Theaterhof Priessenthal. Zum Theater gehörte der vorher durch Theater-, Film- und Fernsehrollen bekannt gewordene Schauspieler Martin Lüttge, der aus dem etablierten Kulturbetrieb ausgestiegen war. Viele Gruppen bildeten durch gemeinsames Wohnen eine Einheit zwischen Wohnen und Arbeiten. Oft wurden Straßentheatergruppen auch von den Kommunen eingeladen um offiziell aufzutreten, so z. B. während der früheren „Summertime“-Reihe der Stadt Frankfurt am Main. Allerdings verlegten viele Gruppen ihre Spielstätte vermehrt in die Häuser hinein, weil die Inhalte ihrer Produktionen immer komplexer wurden und sich nicht mehr für Aufführungen unter freiem Himmel eigneten. Andere Gruppen fanden leer stehende Räumlichkeiten und ließen sich dort nieder. Aus ihnen gingen dann die Gruppen des „Freien Theaters“ hervor, die (zunächst) unabhängig von finanzieller Förderung ein mitunter qualitativ hochwertiges Programm auf die Bühnen stellten. Heute zählen dazu die Gruppen Die Rote Rübe, Rote Grütze, das [sic!] theater K und die Grüne Soße. Ein beliebter Autor war in dieser Zeit Dario Fo (siehe dort besonders: „Verstecktes Theatrer“), der in Italien selbst an Straßentheateraktionen beteiligt war.

Heute

Heute hat sich das Straßentheater zu einer eigenständigen Kunstform entwickelt, die beispielsweise durch neue Raumkonzepte und stärkere Einbeziehung des Zuschauers auch die etablierten Bühnen vielfach beeinflusst hat. Von kurzen Spielszenen und Animationen über Figuren- und Objekttheater, Stelzentheater, Performance, zirzensischen Darbietungen bis hin zu spektakulären Großinszenierungen finden sich viele Ausdrucksformen des Theaters im öffentlichen Raum wieder.

In Deutschland sind heute (2011) etwa 200 Gruppen im Straßentheaterbereich tätig. An zahlreichen Orten in Deutschland sind seit den 1980er-Jahren Festivals entstanden, die sich ausschließlich diesem Genre widmen. Die meisten Veranstaltungen finden bei freiem Eintritt statt und sind für jedermann zugänglich.

Wichtige deutsche Gruppen sind: Theater Titanick, Theater Anu, Aktionstheater PAN.OPTIKUM, Angie Hiesl, die [sic!] antagon theaterAKTion, N.N.Theater, Pyromantiker, Grotest Maru, Lokstoff, Zirkus Amalgam, Theatre Fragile und, zumindest teilweise (sie bespielen auch Häuser), das Theater Mimikri aus Büdingen. In Salzburger Land in Österreich bietet das Salzburger Straßentheater meist klassische Stücke zum Nulltarif an.

Straßentheaterfestivals in Deutschland

Literatur

  • Amann, Marc (Hrsg.): go.stop.act! Die Kunst des kreativen Straßenprotests. Geschichten – Aktionen – Ideen. Trotzdem Verlagsgenossenschaft, ISBN 3-931786-38-2
  • Batz, Michael und Schroth, Horst: Theater zwischen Tür und Angel. Handbuch für Freies Theater. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 1983 u. a., ISBN 3-499-17686-6
  • Batz, Michael und Schroth, Horst: Theater grenzenlos. Handbuch für Spiele und Programme. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 1985, ISBN 3-499-17940-7
  • Brauneck, Martin: Theater im 20. Jahrhundert. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 1982
  • Hemler, Stefan: „Protest-Inszenierungen. Die 68er-Bewegung und das Theater in München“ in: Hans-Michael Körner und Jürgen Schläder (Hrsg.): Münchner Theatergeschichtliches Symposium 2000. München, Utz-Verlag 2000, Band 1, Seiten 276–318, ISBN 3-89675-844-6
  • Hermes, Herbert: „Straßentheater – Theater zwischen Kunst, Kommerz und Entertainment“ in: Kulturelle Sommerprogramme. Hrsg. von Kulturpolitische Gesellschaft 2003
  • Hüfner, Agnes (Hrsg.): Straßentheater. Frankfurt am Main, Suhrkamp 1970
  • Kohtes, Martin M.: Guerilla Theater. Theorie und Praxis des politischen Straßentheaters in den USA (1965–1970). Tübingen, Günther Narr 1990
  • Simon, Werner (Hrsg.): Spielfelder Band 1: Strasse. Alltag, Politik, Kunst, Strassentheater. München, Kaiser, und Gelsenkirchen/Berlin, Burckhardthaus 1972, ISBN 3-459-00780-X

Siehe auch

  • Wanderbühne (Begriffserkärungsseite mit weiteren Verweisen zur Geschichte des Straßentheaters)

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