Verkürzung über die Hälfte

Verkürzung über die Hälfte

Die Laesio enormis (lateinisch, wörtlich: erhebliche Schädigung), deutsch auch Verkürzung über die Hälfte oder Verbot der enormen Verletzung, ist ein Rechtsinstitut mit Ursprung im römischen Recht. Nach heute herrschender Meinung geht die laesio enormis auf zwei Konstitutionen des römischen Kaisers Diokletian aus den Jahren 285 und 293 (C. 4, 44, 2 und C. 4, 44, 8) zurück. Wie Justinians Codex im Jahre 534 übermittelte, konnte ein Grundstückverkäufer, der nicht einmal die Hälfte des wahren Wertes als Preis erhalten hat, den Kaufvertrag mithilfe der laesio enormis aufheben oder die Differenz zum gerechten Preis verlangen (iustum pretium).[1]

Inhaltsverzeichnis

Österreich

Erhält bei einem entgeltlichen Geschäft eine Partei weniger als die Hälfte dessen, was sie der anderen Partei gibt, kann sie den Vertrag aufheben (§ 934 ABGB). Es wird der gemeine Wert zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses herangezogen.

Beispiel: Ein Käufer bezahlt für einen Gebrauchtwagen 10.000 €, welcher aber nur 4.000 € wert ist.

Der Verkäufer kann die Aufhebung dadurch abwenden, dass er sich bereit erklärt, den vollen gemeinen Wert zu zahlen, bzw. rückzuerstatten (im Beispiel: 6000 €).

Eine Ausnahme besteht, wenn der Erwerber erklärt, die Sache zum vereinbarten Entgelt aus besonderer Vorliebe zu kaufen ("Liebhaberei"), oder ihren wahren Wert gekannt hat.

Weitere Ausnahmen:

  • Kauf in Bausch und Bogen
  • Gemischte Schenkung
  • Gerichtliche Versteigerung
  • Vergleich
  • Glücksverträge
  • Wenn sich der eigentliche Wert nicht (mehr) erheben lässt
  • Vermögensaufteilung im Zuge einer einvernehmlichen Scheidung

Die Anwendung des § 934 ABGB kann nicht schon bei Vertragsschluss (wohl aber ggf. danach) ausgeschlossen werden. Die Aufhebung muss innerhalb von drei Jahren ab Vertragsschluss gerichtlich geltend gemacht werden; ein Partner, für den der Vertrag ein Handelsgeschäft ist, kann sich gemäß § 351 öUGB nicht darauf berufen.

Im Falle einer nachträglichen laesio enormis gilt § 1048 ABGB.

Deutschland

Das deutsche Zivilrecht kennt keinen geschriebenen Grundsatz der laesio enormis. Der Bundesgerichtshof geht aber in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein Geschäft nach § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig und damit nichtig ist, wenn ein auffälliges Missverhältnis zwischen dem Wert der Leistung und dem der Gegenleistung besteht. Ein solches Missverhältnis nimmt der Bundesgerichtshof an, wenn die Wertdifferenz bei 100 % liegt.[2] Zusätzlich zu der objektiven Äquivalenzstörung verlangt der BGH aber auch subjektive Faktoren bei der vom Geschäft begünstigten Partei. Regelmäßig müsse noch deren verwerfliche Gesinnung zu bejahen sein.[3] Das sei grundsätzlich dann der Fall, wenn die bevorteilte Vertragspartei das Ungleichgewicht erkannt oder sich dieser Erkenntnis fahrlässig verschlossen hat. Da bei einem besonders groben Missverhältnis der Leistungen laut BGH[4] eine tatsächliche Vermutung für die verwerfliche Gesinnung des Bevorteilten besteht, die erst durch besondere Umstände widerlegt werden müsse, ist in der Literatur von einer Renaissance der laesio enormis die Rede.[5]

Schweiz

Das Schweizerische Obligationenrecht ordnet in seinem Art. 21 ("Übervorteilung") folgendes an: "Wird ein offenbares Missverhältnis zwischen der Leistung und der Gegenleistung durch einen Vertrag begründet, dessen Abschluss von dem einen Teil durch Ausbeutung der Notlage, der Unerfahrenheit oder des Leichtsinns des andern herbeigeführt worden ist, so kann der Verletzte innerhalb Jahresfrist erklären, dass er den Vertrag nicht halte, und das schon Geleistete zurückverlangen" (Abs. 1). "Die Jahresfrist beginnt mit dem Abschluss des Vertrages" (Abs. 2). Die Bestimmung ist bislang nicht häufig angewendet worden, wobei aber doch auf das neuere Leiturteil des Schweizerischen Bundesgerichts BGE 123 III 292 zu verweisen ist.

Ökonomische Analyse des Rechts (law & economics)

Die laesio enormis wurde aus ökonomischer Perspektive, wegen ihrer schlechten Anreizwirkungen abgelehnt. Insbesondere bestehen aufgrund der laesio enormis keine Anreize, in die Produktion von Information zu investieren – zB nach Erdöl, unerkannt gebliebenen wertvollen Kunstwerken etc zu suchen –, wenn diese Information aufgrund dieser Bestimmung nicht verwertet werden kann. (Man darf, wie bereits erklärt, das Kunstwerk des bekannten Malers, dessen "wahrer Wert" € 10000.- beträgt nicht für den vermuteten Wert von € 100.- erwerben. Ein Angebot von € 5001.- würde dem Eigentümer bereits die wertvolle Information signalisieren, also gratis zur Verfügung stellen.) Wird der Informationskostenersatz von der Rechtsordnung unterbunden, werden Suchkosten nicht aufgewendet, womit die Güter nicht gefunden bzw die besondere Eigenschaft der Güter nicht erkannt wird. Die unentdeckt gebliebenen Kunstwerke, Erdölvorkommen etc gehen der sozialen Wohlfahrt verloren. (S Grechenig, Kristoffel, Die laesio enormis als enorme Laesion der sozialen Wohlfahrt?, Journal fur Rechtspolitik, Nr. 1, 2006 (SSRN: http://ssrn.com/abstract=820187).)

Einzelnachweise

  1. Mayer-Maly, Theo: Renaissance der laesio enormis?, in: Festschrift für Karl Larenz zum 80. Geburtstag (Hrsg.: Canaris, Claus-Wilhelm u. a.), 1983, S. 395 ff.; Finkenauer, Thomas: Zur Renaissance der laesio enormis beim Kaufvertrag, in: Festschrift für Harm Peter Westermann zum 70. Geburtstag, 2008, S. 183 (185 f.)
  2. BGH, NJW-RR 1989, 1068
  3. BGHZ 141, 257 (263)
  4. BGH, NJW 2004, 2671 (2673)
  5. Mayer-Maly: Renaissance der laesio enormis?, in: Festschrift für Karl Larenz zum 80. Geburtstag am 23. April 1983, S. 395–409, Hrsg.: Canaris, Claus-Wilhelm/Diederichsen, Uwe, München 1983; Finkenauer, Thomas: Zur Renaissance der laesio enormis beim Kaufvertrag, in: Festschrift für Harm Peter Westermann zum 70. Geburtstag, S. 183–207, Hrsg.: Aderhold, Lutz/Grunewald, Barbara/Klingberg, Dietgard/Paefgen, Walter G., Köln, 2008

Weblinks

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