Verlorene Stämme Israels

Verlorene Stämme Israels

Als die Verlorenen Stämme Israels (aseret ha-schvatim oder ha-shvatim) bezeichnet man die zehn israelitischen Stämme, die nach der Eroberung des Nordreiches Israel durch die Assyrer im Jahr 722/21 v. Chr. unter Sargon II. umgesiedelt wurden (2 Kön 17,6 EU) und seitdem als verschollen gelten. Man nimmt an, dass kleine Teile zurückkehrten, als das babylonische Reich das assyrische später ablöste.

Inhaltsverzeichnis

Hypothesen

Die seitherige jüdische und christliche Religionsgeschichte ist reich an Versuchen, die „verlorenen Stämme“ mit bestehenden Völkern und Stämmen zu identifizieren. Beispielsweise verbreitete sich in England im 19. Jahrhundert die These des Anglo-Israelismus, nach der die angelsächsischen Völker über die Skythen von den Israeliten abstammen sollen.

Einige Stämme der Paschtunen in Afghanistan und Pakistan behaupten, sie gingen auf die Israeliten zurück, und pflegen Bräuche, die den jüdischen ähnlich sind. Die Stammesnamen, die an biblische Patriarchen erinnern, können aber auch durch den Islam an sie gekommen sein.

Der Stamm der Bnei Menashe aus Indien, der sich eine primitive Form der jüdischen Religion bewahrt hatte, wurde in jüngerer Zeit von jüdischen Geistlichen und dem Staat Israel als Juden im religiösen Sinn anerkannt. Ihr Name legt einen Zusammenhang mit dem Stamm Manasse nahe.

Auch die Falascha aus Äthiopien wurden aufgrund ihrer Religion als Juden anerkannt.

Kritik

Einzelne neuere Exegeten gehen davon aus, dass Israel als theologische Größe erst nach 722 v. Chr. bestanden hat. In diesem Fall wäre der Bund der Zwölf Stämme Israels eine Fiktion aus späterer Zeit ohne historische Grundlage und die Suche nach den „Verlorenen Stämmen Israels“ obsolet.[1] Es handelt sich dabei bisher jedoch um Einzelmeinungen.

Da die meisten der genannten Gruppen nur vergleichsweise junge Überlieferungen haben, können sie auch auf spätere jüdische Kolonien zurückgehen oder ihren Kultus (nebst der Überlieferung von den verlorenen Stämmen) von diesen übernommen haben.

Fortwirken als Mythos

Theison stellt 2010 die Ideengeschichte der „verlorenen Stämme“ in Südamerika und Europa seit den Zwangsbekehrungen der Juden auf der iberischen Halbinsel 1492 dar. Der Mythos wirkte in zwei Richtungen: die christlichen Eroberer Südamerikas, z. B. Diego de Landa, behaupteten, dort Indianer, also Ur-Einwohner, mit jüdischen Merkmalen gefunden zu haben (Hebraismen, Hellhäutigkeit, sogar Beschneidungen u.a.). Damit sollte der Kontinent der christlichen Mission zugänglich gemacht werden. Dementsprechend stellte John Eliot den Mythos in den Mittelpunkt seiner Missionsarbeit. Die Millenaristen John Dury und Thomas Thorowgood untermauerten das theologisch und sahen mit der Entdeckung „indianischer Juden“ ein Tausendjähriges Reich anbrechen. Massenhafte Zwangstaufen der Indianer waren die Folge, um das Reich herbeizuführen. Die Indianer sollten den „Sambation“, den Fluss der rabbinischen Tradition, in Richtung Christentum überqueren. Das ist der Kern eines „puritanischen Philosemitismus“.

Theison stellt dann die "Gegenrichtung" des Mythos dar, nämlich die jüdische Seite. Die Spekulationen Eliots und Durys gingen zurück auf Antonio de Montezinos, eigentlich Aaron Levi, dessen neuer Name ihn schon als einen sehr frühen "Zionisten" (mons = Berg, und -zinos aus Zion) ausweist. Sein häufig übersetzter märchenhafter Traktat über Juden, Angehörige des Stammes Reuven im Urwald Südamerikas, vor der Ankunft der übrigen Weißen, ist eine bewegendes Dokument des früh-neuzeitlichen Judentums. Im Gespräch mit den Indianern erkennt Montezinos seine jüdische Identität wieder; erst in Amerika, einem Land der Verheißung, kann er zu seinen Wurzeln zurückkehren. Erinnerung des Verdrängten angesichts anderer Verlorener: das nennt Theison den Beginn einer jüdischen Modernität.

Der Gedanke, dass die weltweite Ausbreitung der Juden Voraussetzung für das Heil ist, wird von Menasse ben Israel politisch gewendet. Unter Berufung auf den Mythos und auf Montezinos fordert er von Oliver Cromwell, dass Juden wieder auf die Insel England einwandern dürfen ("Hope of Israel" 1650). Menasse meint, dass die Juden sich erst in Neuer und Alter Welt ganz verlieren müssen, um die Heilsgeschichte zu erfüllen. Nur England fehlt noch. Hier liegen die Anfänge einer Marranen-Theologie, die für das jüdische Denken ab dem 17. Jh., insbes. die Haskala, wichtig ist. Für die Juden wird es zur Pflicht, sich auf fremdem Gebiet zu bewegen, ohne Eigenes aufzugeben. Erst wenn Israel die Fremde ganz durchschritten haben wird, wird der Messias die verlorenen Stämme über den Sambation geleiten.

Schließlich erwähnt Theison Sabbatai Zwi. Schon 1665 gab es in Europa Berichte aus dem Orient und aus Nordafrika, dass die 10 Stämme sich im Anmarsch auf Gaza und auf die marokkanische "Wüste Goth" befinden, geführt von Sabbatai. So gibt es auch in der auf Sabbatai gründenden jüdischen Theologie das Narrativ der verlorenen Stämme, es wird hier sogar verstärkt. Der Übergang auf das Feld eines anderen und die Erlösung gehören zusammen.

Zu diesem Themenkomplex gehört auch, bei Theison nicht thematisiert, der Mythos vom wandernden Juden, der in seiner negativen Zuspitzung in der Form der Protokolle der Weisen von Zion in der Shoah geschichtsmächtig wurde und unter den Antisemiten weltweit weiter wirkt.

Bibliographie

  • Philipp Theison: Am Sambation. Im Mythos von den verlorenen Stämmen wurzelt die Geschichte der Neuzeit; auch die Geschichte der jüdischen Neuzeit. Obertitel: "Entdeckung und Vertreibung. Ein Mythos und seine Varianten." in Aufbau 10, 2010, Okt., S. 12 - 14
  • Édith Bruder: Black Jews of Africa. Oxford 2008
  • Tudor Parfitt: The Lost Tribes of Israel. The History of a Myth. London 2002
  • Shalva Weil: Beyond the Sabatyon. The Myth of the Ten Tribes. Tel Aviv 1991

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Vgl. R. G. Kratz: Israel als Staat und als Volk., in Zeitschrift für Theologie und Kirche 97, 2000, S. 1-17; Uwe Becker: Von der Staatsreligion zum Monotheismus. Ein Kapitel israelitisch-jüdischer Religionsgeschichte. in Zeitschrift für Theologie und Kirche, 102, 2005, S. 1-16.

Weblinks


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