- Triebverzicht
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Triebverzicht bedeutet den Verzicht auf das Ausleben von bestimmten Trieben, insbesondere der aggressiven Triebe und des Sexualtriebs, beziehungsweise die gesellschaftlich regulierte Verwirklichung dieser Bedürfnisse. In der Kulturanthropologie stellt der Triebverzicht ein wichtiges Konzept dar, wobei der Begriff des „Verzichts“ schon darauf hinweist, dass es sich hierbei eher um eine ethisch-moralische Bildung handelt; der Begriff des Verzichts behauptet die Freiwilligkeit und leugnet den repressiven Charakter des Vorgangs. Wissenschaftlich korrekt wäre es, hier eher von Triebunterdrückung zu sprechen.
Triebverzicht kann auch in einer individuellen Triebökonomie vorkommen, wobei hier der Verzicht nicht unmittelbar Reaktion auf einen gesellschaftlichen Zwang ist. Hier wird darauf spekuliert, Glücksmomente (Triebabfuhr) durch sparsamen Genuss zu steigern oder, andersherum ausgedrückt, sie nicht abzunutzen.
Inhaltsverzeichnis
Rolle in der Gesellschaft
Insbesondere Sigmund Freud, Vertreter der Frankfurter Schule und Norbert Elias haben sich mit den psychischen Folgen und der gesellschaftlichen Funktion von Triebverzicht beschäftigt: Impulskontrolle sei erst einmal in allen sozialen Gruppen notwendig, um ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen.
Das Ausmaß des Verzichts ist dabei allerdings nicht anthropologisch bestimmt, wie oft fälschlicherweise angenommen, sondern entwickelt sich mit und in seiner jeweiligen Kultur und der ihr eigenen Machtverhältnisse. Das können z. B. Familienstrukturen, Geschlechterverhältnis oder Ökonomische Macht sein. Angewandte Technik zur Erzeugung von Triebverzicht ist Disziplinierung. Diese kann in ihrer unverblümten, militärischen Form auftreten, kann aber auch, wie Michel Foucault gezeigt hat, allein schon durch die Angst der Einzelnen, gesellschaftlichen Normen oder Ansprüchen nicht zu genügen, erfolgen.
Kritik
Problematisch an Triebunterdrückung ist unter anderem, dass ein Trieb ein energetischer Impuls ist, ein Spannungszustand, der auf seine Aufhebung abzielt. Wird z. B. eine sexuelle Triebregung unterdrückt, bleibt ihre Energie dennoch erhalten. Ist eine adäquate Abfuhr oder Sublimierung nicht möglich, findet eine Art Anhäufung dieser Energie statt, die dann, grob gesagt, zur Bildung von Neurosen ausarten kann.
Ein weiterer Gegenstand der Kritik am Triebverzicht ist, dass er als moralische Forderung der Gesellschaft ans Individuum herantritt, ohne dabei auf seine Bedingtheit durch eine aktuelle oder vergangene gesellschaftliche Situation zu reflektieren. Das äußert sich dann in einer fetischisierenden Sichtweise von Triebverzicht; nämlich wenn seine Erscheinungsformen als „Werte“ oder „Tugenden“ bezeichnet werden.
Die fundamentalste Kritik hierzu kommt von den Vertretern der Frankfurter Schule, in Bezugnahme auf die Erkenntnisse Sigmund Freuds, z. B. in Das Unbehagen in der Kultur. In der Dialektik der Aufklärung arbeiteten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno die unmittelbaren Zusammenhänge von verschiedenen Arten der Triebunterdrückung und Antisemitismus, Pogromen und Holocaust heraus. Die Studien zur „Autoritären Persönlichkeit“ von Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford aus dem Jahr 1950 beschäftigen sich mit dem Thema.
Die psychoanalytische Theorie nach Sigmund Freud legt nahe, dass Werturteile und Normen, die zunächst in der Person des Vaters repräsentiert sind, im Laufe der Entwicklung vom Kind internalisiert werden. Dadurch bildet sich die unbewusste Instanz des sogenannten Über-Ichs. Die Auseinandersetzung mit einem autoritären, sehr strengen Vater führt zur Entwicklung eines sehr starken Über-Ichs. Somit müssen von frühester Kindheit an unbewusste Wünsche und Triebe (z. B. Macht, sexuelle Freizügigkeit) unterdrückt werden und unbefriedigt bleiben. Der dadurch ausgelöste unbewusste Konflikt wird dadurch gelöst, dass die Person ihre durch das Über-Ich „verbotenen“ Triebe und Aggressionen auf andere Menschen projiziert. Als Projektionsfläche werden in der Regel ethnische, politische oder religiöse Minderheiten ausgewählt, da hier keine gesellschaftlichen Sanktionen zu befürchten sind. Oft kann auf gesellschaftlich anerkannte Vorurteile zurückgegriffen werden.
Literatur
- Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main (zwei Bände)
- Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Suhrkamp, Frankfurt am Main
- Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: Studienausgabe Band IX, S. Fischer, Frankfurt am Main
- Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Fischer, Frankfurt am Main
- Max Horkheimer, Erich Fromm, Herbert Marcuse (Hrsg.): Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Dietrich zu Kampen Verlag
Siehe auch
Weblinks
Siehe auch: Sozialphilosophie, Sexualrepression, Zivilisation, Abstinenz, Zölibat
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