- Böckenförde-Diktum
-
Das Böckenförde-Diktum (auch Böckenförde-Theorem, Böckenförde-Doktrin oder Böckenförde-Dilemma) beschreibt das Problem säkularisierter Staaten, soziales Kapital zu erschaffen, mit einer Formulierung von Ernst-Wolfgang Böckenförde.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt
Das Problem wurde von dem ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht aufgeworfen:
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“
– Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit. 1976, S. 60.
Im Feudalismus regierte der König als Souverän von „Gottes Gnaden“, die Legitimität seiner Herrschaft wurde also transzendent begründet. In der Republik gibt es keine allgemein gültige Definition des Souveräns, in der Theorie ist das Volk Inhaber der Souveränität (→ Volkssouveränität). Doch je nach Verfassung delegiert das Volk mehr oder weniger große Teile der Souveränität bzw. Staatsgewalt an Staatsoberhäupter und Parlamente. In der Wahlberichterstattung finden sich beispielsweise Formulierungen wie „der Souverän hat entschieden“. Das Böckenförde-Diktum gibt einen Hinweis darauf, dass in einer Demokratie die Legitimierung der Herrschaft im Gegensatz zum Absolutismus „von unten“ geschieht. Während der absolutistische Staat seine Bürger zur Loyalität zwingen und somit die Voraussetzungen seiner Herrschaft selbst schaffen kann, ist der demokratische Staat auf die demokratische Gesinnung seiner Bürger angewiesen, die er nicht erzwingen kann.
Das führt zu Schwierigkeiten bei der Lösung der Frage, wie eine demokratisch verfasste Gesellschaft ihren Fortbestand sichern und sich gegen Gefahr schützen kann. Böckenförde macht auf das Paradoxon aufmerksam, dass der Staat bei dem Versuch, die Demokratie mit „den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots“ zu verteidigen, selbst zur Diktatur wird, weil er sich damit über das „Volk als Souverän“ stellen würde.
Gerhard Czermak meint, Böckenförde werde „gründlich missverstanden, wenn nicht instrumentalisiert“, wenn aus seinem Diktum abgeleitet werde, „der Staat müsse die Kirchen und Religionsgesellschaften als Wertestifter in besonderer Weise fördern, weil man sonst die Zerstörung fördere […] Er (Böckenförde) spricht von Wagnis und verweist auf die in der Gesellschaft wirkenden höchst unterschiedlichen Kräfte zurück. Es geht ihm darum, dass alle Gruppierungen mit ihrem je eigenen, auch moralischen, Selbstverständnis zur Integration eines Teils der Gesellschaft beitragen.“[1]
Böckenförde antwortet 2009 und 2010 in zwei Interviews auf die Kritik, er würde die ethische Kraft der Religion überbetonen: „Diese Kritik übersieht den Kontext, in dem ich 1964 diesen Satz formuliert habe. Ich versuchte damals vor allem den Katholiken die Entstehung des säkularisierten, das heißt weltlichen, also nicht mehr religiösen Staates zu erklären und ihre Skepsis ihm gegenüber abzubauen. Das war also noch vor 1965, als am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils die katholische Kirche erstmals die Religionsfreiheit voll anerkannte. In diese Skepsis hinein forderte ich die Katholiken auf, diesen Staat zu akzeptieren und sich in ihn einzubringen, unter anderem mit dem Argument, dass der Staat auf ihre ethische Prägekraft angewiesen ist.“[2]
2010 präzisiert Böckenförde es wie folgt: „Vom Staat her gedacht, braucht die freiheitliche Ordnung ein verbindendes Ethos, eine Art „Gemeinsinn“ bei denen, die in diesem Staat leben. Die Frage ist dann: Woraus speist sich dieses Ethos, das vom Staat weder erzwungen noch hoheitlich durchgesetzt werden kann? Man kann sagen: zunächst von der gelebten Kultur. Aber was sind die Faktoren und Elemente dieser Kultur? Da sind wir dann in der Tat bei Quellen wie Christentum, Aufklärung und Humanismus. Aber nicht automatisch bei jeder Religion.“[3]
Kritik
In diesem Zusammenhang muss die Diskussion über Wertewandel beachtet werden.
Nach der kulturpessimistischen Interpretation Elisabeth Noelle-Neumanns habe seit den Sechziger Jahren ein kontinuierlicher Werteverfall stattgefunden. Als Symptome werden vor allem die Erosion „bürgerlicher Tugenden“ wie Gemeinsinn und Arbeitsfreude, aber auch Bedeutungsverluste von Kirche und Religion genannt. Laut Helmut Klages findet hingegen weniger ein Werteverfall, sondern eher eine Wertesynthese von alten und neuen Werten statt. Ronald Inglehart postuliert einen Wandel von materiellen zu immateriellen Werten, der die Demokratie letztlich stärke: Als Konsequenz des Wertewandels nimmt er eine hohe Partizipationsbereitschaft und höhere Freiheit an.
Gerhard Himmelmann macht darauf aufmerksam, dass die Soziologen der Diskussion um einen Werteverfall entgegenhalten, dass „die modernen gesellschaftlichen Regelungsmechanismen und die demokratischen Umgangsformen als Grundlagen der gesellschaftlichen Integration“ dienen. Nicht der Appell unter anderem der Kommunitaristen, sondern der öffentliche Diskurs, die herrschaftsfreie Kommunikation (Jürgen Habermas) erschaffen aus sich heraus („Selbstschöpfungsprozess“) jene Werte und Verhaltensweisen (demokratische Tugenden), die der freiheitliche Staat zum Leben und Überleben braucht. Auch Jürgen Habermas sieht die Gefahr, dass eine entgleisende Modernisierung der Gesellschaft das demokratische Band müde macht und die Art von Solidarität auszehrt, auf die der demokratische Staat, ohne sie rechtlich erzwingen zu können, angewiesen ist.[4]
Auch Michael Haus weist die Böckenförde-These als unbegründet zurück. Aus Böckenfördes Feststellung, dass der moderne demokratische Staat unter Einwirkung der christlichen Religion entstanden sei, folge nicht zwangsläufig, dass die heutige Gesellschaft auf Religion als Fundament angewiesen sei. Vieles spreche hingegen dafür, dass ein bürgerschaftlicher Grundkonsens auch auf verbindenden Gemeinsamkeiten wie gemeinsamen Interessen, Interdependenzen, Abhängigkeiten, Kooperationschancen, einer gemeinsamen Geschichte oder gemeinsamen historischen Lernprozessen ruhen könne.[5]
Wirkung
Seit den 1990er Jahren wird diese Idee in einer Abwandlung von Paul Kirchhof aufgegriffen und auf die demografische Entwicklung bezogen (→ Diogenes-Paradoxon).
Die Böckenförde-Doktrin gilt als „Zentrum des Liberalkonservativismus“.[6]
Siehe auch
Literatur
- Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt, 1976.
- Gotthard Breit, Siegfried Schiele (Hrsg.): Werte in der politischen Bildung. LpB, 2000.
- Hartmut Kreß: Modernes Religionsrecht im Licht der Säkularisierung und des Grundrechts auf Religionsfreiheit. Ist das Böckenförde-Diktum heute noch tragfähig? In: Theologische Literaturzeitung 131/2006, S. 243–258.
Weblinks
- Werner Becker: Essay: Demokratie kann moralisch sein. In: Die Welt, 20. März 2007 (Kritik am Böckenförde-Theorem).
- L'état c'est moi" (VI). „Freiheit ist ansteckend“. In: die tageszeitung, 23. September 2009 (Interview von Christian Rath mit Böckenförde).
- Sebastian Moll: Tagung in New York. Einsatz in Manhattan. In: Frankfurter Rundschau, 23. Oktober 2009.[7]
- Theodor Ebert: Ernst-Wolfgang Böckenförde – Ein Mann und sein Dictum. Von einem, der auszog, justizpolitisch Karriere zu machen. In: Aufklärung und Kritik 2 (2010), S. 81–99. (pdf)
Fußnoten
- ↑ Gerhard Czermak: Religions- und Weltanschauungsrecht. S. 36, Absatz 71.
- ↑ "Freiheit ist ansteckend", die tageszeitung, 23 September 2009
- ↑ „Freiheit ist ansteckend“, Frankfurter Rundschau, 1. November 2010 online, 2. November 2010, S. 32f
- ↑ Florian Fleischmann: Wasserlos waschen auf welkem Gras – zur Habermas-Ratzinger-Debatte. In: perspektive89.com, 14. Mai 2006.
- ↑ Michael Haus: Ort und Funktion der Religion in der zeitgenössischen Demokratietheorie. In: Michael Minkenberg (Hrsg.): Politik und Religion. Wiesbaden 2003, S. 49f.
- ↑ Ulrich Bielefeld: Rezension zu: Hacke, Jens A.: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik. Göttingen 2006. In: H-Soz-u-Kult, 7. Juni 2007.
- ↑ „Säkularisierung und die Rolle der Religion im öffentlichen Raum war das Thema, und die Redner waren Jürgen Habermas, Charles Taylor, sowie zwei der wichtigsten amerikanischen Intellektuellen, der schwarze Theologe Cornel West sowie die Feministin Judith Butler. Was hält in einer säkularisierten Welt unsere pluralistischen Gesellschaften zusammen, wurden die vier gefragt und vor allem: Ist der Rückfall in Fundamentalismen vermeidbar?“
Kategorien:- Rechtsphilosophie
- Sozialphilosophie
- Staatsphilosophie
- Politische Ideengeschichte (20. Jahrhundert)
Wikimedia Foundation.