Beschleunigungsgebot

Beschleunigungsgebot

Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt von den an der Strafverfolgung beteiligten Staatsorganen, das Ermittlungs- und das Strafverfahren mit größtmöglicher Beschleunigung durchzuführen, solange sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet.

Inhaltsverzeichnis

Geltungsgrund

Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen folgt aus dem Grundrecht der Freiheit der Person, das Art2 Abs2 Satz 2 und Art104 des Grundgesetzesin einem unlösbaren Zusammenhang[1] garantieren. Das genannte Grundrecht schützt die körperliche Bewegungsfreiheit.[2] Mit Untersuchungshaft ist der volle Entzug der körperlichen Bewegungsfreiheit verbunden. DiesesÜbeldarf der Rechtsstaat grundsätzlich nur einer Person zufügen, die wegen einer Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist. Ist eine Person einer strafbaren Handlung dagegenwie bei der Untersuchungshaft stetsbloß verdächtig, ist die vollständige Freiheitsentziehung nur gerechtfertigt, wenn die Staatsorgane das Strafverfahren mitgrößtmöglicher[3] Beschleunigung durchführen. Sie müssenalles in ihrer Macht stehendetun, umso schnell wie möglichdie Ermittlungen abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen.[4]

Inhalt

Die Staatsorgane müssen erhebliche Verfahrensverzögerungen, die in ihre Sphäre fallen, vermeiden, sofern das zumutbar ist. Ob die Staatsorgane die Verzögerung verschuldet oder vorwerfbar verursacht haben, ist nicht relevant.[5]

Die Erheblichkeit einer Verzögerung hängt von der nach objektiven Kriterien bestimmten Angemessenheit der Verfahrensdauer im Einzelfall ab, also etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oderin Grenzendem Verhalten der Verteidigung. Das Bundesverfassungsgericht hat schon Verfahrensverzögerungen von wenigen Wochen oder Monaten als verfassungswidrig gerügt.[6]

Die Zumutbarkeit einer Beschleunigung richtet sich ebenfalls nach den Umständen des Einzelfalls. Das Bundesverfassungsgericht hat den Fachgerichten bei erheblichen Verzögerungenüberobligationsmäßigen Einsatz der Richterbankabverlangt, etwa durch zusätzliche Verhandlungsterminein den Abendstundenoder gegebenenfallsauch am Wochenende (samstags)“[7]. In der Regel dürften zwei Verhandlungstage pro Woche genügen.[8]

Das gebotene Maß der Beschleunigung wächst mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft.[9] Dieser Vorgabe trägt § 121 Abs1 der Strafprozessordnung Rechnung.[10] Danach ist die Untersuchungshaft wegen derselben Tat grundsätzlich auf sechs Monate beschränkt, längerer Vollzug eine nur in engen Grenzen mögliche Ausnahme.[11] Sie setzt von Verfassungs wegen voraus, dass die Verzögerung mit gerichtsorganisatorischen Maßnahmen nicht verhindert werden konnte.[12]

Rechtsfolge

Haben Staatsanwaltschaft oder Strafgerichte nicht alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um die Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und ein Urteil zu sprechen, verletzt der weitere Vollzug der Untersuchungshaft das Grundrecht der persönlichen Freiheit.[13] Haftentlassung ist diezwingend gebotene[14] Rechtsfolge, ohne dass es auf das Gewicht des Anklagevorwurfs ankäme: Untersuchungshaft darf nicht nach Art einer Strafe den Rechtsgüterschutz vorwegnehmen, dem erst das materielle Strafrecht dienen soll.[15]

Literatur

  • Reinhold Schlothauer und Hans-Joachim Weider: Untersuchungshaft, 3Aufl. 2001, ISBN 978-3811426986
  • Bodo Pieroth und Bernd J. Hartmann: Das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot in Haftsachen, Strafverteidiger (StV) 2008, S276280

Nachweise

  1. BVerfGE 10, 302 (322); 58, 208 (220); 105, 239 (247).
  2. Bodo Pieroth/Bernhard Schlink: Grundrechte, 23Aufl. 2007, Rn413.
  3. BVerfGE 61, 28 (34); Pieroth/Schlink: Grundrechte, 23Aufl. 2007, Rn426.
  4. BVerfGE 21, 220 (222); 36, 264 (273); BVerfG, StV 2007, S369 (370); BVerfG, Beschluss vom 6Juni 20072 BvR 971/07, juris, Rn23.
  5. BVerfG, NJW 2006, S672 (673 f.); StV 2006, S703 (704, 705).
  6. BVerfG, StV 2007, S369 (370); BVerfG, Beschluss vom 6Juni 20072 BvR 971/07, juris, Rn25, 36.
  7. BVerfG, StV 2006, S87 (89).
  8. BVerfG, Beschluss vom 19September 20072 BvR 1847/07, www.bverfg.de, Abs.-Nr4.; a.A. für umfangreiche Verfahren Bodo Pieroth und Bernd J. Hartmann: Das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot in Haftsachen, Strafverteidiger (StV) 2008, S276 (279): drei Sitzungen à fünf Stunden pro Woche.
  9. BVerfG, NStZ 2005, S. 456 (457 Rn. 12); StV 2007, S369 (370).
  10. BVerfGE 53, 152 (159).
  11. BVerfGE 20, 45 (50); 36, 264 (271).
  12. BVerfGE 36, 264 (272).
  13. BVerfGE 20, 45 (50); 36, 264 (273).
  14. Rainer Wiedemann, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens (Hrsg.): Grundgesetz. Mitarbeiterkommentar, 2002, Art2 Abs2 Rn397.
  15. BVerfGE 19, 342 (348).
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