Wirtsvolk

Wirtsvolk

Wirtsvolk ist ein in der Biologie verwendeter Begriff, der insbesondere zur Kennzeichnung von Ameisen- und Bienenvölkern verwendet wird, die von Parasiten befallen sind.[1]

In der zweiten Hälfte des 19. und ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff im Biologismus und essentialistisch begründeten Sozialdarwinismus unter einem antisemitischen Vorzeichen als politisches Schlagwort verwendet.[2] In der Zeit des Nationalsozialismus wurde das Wort in einen rassistisch fundierten Dualismus zwischen „Ariern“ und „Juden“ eingewoben,[3] wobei das schillernde Bild des „jüdischen Parasiten“ mit der naturhaften Wirklichkeit identifiziert wurde.[4] Eingearbeitet wurde das Wort dabei auch in eine Metaphorik von „Blut“ und „Lebenssaft“ des „Volkes“, auf das es Juden als personifizierteVampire“ abgesehen hätten.[5]

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Wort in der Science-Fiction-Literatur ebenso in einen Zusammenhang mit dem Schreckensbild eines Mutanten gebracht, der sich ohne Verlust des eigenen Wesens äußerlich einem Wirtsvolk „anverwandelt“ und dieses „zersetzt“.[6]

Geschichte

Die antisemitische Idee des Wirtsvolks ist auf das Engste mit der Vorstellung von einem „Volkskörper“ verbunden,[7] wobei sich diese Vorstellung seit dem abendländischen Mittelalter im Rahmen von Säkularisierungsprozessen zusammen mit einer christlich-religiös gedeuteten Blutmetaphorik herausgebildet hat.[8] In einem Aufsatz von Martin Luther aus dem Jahre 1543 ist zu lesen, dass die Italiener dem Hauswirt „Küche, Keller, Kasten und Beutel“ einnehmen würden – und er ergänzte:

„Ebenso tun uns die Juden, unsere Gäste, auch; wir sind ihre Hauswirte.“[9]

Popularisiert wurde die Rede vom Wirtsvolk indessen in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts von Heinrich von Treitschke, Eduard von Hartmann sowie Eugen Dühring.[9]

In der Zeit der Weimarer Republik spielte die Idee eines Wirtsvolks in der nationalsozialistischen Propaganda eine bedeutsame Rolle. 1924 griff Adolf Hitler in seinem Werk Mein Kampf zur Veranschaulichung seiner Rassentheorie auf einen ganzen Katalog von Begriffen aus der Biologie und Medizin zurück, um diese in politische Metapher zu überführen.[10] Dabei reihte sich ebenso die Metapher des Wirtsvolks in sein verwendetes Vokabular ein. Gleichsam das tradiert antisemitische Bild vom ewigen Juden aufnehmend schrieb Hitler:

„Er ist und bleibt der ewige Parasit, ein Schmarotzer, der wie ein schädlicher Bazillus sich immer mehr ausbreitet, sowie nur ein günstiger Nährboden dazu einlädt. Die Wirkung seines Daseins aber gleicht ebenfalls der von Schmarotzern: wo er auftritt, stirbt das Wirtsvolk nach kürzerer oder längerer Zeit ab.”[11]

Zwischen 1929 und 1931 veröffentlichte Ulrich Fleischhauer, ehemaliger Oberstleutnant der „Kaiserlichen Armee“, einer der Hauptpropagandisten der ab 1923 vom NSDAP-Chefideologen Alfred Rosenberg publizierten Protokolle der Weisen von Zion und Herausgeber der international verbreiteten Zeitschrift Welt-Dienst, vier von geplanten sechs großvolumigen Bänden seines programmatischen Nachschlagewerks „Sigilla Veri“. Der Inhalt dieser Bände, die gemäß dem ersten Band als „Grundlage für die Wissenschaft der Gegenrasse“ gedacht waren, war laut den Autoren eine „Judäologie“, worunter sie die „Kunde von den Tricks, Täuschungen und Verstellungen, womit sich der Jude in die Wirtsvölker bohrt“ verstanden.[12]

Der Publizist Karl Anton Rohan, der seit Ende 1931 auf eine Verbindung zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus hoffte, legte sich seitdem auf einen biologischen Antisemitismus fest, wobei er 1932 in der Zeitschrift Europäische Revue zugleich die Assimilationsthematik ins Blickfeld nahm. Rohan schrieb:

„Politisch wird die Judenfrage im antisemitischen Sinne immer nur dort und dann, wenn das Wirtsvolk sich von dem ‚Fremden‘, ‚Anderen‘ im ‚Jüdischen‘ bedrängt fühlt; sei es, daß zu viele und zu wenig assimillierte Juden vorhanden sind, sei es, daß sie zu großen Einfluß auf die öffentlichen Geschäfte und die Wirtschaft nehmen oder im Geistesleben eine für das Wirtsvolk unerträglich bedeutende Rolle spielen.“[13]

Der Psychologe Carl Gustav Jung, der mindestens bis 1936 dem nationalsozialistischen Deutschland nahe stand, unterschied 1934 in seinem Aufsatz „Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie“ zwischen einem „jüdischen“ und „arischen“ Unbewussten, wobei er letzterem eine größere „religiöse Tiefe“ sowie ein höheres „schöpferisches Potential“ beimaß. Daraus leitete Jung für sich den Schluss ab, dass „der Jude“ zur Entfaltung von „Instinkten“ und „Begabungen“ auf „ein mehr oder weniger zivilisiertes Wirtsvolk“ angewiesen sei.[14]

In dem NS-Propagandafilm Der ewige Jude, der während des Zweiten Weltkriegs anlief, wurde das antisemitische Bild der Zersetzung auf die Spitze getrieben. So hieß es in dem Begleitwort:

„Immer dort, wo sich an einem Volkskörper eine Wunde zeigt, setzen sie sich fest und ziehen aus dem zerfallen Organismus ihre Nahrung. Mit den Krankheiten der Völker machen sie ihre Geschäfte und darum sind sie bestrebt, Krankheitszustände zu vertiefen und zu verewigen. (…) Darin liegt die ungeheure Gefahr. Denn auch diese assimilierten Juden bleiben immer Fremdkörper im Organismus des Gastvolkes, so sehr sie ihm äußerlich ähnlich sehen mögen.“[15]

Noch im selben Jahr, 1943, griff auch der Schriftsteller Wilhelm Arp die Assimilationsthematik auf, benutzte das politische Symbol „Assimilationsjude“ und brachte es ebenfalls in einen Zusammenhang mit dem Bild vom Wirtsvolk.[16]

Einzelnachweise

  1. Walter Kirchner: Die Ameisen. Biologie und Verhalten. München 2001, S. 101 ff., ISBN 3-406-44752-X; Sabine Steghaus-Kovac: Bienen, Wespen und Ameisen. Nürnberg 2004, S. 13 ff., ISBN 3-7886-0259-7; Steffen Wünsch: Das Massensterben der Honigbiene APIs mellifera. Eine Diskussion möglicher Ursachen. München 2008, S. 41 ff., ISBN 3-638-89605-6.
  2. Wolfgang Benz: Was ist Antisemitismus? München 2004, S. 86, ISBN 3-406-52212-2; Ernst Wenisch: Memoiren und Aufsätze gegen den Nationalsozialismus 1933-1938. Mainz 1994, S. 347, ISBN 3-7867-1737-0.
  3. Manfred Brocker (Hrsg.): Unfriedliche Religionen? Das politische Gewalt- und Konfliktpotenzial von Religionen. Wiesbaden 2005, S. 83, ISBN 3-531-14786-2.
  4. Alexander Bein: „Der jüdische Parasit“. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 13 (1965), Heft 2, S. 129.
  5. Rolf Giesen: Der phantastische Film. Zur Soziologie von Horror, Science-fiction und Fantasy im Kino. Teil 2: Mythologie. Schondorf (Ammersee) 1980, S. 259, ISBN 3-881-44214-6.
  6. Massimo Ferrari Zumbini: Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus - Von der Bismarckzeit zu Hitler. Frankfurt a.M. 2003, S. 13, ISBN 3-465-03222-5.
  7. Eckhard Rohrmann: Mythen und Realitäten des Anders-Seins. Gesellschaftliche Konstruktionen seit der frühen Neuzeit. Wiesbaden 2007, S. 94, ISBN 3-531-15527-X.
  8. Christina von Braun: Viertes Bild: Blut und Blutschande. Zur Bedeutung des Blutes in der antisemitischen Denkwelt. In: Julius H. Schoeps / Joachim Schlör (Hrsg.): Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus - Vorurteile und Mythen. Augsburg 1999, S. 89, ISBN 3-8289-0734-2.
  9. a b Alexander Bein: „Der jüdische Parasit“. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 13 (1965), Heft 2, S. 128.
  10. Marcel Atze: „Unser Hitler“. Der Hitler-Mythos im Spiegel der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Göttingen 2003, S. 152, ISBN 3-89244-644-X.
  11. Zitiert in: Karl-Volker Neugebauer (Hrsg.): Grundkurs deutsche Militärgeschichte. Bd. 2: Das Zeitalter der Weltkriege. München / Oldenbourg 2007, S. 210, ISBN 3-486-58099-X. (Quelle: Hitler: Mein Kampf. München 1942, S. 333 ff.)
  12. Magnus Brechtken: Madagaskar für die Juden. Antisemitische Idee und politische Praxis 1885-1945. München 1997, S. 44 f., ISBN 3-486-56240-1. (Quelle: Sigilla Veri, Bd. I, S. 33 und 55.)
  13. Zitiert in: Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund. München / Oldenbourg 2005, S. 400, ISBN 3-486-57736-0. (Quelle: Karl Anton Rohan: Einige Bemerkungen zur Judenfrage. In: Europäische Revue, Jg. 8 (1932), Bd. 2, S. 458.)
  14. Felix Wiedemann: Rassenmutter und Rebellin. Hexenbilder in Romantik, völkischer Bewegung, Neuheidentum und Feminismus. Würzburg 2007, S. 114, ISBN 3-8260-3679-4 (Quelle: C.G. Jung: Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie - 1934. In: Zivilisation im Übergang, S. 190 f.)
  15. Zitiert in: Christina von Braun: Viertes Bild: Blut und Blutschande. Zur Bedeutung des Blutes in der antisemitischen Denkwelt. In: Julius H. Schoeps / Joachim Schlör (Hrsg.): Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus - Vorurteile und Mythen. Augsburg 1999, S. 93.
  16. Volker Böhnigk: Kulturanthropologie als Rassenlehre. nationalsozialistische Kulturphilosophie aus der Sicht des Philosophen Erich Rothacker. Würzburg 2002, S. 50, ISBN 3-8260-2194-0. (Quelle: Wilhelm Arp: Deutsche Bildung im Kampf um Begriffe und Gestalt unseres arteigenen Menschentums. Leipzig 1943, S. 40.)

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