Vollertsen

Vollertsen

Norbert Vollertsen (* 10. Februar 1958 in Düsseldorf) ist ein deutscher Notarzt und Aktivist für Menschenrechte in Nordkorea, der eine nordkoreanische Freundschaftsmedaille erhielt.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Vollertsen studierte Medizin und legte 1985 sein letztes Examen ab, bevor er eineinhalb Jahre auf den Malediven als Notarzt tätig war. Dort lernte er seine spätere Ehefrau als Touristin kennen, heiratete, lebte mit ihr ab 1989 in Göttingen und zeugte mit ihr vier Söhne. Der ausgebildete und promovierte Kinderarzt hatte seine eigene Arztpraxis und seine eigenen Vorstellungen: Da er die in Deutschland praktizierte Medizin vielfach als zu einseitig apparate- und pharmalastig und zu wenig als am Menschen orientiert fand, protestierte er. Mit den Gesundheitsbehörden und den Medizinalverbänden stritt er über die dem Arzt pro Patienten zur Verfügung stehende Zeit, führte Demonstrationen gegen die von ihm erkannten Missstände an. 1998 wurde Vollertsen in Göttingen zu einer Geldstrafe von 3000 Mark verurteilt, weil er in einem Gerichtssaal mit einer Schreckschusspistole und einer Spritze hantierte. Er habe damit gegen die deutsche Gesundheitspolitik protestieren wollen, sagte er damals. Als man ihn aufforderte, das Gebäude zu verlassen, stürzte er sich eine Treppe hinunter. Aus Protest. Schnell erwarb er sich damit den Ruf eines „Rebellendoktors“. Am Abend des 23. März 1999 ging Vollertsen ins Kino. Zu diesem Zeitpunkt lebte er bereits von seiner Frau getrennt. Drei Jahre zuvor hatte er im Jahreshoroskop der Frauenzeitschrift „Cosmopolitan“ gelesen, dass er mit „umwälzenden Veränderungen“ in seinem Leben rechnen müsse. Aus irgendeinem Grund glaubte Vollertsen seitdem an diese spektakuläre Wendung. An jenem Märzabend sah er „Patch Adams“, einen Film über einen Arzt, der nach neuen Wegen sucht. Der Film, die Cosmopolitain, für Vollertsen passte alles zusammen. Am nächsten Tag machte er seine Praxis zu und ging zu dem deutschen Notärzte-Komitee Cap Anamur.

Notarzt in Nordkorea

Vollertsen trat dem Verein „Cap Anamur - Deutsche Notärzte“ bei, um eine Zeitlang im Ausland zu arbeiten. Man ließ ihm die Wahl zwischen Nordkorea und Südsudan. Da er nirgendwo einen Reiseführer über Nordkorea finden konnte, entschied er sich 1999 für Nordkorea. Dort arbeitete er 18 Monate und führte darüber Tagebuch.

Am ersten Tag nach seiner Ankunft erlebte er ein einem Krankenhaus in Sinwon, einer Stadt unweit der Hafenstadt Haeju die erste Operation in Nordkorea: Eine Blinddarmoperation ohne jede Art von Narkose. Er hielt der jungen Patientin eine halbe Stunde lang die Hand, während ihr die Tränen herunter rannten, ohne dass sie einen Laut von sich gab. Das Krankenhaus verfügte über keine Medikamente, keine Desinfektionsmittel, keine Injektionsnadeln, nicht einmal Seife. Der Betonfußboden des Operationssaals war mit Blutspritzern übersät. Es gab keine Toiletten in der Einrichtung und Wasser musste mit Eimern herangeschafft werden. Der Operationstisch war vor dem Fenster aufgebaut, damit der Chirurg etwas sehen konnte.

Er erlebte eine Vielzahl von Nordkoreanern, deren Angst man förmlich sehen kann, schilderte Vollertsen. Kurz nach seiner Ankunft in Haeju erschrak er, als er einen Mann verlassen in einer Ecke des muffigen Krankenhauses völlig in schmutzig-blutigen Verbänden eingehüllt sah. Die Haut des Patienten, eines Arbeiters, war durch heißes Eisen zu Zweidritteln verbrannt - akute Lebensgefahr: Die Krankenhausleitung schien überrascht, dass er noch am Leben war. Die Nordkoreaner organisierten eine Transplantation, zu der 150 Ärzte und Schwestern ein Stück ihrer Haut spendeten. Auch Vollertsen und sein deutscher Kollege spendeten freiwillig ein Stück ihrer Haut. Sie wurde mit einer Rasierklinge entfernt, weil nicht genügend Skalpelle zur Verfügung standen. Wie durch ein Wunder überlebte der Patient. Vollertsen erlangte durch die Berichterstattung in den lokalen nordkoreanischen Medien schnell eine gewisse Bekanntheit, galt als Held. Ein lokales Fernsehteam berichtete, als er ein zweites Mal Haut spendete. Vollertsen wurde dafür die Freundschaftsmedaille und ein VIP-Pass verliehen - erstmalig an Ausländer in Nordkorea!

Dank der Freundschaftsmedaille, die er seit dem sichtbar trug, dem VIP-Pass und seiner koreanischen Sprachkenntnisse gelang es ihm, einen nordkoreanischen Führerschein zu machen. Er erhielt ein eigenes Auto. So durfte er sich ohne Dolmetscher und "Guide" allein im Land bewegen. Uniformierte verlangten keine weiteren Genehmigungen oder Dokumente, sondern ermöglichten ihm Zugang zu vielen Orten, an denen kein westlicher Mensch vorher gewesen war. Er wurde Zeuge der Unterernährung, während Parteikader sich in neuen Mercedes-Benz durch das Land chauffieren lassen. So fotografierte er heimlich seine Patienten und ihre baufälligen Unterkünfte und beließ es nicht beim Besuch der ihm zugewiesenen 10 Krankenhäuser und 3 Waisenhäuser. Er sah nur zerbrochene Bierflaschen als Tropf. Antibiotika waren nicht vorhanden. Mangels Medikamenten und Verbandsstoffen wurden keine größeren Operationen durchgeführt.

Vollertsen ist sich sicher, das Land besitzt eine Zweiklassengesellschaft: Während die Kader in durchaus angenehmen Verhältnissen mit Restaurants und europäischem Essen leben, lebt die arbeitende Klasse in ärmlichsten Verhältnissen und leidet an Unterernährung. Mangel herrscht nicht nur an Nahrungsmitteln, sondern auch an Wasser, im Winter an Heizung, Hygiene... Sein Urteil: Die Hungersnot ist von Menschen gemacht! Er wurde Zeuge, wie Acht- bis Neunjährige zu Nachtarbeit zum Bau der „Autobahn jugendlicher Helden“ gezwungen wurden und Frauen im Rentenalter die Straße kehren mussten.

Auf einer Dienstreise zusammen mit einer deutschen Krankenschwester nach Pukchang, 50 km nördlich von Pjöngjang sah er einen Anfang 20jährigen Uniformierten mitten auf der Straße liegen und zwang seinen Fahrer, zu halten. Unter dem Hemd des Toten fand er Narben an Hals und Rücken. Die ostdeutsche Krankenschwester erkannte sofort, dass der Mann gefoltert worden war. Für Vollertsen war es der Schlüssel zur Erklärung für die viele Furcht und Apathie in den Gesichtern, die er zuvor beobachtet hatte.

Menschenrechtsaktivist

Dies war ein so durchgreifendes Erlebnis für Vollertsen, dass er sich entgegen den Gepflogenheiten für Personal auf humanitären Einsätzen entschloss, etwas zu unternehmen und sein Schweigen zu brechen: Er erkundigte sich nach dem Grund für die Verletzungen des jungen Soldaten und stieß auf eine Mauer des Schweigens. Fahrer und Übersetzer sah er vom gleichen Tag nicht wieder. In harschen Worten schrieb Vollertsen eine „Erklärung humanitärer Prinzipien“ auf, in der er die Regierung der Misshandlung beschuldigte: Vom Gebrauch erzwungener Arbeit über willkürliche Verhaftungen bis zu Folter warf er ihr vor und gab dies an deutsche Journalisten und ein Mitglied des US-Kongresses, der sich auf einer Reise in Nordkorea aufhielt.

Den Besuch von US-Außenministerin Madeleine Albright im Oktober 2000 in Nordkorea nutzte Vollertsen, um einige internationale Journalisten auf die täglich am Stadtrand Pjöngjangs einströmenden Hungernden aufmerksam zu machen. Er warf dem Regime vor, einen bedeutenden Teil der großen internationalen Nahrungshilfe nicht an die Ärmsten zu verteilen. Keiner ausländischen Organisationen ist erlaubt, in Nordkorea die Verteilung ihrer Hilfsgüter selbst zu beobachten oder zu überwachen. Keine Organisation weiß, ob ihre Hilfsgüter den Kadern oder Armeeangehörigen geschenkt oder im Ausland verkauft werden. Obwohl Vollertsen von gelieferten Medikamenten und Bandagen wusste, waren sie in den Krankenhäusern nicht verfügbar. Nicht einmal das Internationale Komitee vom Roten Kreuz erhält Zugang zu den „Reforminstitutionen“, in denen ganze Familien eingesperrt werden, wenn eines ihrer Mitglieder dem Regime durch eine Äußerung oder Handlung, wie z.B. Flucht nach China zweifelhaft erscheint.

In den nordkoreanischen Medien wurde Vollertsen dafür als „Anarchist“ gebrandmarkt. Individueller Terror sollte ihn zur Abreise bewegen: Mal waren die Reifen an seinem Auto zerstochen, mal fehlte die Bremsflüssigkeit. Doch die Geduld der verärgerten Nordkoreaner reichte nicht einmal zu seiner Vertreibung. Zum 30. Dezember 2000 wiesen sie ihn aus und setzten ihn in den Zug nach China. Von dort reiste Vollertsen sofort in die südkoreanische Hauptstadt Seoul, wo er eine Kampagne gegen das nordkoreanische Regime und für nordkoreanische Flüchtlinge startete, die er in Südkorea, China und Thailand traf. Er reiste mit Hilfsgütern an die Demarkationslinie in Panmunjom und wollte eine Stegreifrede über Menschenrechte halten, wofür er festgenommen wurde.

Er will nicht die „Sonnenscheinpolitik“ der gegenwärtigen südkoreanischen Regierung sabotieren, sondern unbedingt Öffentlichkeit über die Menschenrechtssituation in Nordkorea herstellen. Er verweist auf das Beispiel der deutschen Einheit, bei der durch den Strom der Botschafts- und Ungarnflüchtlinge monatelang eine solche Medienaufmerksamkeit erzeugt wurde, dass sich das Regime diesem Druck nicht mehr entziehen konnte. Zu diesem Zweck hatte er sich nach ein paar spektakulären Fluchtaktionen von Nordkoreanern 2002, die nach Grenzübertritt von den Chinesen festgenommen und nach Nordkorea abgeschoben wurden, entschlossen, kleine Radios mit Luftballons über die innerkoreanische Grenze oder über das Meer zu befördern. Die Südkoreaner ließen es nicht zu dieser unangemeldeten Demonstration kommen und nahmen ihn fest.

Er will die Sechsmächteverhandlungen zu nordkoreanischen Atomwaffen und die Olympischen Spiele in Peking zu mehr Öffentlichkeit über Nordkorea in den Medien nutzen, das er mit einem Konzentrationslager vergleicht: Er verweist auf Art. 45ff. des nordkoreanischen Strafgesetzbuchs. Vollertsen beklagt das Fehlen jeder Freiheit der Rede, der Bewegung, der Presse, des Glauben usw. Obwohl die christliche Kirche in Pjöngjang angeblich 3.000 aktive Mitglieder besitzt und wöchentlich einen Sonntagsgottesdienst abhält, wiesen die Stühle und Bänke eine unübersehbare Staubschicht auf. Vollertsen sah an keinem Sonntag irgendwelche Aktivitäten dort. Vollertsen wirft Kim Jong-il, dem Generalsekretär der nordkoreanischen Partei der Arbeit Koreas Völkermord vor.

Nachdem er von der südkoreanischen Hauptstadt Seoul aus drei Jahre gegen das stalinistische Regime Nordkoreas kämpfte, fühlte er sich dort immer unsicherer. Seine Familie in Deutschland und er wurden Ziel von Morddrohungen; er selbst wurde bei einer Demonstration von Nordkoreanern in Südkorea angegriffen und von der anwesenden südkoreanischen Polizei nicht geschützt, sondern geschlagen. Bei einem Besuch von US-Außenministerin Condoleezza Rice in Südkorea schlugen ihn auch US-Sicherheitsleute, als er am 21. März 2005 ein Poster entrollen wollte, mit dem er gegen den Hunger in Nordkorea protestieren wollte.

Manche, darunter Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, bezeichnen ihn entweder als „naiven Spinner“ oder als Größenwahnsinnigen. Im Oktober 2002 äußert er in einem Gespräch mit der Berliner Zeitung, dass er den Friedensnobelpreis wohl nicht annehmen würde, weil lange Reden halten und noch längere hören eigentlich nicht sein Fall seien. Vielleicht, so Vollertsen, käme der Alternative Friedensnobelpreis infrage.

Vom Januar bis Mai 2005 arbeitete Vollertsen als Notarzt in Banda Aceh, Indonesien und versorgte Opfer des Tsunamis, kehrte aber mit den übrigen Hilfsteams nicht nach Deutschland, sondern nach Südkorea zurück, um an drei weiteren, nicht genehmigten politischen Veranstaltungen teilzunehmen. Am 4. Juni 2005 wies ihn Südkorea aus.

Werke

Vollertsen, Norbert: Inside North Korea, Diary of a mad place, Encounters Books 2004, ISBN 1-893554-87-2

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