Überalterung

Überalterung
Prognostizierte Altersverteilung für Deutschland im Jahr 2050

Unter Überalterung versteht man die Veränderung der so genannten Alterspyramide hin zu einem höheren mittleren Bevölkerungsalter und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Gesellschaft. Der Begriff Überalterung ist wissenschaftlich problematisch, zumal das zugrundeliegende Thema der Demografie präziser durch Unterjüngung zu beschreiben wäre. Denn als problematisch im Hinblick auf Wirtschaft oder Generationenvertrag wird gemeinhin nicht die Existenz älterer Menschen, sondern das Ausbleiben von Kindern und ggf. nachwachsender Leistungserbringer diskutiert. Insofern schwingen bei der Auswahl und Verwendung des Begriffes Überalterung stets auch gesellschaftliche und politische Implikationen mit.

Inhaltsverzeichnis

Situation

Kinderanzahl je Frau im Jahr 2007. Der Wert war einzig für den Landkreis Cloppenburg größer als 1,7.

Die Fertilitätsrate (Zahl der Kinder pro Frau) liegt in Deutschland (2007) bei 1,375 (West) bzw. 1,366 (Ost). Im internationalen Vergleich ist dieser Wert für Deutschland, wie auch in Österreich, Griechenland, Italien und Spanien, weit unter dem Ersatzniveau für eine stabile Bevölkerung. Der aktuelle demographische Wert für eine konstante Bevölkerungszahl (ohne Berücksichtigung von Zu- und Abwanderung) liegt mittlerweile durch zivilisatorische Fortschritte bei 2,1.

Im Vergleich zu früheren Jahrhunderten (1850: Fertilitätsrate = 5) werden also weniger Kinder geboren, es erreichen aber auch mehr Bürger infolge der verbesserten medizinischen Versorgung, einem hohen Hygienestandard, aufgeklärterem Gesundheitsbewusstsein u.s.w. ein hohes Lebensalter.

Dies hat breite Auswirkungen auf die Gesellschaft, z.B. im Bereich der Anpassungsfähigkeit und des Konsumverhaltens. Daneben sind die Kosten, die die Gesellschaft durch verrentete Bürger zu tragen hat, deutlich höher als in der Vergangenheit: Zum einen wird die Spanne zwischen Verrentung und Tod immer größer und für diese Entwicklung wird eine immer teurere medizinische Versorgung notwendig; zum anderen wird der Bevölkerungsanteil, der diese Aufwendungen durch Einzahlung in die Krankenkassen erwirtschaftet, immer geringer. In der wissenschaftlichen Analyse der Überalterung (siehe auch: Demografie) wird häufig der Altersquotient als Maßzahl verwendet. Er ist definiert als die Relation der 65-Jährigen und Älteren zur Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 Jahren. Die Kommission zur Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme unter Vorsitz von Professor Bert Rürup beziffert diesen Faktor auf das Jahr 2000 mit 24,2 %, auf das Jahr 2030 mit 34,9 % und auf das Jahr 2040 auf 52,6 %. Siehe auch: Altenquotient

Ursachen der Überalterung

  • Bewusste Familienplanung vor allem in modernen Industriestaaten. Dieser Effekt ist bereits in der Phase der Industrialisierung (Ende 19. Jh.) bemerkbar.
  • Verfügbarkeit von modernen Verhütungsmitteln. Die Einführung der Anti-Baby-Pille führte im so genannten Pillenknick verstärkt zu einem dramatischen Geburtenrückgang seit den 1960er Jahren.
  • Berufsorientierte Gleichberechtigung der Geschlechter. Der Geburtenrückgang ist in erster Linie nicht auf die zunehmende Kinderlosigkeit, sondern auf das Verschwinden der Mehrkindfamilie (drei oder mehr Kinder) zurückzuführen. Mehrkindfamilien setzen aber in den allermeisten Fällen eine längere Familienphase eines Elternteils (meist der Frau) voraus. Gerade qualifizierte Frauen sind im Rahmen der Gleichberechtigung der Geschlechter dazu aber nicht mehr bereit. Es gibt zurzeit kein ökonomisches Modell für größere Familien. Auch sind die meisten familienpolitischen Maßnahmen in erster Linie arbeitsmarktorientiert und berücksichtigen Mehrkindfamilien nicht. Ein Gleichberechtigungsmodell für familienorientierte Arbeit fehlt.
  • Zunehmende Zukunftsangst: Gefahr von Arbeitslosigkeit und Lohnrückgang angesichts von Rationalisierung und Globalisierung, Gewaltentwicklung in der Gesellschaft, Umweltproblemen.
  • Auswanderung von Fachkräften ins Ausland (ca. 150 - 200 Tsd./Jahr).
  • Im Vergleich zu anderen Industrienationen mit starker Gleichberechtigung eine vergleichsweise geringe Entlastung der Familie durch Institutionen (KiTa-Platzmangel, etc.).
  • Höherer Anteil von Mann-Frau-Beziehungen, die nicht auf die lebenslange Einehe und einem traditionellem Familienbild ausgerichtet sind. Damit gehen Planungsunsicherheiten und Unsicherheit über die eigene Rolle als Mutter/Vater einher.
  • Zunehmende Angst vor hoher Unterhaltspflicht gegenüber Kindern (ca. 20 Jahre bis zum Abschluss der Ausbildung) oder getrennten Ehepartnern (bis zu 8 Jahre). In Deutschland gelten im internationalen Vergleich mit die längsten und strengsten Unterhaltspflichten von Eltern gegenüber Kindern (und umgekehrt) bzw. ehemaligen Partnern.
  • Bewusstseinswandel mit Tendenz zur Selbstverwirklichung außerhalb des Familie-Kind-Zusammenhanges.
  • medizinisch-technischer Fortschritt erhöht die Lebenserwartung.

Vorschläge zur Problemlösung

Die Situation, die mit der Überalterung einer Gesellschaft beschrieben ist, wird in der Regel als ein finanzielles Problem thematisiert.

Hierbei gibt es zwei fundamental unterschiedliche Ansätze:

  1. Politische Einflussnahmen zur Korrektur der Verhaltensweise der Bürger zum Erhalt des bestehenden Finanzierungssystems
  2. Anpassung des Finanzierungssystems an die gesellschaftliche Änderung

Politische Einflussnahmen zur Verhaltensänderung

In die erste Kategorie fallen folgende Vorschläge:

  • Abschreibungsmodelle im Rahmen der Familienpolitik, Schaffung und staatliche Bezuschussung von Plätzen in Kindertagesstätten
  • Höhere Kindergelder vom ersten Kind an.
  • Einführung von Zwangsmechanismen; Hans Werner Sinn fordert z.B. eine Kopplung des Niveaus der gesetzlichen Rentenauszahlung an die Zahl der erzogenen Kinder.
  • Geeignete Einwanderungspolitik mit Blick auf leistungsfähige und jüngere Immigranten
  • Politik zur Reduktion von Arbeitslosigkeit und der Angst davor
  • Wahlrecht für Kinder (bis zum Eintritt des 18. Lebensjahrs durch Eltern ausgeübt)
  • kostenlose Ausbildung (keine Schulgelder und Studiengebühren)
  • Kostenloses Angebot der Reproduktionsmedizin
  • Umlegung der Kosten der Schwangerschaft auf alle Beschäftigten Deutschlands (damit wird die Angst kleiner Betriebe vor schwangeren Frauen beseitigt)

Änderung des Finanzierungsmodelles

In die zweite Kategorie fallen die Vorschläge:

  • Reduktion der mikrokanonischen Unterhaltspflicht und verstärkte "Haftung der ganzen Gesellschaft" für den Unterhalt ihres Nachwuchses
  • Neue Formen von bedingungslosem Sozialtransfer wie z.B. Bürgergeld aus Vermögenssteuer
  • "Europäisierung" der sozialen Kosten: Die Begrenzung der Gesellschaftskosten auf die deutsche Bevölkerung erscheint bei der starken europäischen Verflechtung von Arbeitsplätzen und Finanzströmen nicht mehr zeitgemäß.
  • Anhebung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre

Kritik

An der These von der Überalterung macht sich auch Kritik fest. Die Auswirkung der Überalterung werde aus diesen Gründen überschätzt:

  • Eine sinkende Geburtenrate wirke entlastend, denn Leistungen für nicht geborene Menschen (Verbrauch, Kindertagesstätten, Schulen und andere öffentliche Infrastruktur, Familienmitversicherung) müssten nicht bereitgestellt werden. Der These, dass der Bevölkerungsanteil, der die Aufwendungen für die ältere Generation durch Einzahlung in die Krankenkassen erwirtschaftet, immer geringer werde, müsse also entgegengesetzt werden, dass nicht nur die Kosten der älteren Generation sondern auch die der jungen Generation erwirtschaftet werden müssen. Allerdings fehlt hierbei eine Begründung, warum ausgerechnet die Ausgaben für die Zukunftsinvestitionen und nicht für die Altlasten zurückgefahren werden sollen.
  • Nicht getätigte Investitionen in die Zukunft (Kinder) führen auch zu einem Wegfall der Investitionen. Dieser Zusammenhang ist auch Unternehmen bekannt. Nicht getätigte Investitionen in Forschung und Entwicklung führen zu einer deutlichen Kostenreduzierung, allerdings auch zu einem Verlust der Zukunftsfähigkeit des Unternehmens.
  • Allein die Existenz eines Kindes führt nicht automatisch zu einem wirtschaftlichen Netto-Gewinn für die Gesellschaft. So erzeugt ein Kind gesellschaftliche Kosten, die es erst durch Aufnahme einer Tätigkeit mit wirtschaftlicher Wertschöpfung wieder wirtschaftlich aufwiegt. Ein pauschales Kindergeld ohne schulische und berufliche Ausbildung ist eine fragwürdige Investition. So entscheidet sich der Wert einer Investition in die Entwicklung eines neuen Medikaments in der Pharmaindustrie oft erst nach 20 oder mehr Jahren. Trotzdem werden dort solche weitreichenden Investititonen getätigt.
  • Während der Anteil der "nicht produktiven" Bevölkerung steigt, nimmt auch die wirtschaftliche Produktivität durch Technologie, Rationalisierung und Globalisierung zu.
  • Der Bevölkerungsrückgang in den Industrienationen wirkt einer Bevölkerungszunahme in den Nicht-Industrienationen entgegen. Allerdings kann der dann zu erwartende Braindrain aus den Nicht-Industrienationen in die Industrienationen auch den genau umgekehrten Effekt bewirken.
  • Der Begriff Überalterung selbst ist der Fachkritik ausgesetzt. So argumentiert etwa der Wirtschaftsweise Bert Rürup, eine Gesellschaft könne nicht überaltern, sondern allenfalls altern. Der Begriff ist für sich schon bewertend und damit beständig in Gefahr, zur Agitation eingesetzt zu werden. So wird in der aktuellen Diskussion das Problem der Überalterung in der Rentendiskussion thematisiert, obwohl es bei der Rentenfinanzierung keine Probleme gäbe, wenn für alle Einwohner in der Bundesrepublik im erwerbsfähigen Alter ein Arbeitsplatz zur Verfügung stehen würde. Besonders die Versicherungsindustrie bemüht das Thema Überalterung, um die gesetzliche Rente zu diffamieren und ihre Umsätze zu steigern.

Literatur

  • Meinhard Miegel (2002): Die deformierte Gesellschaft, ISBN 3548364403
  • Frank Schirrmacher (2004): Das Methusalem-Komplott, ISBN 3896672258
  • Albrecht Müller (2004): Die Reformlüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren, ISBN 3426273446 - zur Kritik des Mythos "Wir werden immer älter" die Seiten 115ff.
  • Franz-Xaver Kaufmann (2005): Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, ISBN 3518124064
  • Peter Mersch (2006): Die Familienmanagerin. Kindererziehung und Bevölkerungspolitik in Wissensgesellschaften, ISBN 3-8334-5481-4 dradio
  • Mirjam Mohr: Statistiken - Die Mär von den aussterbenden Deutschen. In Der Spiegel vom 23. August 2006, online

Siehe auch

Weblinks


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