Von dem Machandelboom

Von dem Machandelboom

Von dem Machandelboom (Vom Wacholderbaum) ist ein deutsches Märchen (ATU 720). Es steht in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm an Stelle 47 (KHM 47) auf Plattdeutsch. Bis zur Zweitauflage hieß es Van den Machandel-Boom, bis zur 4. Auflage Van den Machandelboom. Ludwig Bechstein übernahm es in sein Deutsches Märchenbuch 1845 als Nr. 64 Vom Knäblein, vom Mägdlein und der bösen Stiefmutter, 1853 als Nr. 66 Der Wacholderbaum.

Das Märchen geht auf den Maler Philipp Otto Runge zurück; es wurde erstmals in Achim von Arnims Zeitung für Einsiedler unter dem Titel Von den Ma[c]handel Bohm veröffentlicht.[1]

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Die fromme Frau eines reichen Mannes wünscht sich beim Schälen eines Apfels unter dem Wacholderbaum, wobei sie sich in den Finger schneidet, ein Kind so rot wie das Blut und so weiß wie der Schnee. Sie wird schwanger, stirbt bei der Geburt des Sohnes und wird unter dem Baum begraben.

Nach der Trauer heiratet der Mann eine Frau, die mit ihm eine Tochter hat, aber den Stiefsohn hasst. Als einmal die Tochter einen Apfel will, nimmt sie ihn ihr weg, um erst dem Bruder einen anzubieten. Als er sich aber in die Truhe bückt, schlägt sie ihm mit dem Deckel den Kopf ab. Erschrocken setzt sie ihn wieder auf, bindet ein Halstuch um und setzt ihn mit dem Apfel in der Hand vors Haus. Sie lässt die Tochter ihm eins auf die Ohren geben, da er nicht antwortet, so dass der Kopf abfällt. Dann kocht sie ihn in der Suppe, und die Tochter weint hinein. Der Vater ist traurig, als er hört, sein Sohn sei plötzlich weggegangen, aber die Suppe schmeckt ihm.

Die Tochter sammelt die Knochen und legt sie weinend in ein Seidentuch unter dem Baum. Da wird ihr licht, die Wacholderzweige bewegen sich wie Hände, und aus einem Feuer im Nebel fliegt ein schöner singender Vogel. Die Knochen sind weg. Der Vogel singt auf dem Dach eines Goldschmieds, eines Schusters und auf dem Lindenbaum vor einer Mühle. Für die Wiederholung verlangt er eine Goldkette, rote Schuhe und einen Mühlstein. Dann singt er zu Hause auf dem Wacholderbaum, wodurch dem Vater wohl und der Mutter angst wird. Er wirft dem Vater die Kette um den Hals, der Schwester die Schuhe auf den Boden und der Mutter den Mühlstein auf den Kopf. Der Sohn ersteht aus Dampf und Flamme wieder. Die drei essen vergnügt.

Sprache

Das Märchen ist auf Plattdeutsch abgedruckt. In späteren Versionen (ab der 5. Ausgabe) sind Titel und das Lied des Vogels jedoch auf Hochdeutsch:

„Mein Mutter, der mich schlacht’,
mein Vater, der mich aß,
mein Schwester, der Marlenichen,
sucht alle meine Benichen,
bind’t sie in ein seiden Tuch,
legt’s unter den Machandelbaum.
Kywitt, kywitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik!“

Herkunft

Grimms Anmerkung notiert die Herkunft von Runge, der es nach der Volkserzählung aufgeschrieben habe, und nennt eine Variante nach Moné, wonach das Schwesterchen die Suppe kochen muss und sieht, wie Brüderchen das Händchen herausstreckt. Es begräbt die Knochen oder hängt sie zum Speicher hinaus. Das Vögelchen pfeift:

„mei Moddr hot mi toudt g'schlagn,
mei Schwestr hot mi hinausgetragn,
mei Vaddr hot mi gesse:
i bin doch noh do!
Kiwitt, Kiwitt.“

In der Pfalz erzähle man, dass die Kinder für Erdbeeren aus dem Wald einen Apfel bekommen sollten, Brüderchen lässt Schwesterchen an einen Baum gebunden zurück, da muss er es erst heimbringen (wohl ebenfalls nach Moné).

In Hessen laute der Vers:

„meine Mutter kocht mich,
mein Vater aß mich,
Schwesterchen unterm Tische saß,
die Knöchlein all all auflas,
warf sie übern Birnbaum hinaus,
da ward ein Vögelein daraus,
das singet Tag und Nacht.“

In Schwaben bei Meier Nr. 2:

„zwick! zwick!
ein schönes Vöglein bin ich.
Mein Mutter hat mich kocht,
mein Vater hat mich geßt.“

Göthe habe das Lied für Faust sicher aus altem Hörensagen aufgenommen:

„meine Mutter die Hur,
die mich umgebracht hat,
mein Vater der Schelm,
der mich gessen hat,
mein Schwesterlein klein
hub auf die Bein,
an einem kühlen Ort,
da ward ich schönes Waldvögelein,
fliege fort, fliege fort!“

In Südfrankreich sei die Handlung gleich, das Lied laute nach Feuilleton des Globe 1830 Nr. 146 von C. S.:

ma marâtre
pique pâtre
m'a fait bouillir
et rebouillir.
mon père
le laboureur
m'a mangé
et rongé.
ma jeune soeur
la Lisette
m'a pleuré
et soupiré:
sous un arbre
m'a enterré,
riou, tsiou, tsiou!
je suis encore en vie.

In einem schottischen Märchen bei Leyden pfeife der Geist eines Kindes als Vogel seinem Vater zu:

„pew wew, pew wew, (pipi, wiwi,)
my minny me slew“

Vergleichbar sei Albert Höser in Blätter für literar. Unterhaltung 1849 Nr. 199. In Südafrika gebe es ein ähnliches Märchen. Grimms stellen etymologische Überlegungen an zu Marleenken (Marianchen, Marie Annchen), Machandel (Wacholder, auch Queckholder). Die Stiefmutter erinnere an viele andere Märchen, das in den Finger schneiden an Schneewittchen und eine Stelle in Parzival (dazu Altdeutsche Wälder 1, 1-13), das Knochensammeln an Osiris, Orpheus, Adalbert, KHM 81 Bruder Lustig, KHM 46 Fitchers Vogel, ein altdän. Lied von der Mariböquelle, die deutsche Sage vom ertrunkenen Kind (1. St. 62), Der Pfaffe Amis, die Negerfrage bei Manni. Zeus ersetzt das von Demeter gegessene Schulterblatt des Kindes durch Elfenbein, Thor belebt aufgezehrte Böcke (Dämesage 38). Zum Mühlsteins vergleichen sie Fialar und Galar in der Edda und KHM 90 Der junge Riese.

Typisierung und verwandte Märchen

Vom Machandelbaum gehört zu den Stiefmuttermärchen wie Schneewittchen oder Aschenputtel, es ist auch verwandt mit Geschwistermärchen wie Brüderchen und Schwesterchen, wo die Schwester den Bruder verliert und erlöst. Der Totenvogel ist sehr ähnlich in De drei Vügelkens, ferner Der Räuberbräutigam, Der singende Knochen (Flöte), Hänsel und Gretel (Hänsels „Täubchen“), Märchen von der Unke, Das singende springende Löweneckerchen, Fitchers Vogel.

Interpretation

Almut Bockemühl vergleicht das Märchen mit dem Nachtigallenmythos von Tereus und Prokne, dem Dionysos-Mythos, aber auch Motiven des Schamanismus und dem christlichen Osterfest.[2]

Laut Wilhelm Salber besteht der Kern letztlich in Totalitätsansprüchenen, die sich in eigentümlicher Privatmythologie und Selbstunsicherheit ausdrücken, was nur überwunden werden kann durch Zulassen von Ergänzung und Wandel.[3]

Adaptionen

  • Johann Wolfgang von Goethe verwendet das Märchen vom Machandelbaum am Ende von Faust I; Gretchen singt das Lied des Vogels in etwas abgewandelter Form, als sie im Kerker sitzt (siehe Grimms Anmerkung).
  • Roderick Watkins schrieb eine Oper mit dem Märchenstoff: The Juniper Tree, An Opera in One Act (aufgeführt auf der Musikbiennale für neues Musiktheater, Frühjahr 1997 in München)

Literatur

  • Brüder Grimm. Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen herausgegeben von Heinz Rölleke. Band 3: Originalanmerkungen, Herkunftsnachweise, Nachwort. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe. Reclam, Stuttgart 1994. ISBN 3-15-003193-1, S. 89-91, 462.
  • Belgrader, M.: Das Märchen von dem Machandelboom. Frankfurt, Bern, Cirencester 1980.
  • Burkert, W.: Vom Nachtigallenmythos zum Machandelboom. In: Mythos in unseren Märchen. Veröffentlichungen der Europ. Märchengesellschaft Nr. 6, 1984. S. 113–125.
  • Derungs, K.: Archaische Naturmotive in der Zaubermärchen. In: Die ursprünglichen Märchen der Brüder Grimm. Bern 1999.
  • Harva, U.: Die religiösen Vorstellungen der altaischen Völker. Helsinki 1938.
  • Just, G.: Magische Musik. Frankfurt 1991.
  • Meuli, K.: Bettelumzüge im Totenkultus, Opferritual und Volksbrauch. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Nr. 28, 1927, S. 1–38 oder in: Gesammelte Schriften. Basel, Stuttgart 1976.
  • Oberfeld, C.: Der Wacholderbeem, ein Mythenmärchen? In: Hessische Blätter für Volkskunde Nr. 51/52, 1960, S. 218–223.
  • Uhsadel-Gülke, C.: Knochen und Kessel. Meisenheim 1972.
  • Uther, Hans-Jörg: Handbuch zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Berlin 2008. S. 110–114. (de Gruyter; ISBN 978-3-11-019441-8)

Weblinks

 Wikisource: Vom Machandelbaum – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

  1. Von den Ma[c]handel Bohm. In: Achim von Arnim (Hrsg.): Zeitung für Einsiedler. Juli 1808, S. 229–237
  2. Bockemühl, Almut: Initiation und Christentum. Das Märchen vom Machendelboom. In: Gehrts, Heino und Lademann-Priemer, Gabriele (Hrsg.): Schamanentum und Zaubermärchen. Kassel, 1986. S. 147-159. (Erich Röth-Verlag; ISBN 3-87680-344-6)
  3. S. 108-110.

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