Gender Gap (Linguistik)

Gender Gap (Linguistik)

Als Gender Gap (= „Geschlechter-Zwischenraum“, manchmal auch als Gender_Gap geschrieben rsp. Gendergap bzw. nur Gap genannt) wird die meist durch einen Unterstrich gefüllte Lücke zwischen maskuliner und femininer Endung bezeichnet. Sie wird bei Wörtern eingefügt, welche Informationen über das soziale Geschlecht (Gender) enthalten können (z. B.: Lehrer_innen). Es ist eine aus dem Bereich der Queer-Theorie stammende Variante des Binnen-I. Der Gender Gap soll ein Mittel der sprachlichen Darstellung aller sozialen Geschlechter und Geschlechtsidentitäten, auch jener abseits der gesellschaftlich hegemonialen Zweigeschlechtlichkeit sein. In der deutschen Sprache wäre dies sonst nur durch Umschreibungen möglich. Die Intention ist durch den Zwischenraum einen Hinweis auf diejenigen Menschen zu geben, welche nicht in das ausschließliche Frau/Mann-Schema hineinpassen oder nicht hineinpassen wollen, wie Intersexuelle oder Transgender. Da es sich um das gesellschaftliche Geschlecht und die Geschlechterrolle handelt, ist aber in weiterer Folge auch beispielsweise der Butch und die Tunte gemeint.

Inhaltsverzeichnis

Etymologie sowie Geschichte

In der englischen Sprache existiert das sprachliche Problem in dieser Form nicht, da alle substantivischen Personenbezeichnungen generell geschlechtsneutral sind. Mit „gender gap“ wird dort nur der Geschlechtsunterschied oder die Ungleichbehandlung der sozialen Geschlechter bezeichnet. Daher ist die Bezeichnung „Gender Gap“ für das Stilmittel als Scheinanglizismus einzuordnen.

Die Idee zu diesem Stilmittel stammt von Steffen Kitty Herrmann, welche es erstmals 2003 im Aufsatz „Performing the Gap – Queere Gestalten und geschlechtliche Aneignung“ vorstellte.[1] Die explizite Bezeichnung Gender Gap verwendete sie in diesem Aufsatz nicht. Sie verwendet darin auch nicht die Bezeichnung Unterstrich, sondern schreibt nur vom „_“ als einen Ort, der Möglichkeiten offenlässt.

Umgesetzt wird er vor allem innerhalb queerer, feministischer oder universitärer Zusammenhänge.[1] Baumgartinger beschreibt im Juni 2008 eine immer stärker werdende Verbreitung vor allem in Deutschland, aber auch immer mehr in Österreich.[2] Auch in Organisationsnamen wird er vereinzelt umgesetzt, wie beispielsweise der Gesamtschüler_innenvertretung Bremen (GSV)[3] oder der Bildungsinitiative Engagierter Schüler_Innen (BES) aus Pankow.[4]

Hintergrund und Umsetzung

Nach Ansicht der Befürworter der Genderung besitzt die deutsche Sprache viele vergeschlechtlichte Wörter, also Wörter die sich auf Menschen mit einem bestimmten Geschlecht beziehen. Sie sind der Meinung, beispielsweise das Wort Schüler beziehe sich (ohne auf den Kontext einzugehen) nur auf Männer und das Wort Schülerinnen ausschließlich auf Frauen. Das generische Maskulinum, bei dem Schüler sich auf beide Geschlechter bezieht, wird abgelehnt. Eine nicht geschlechtliche Bezeichnung sei im Deutschen nur anderweitig möglich, etwa durch Substantivierung ihrer Tätigkeit lernen, die Lernenden, welches aber unspezifischer wäre und auch Lehrlinge, Kleinkinder und Autodidakten einschließen kann.

Wenn es aus dem Kontext heraus Unklarheiten geben kann oder man explizit beide Geschlechter ansprechen will, so kann man schon lange[5] das Splitting anwenden und beide Geschlechter extra ansprechen (Schülerinnen und Schüler). Aus diesem heraus entwickelte sich schon vor 1900 eine verkürzende Klammerschreibweise – Schüler(innen) (Schüler[innen]) – und ab den 1940er Jahren, vermehrt ab den 1960er Jahren eine Schreibweise mit Schrägstrich (Schüler/innen). Aus der vermehrten Anwendung des großen Schrägstriches ab den 1970er Jahren im Zuge der zweiten Frauenbewegung, um explizit auch Frauen einzubeziehen und auf das vermeintliche sprachliche Defizit aufmerksam zu machen, entwickelte sich 1981 als weitere Verkürzung das Binnen-I (SchülerInnen).

Damit wird nun männliches und weibliches erwähnt, aber auch – so die queere Kritik – die bipolare gesellschaftliche Norm hervorgehoben. Davon abweichende Geschlechter wie Intersexualität oder Transgender, aber auch Butch und Tunte die sich in der Bipolarität nicht festlegen können oder wollen, werden sprachlich verdrängt und haben sich der bipolaren Norm unterzuordnen. „Zwischen die Grenzen einer rigiden Geschlechterordnung gesetzt, ist er [der „_“] die Verräumlichung des Unsichtbaren, die permanente Möglichkeit des Unmöglichen.“[6] Die Queer-Theoretikerin und Philosophin Gudrun Perko erklärt: „Wir könnten uns das so vorstellen: eine Leerstelle anzuzeigen schlägt sich in ihr dialektisches Gegenteil um, die Leerstelle verweist so auf Vorhandenes. Im Sinne der Unterstrichvariante auf Menschen, die gesellschaftlich und strukturell unsichtbar gemacht werden.“[1] Der angewandte Sprachwissenschaftler Persson Perry Baumgartinger konstantiert, dass es im Deutschen leicht realisierbar ist, da durch die bestehen bleibende männliche und weibliche Variante das Zweigeschlechtersystem nicht wirklich hinterfragt werden muss, aber gleichzeitig Raum für alle anderen aufgemacht und somit sichtbar gemacht wird.[2]

Der sprachliche Ausdruck kann nach Baumgartinger durch den beim Binnen-I etablierten Glottisschlag (kurze Pause) realisiert werden [ˈʃyːlɐˌʔɪnən], den man mit einer gleichzeitigen Handbewegung von außen nach innen unterstützt.[2] Die Grenze liegt hier bei seheingeschränkten und blinden Menschen, sowie beim Hörfunk.

Kritik

Ein großer Teil der folgenden Kritik(punkte) entspricht (rsp. entsprechen) jener zum Binnen-I.

Die Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch, die mehrere Werke über Geschlechtergerechte Sprache herausgebracht hat, findet den Gender Gap interessant, im Ansatz gut, ist aber nicht ganz davon überzeugt. Er erinnert sie sehr an den Aufbau von E-Mail-Adressen, sei besser als der Schrägstrich, aber nicht so gut wie das Binnen-I, „das auf schlaue Weise eine feminine Lesart suggeriert, die trotzdem auch für Männer akzeptabel sein sollte, da sie sich ja von der rein femininen Form ‚Leserinnen‘ grafisch deutlich unterscheidet.“ Insgesamt spricht sie sich für ein konsequentes Hinarbeiten auf neutrale Formen wie im Englischen aus und für „eine rigorose Abschaffung der im Kern diskriminierenden Ableitungen ‚nebensächlicher‘ Formen aus den ‚Hauptformen‘. Alle Geschlechter einschließlich der nicht Festgelegten haben Anspruch auf die Grundform und sollten nicht mit irgendwelchen Wurmfortsatzbildungen in Ecken abgeschoben werden“.[1]

Persson Perry Baumgartinger weist darauf hin, dass der unermesslichen Vielfalt an Geschlechtlichkeiten zwischen Mann/Frau nur ein kleiner Raum, ein „_“ zugewiesen werde. Auch bleibe die Hierarchisierung von Mann/Frau als einzig ausgeschriebene und damit nennenswerte Variante und dem „Anderem“, dem der Platzhalter zugewiesen wird, bestehen.[2]

Die Linguistin Karin Wetschanow sieht Unterschiede zwischen Sprechen und/oder Schreiben in verschiedenen Kontexten. Vor allem die Aussprache geschlechtergerechter Formen ist nicht in allen Situationen gleichermaßen praktikabel, beispielsweise im informellen Geplauder denkt man oft nicht an eingelernte oder einzulernende Sprachregelments. Dies ist auch der Bereich, den sie allgemein nicht reglementiert sehen möchte. Wichtig findet sie Regelungen in Gesetzestexten, öffentlichen Schreiben und vorbereiteten/öffentlichen Reden.[1]

Die Schreibweise widerspricht den derzeit festgelegten grammatikalischen Normen der deutschen Rechtschreibung.

Variationen

Statt eines Unterstrichs kann auch ein Gender-Sternchen verwendet werden, welches dieselbe Funktion erfüllt (bspw.: Bürger*innen).[7]

Das Sternchen wird in der Computertechnik als Wildcard für eine beliebige Anzahl von Zeichen zwischen zwei Grenzen verwendet und taucht schon länger in schriftlichen Soziolekten auf (SMS, Chat, Foren, Queer), im queeren Zusammenhang vor allem als Trans* um abgekürzt Transgender, Transsexuell und Transidentität auszudrücken. Manche kreative Schreiber spinnen dies noch weiter und verwenden das Sternchen generell als Suffix und Ersatz für alle geschlechtliche Markierungen (statt Liebe_r Leser_in, der_die das gerade liest. steht dann Lieb* Les*, * du das gerade liest., gesprochen kann dies wie folgt umgesetzt werden: Lieb[schtean] Les[schtean], [schtean] du das gerade liest.), wobei ein doppeltes Sternchen als Pluralkennzeichen dienen kann (Les** gesprochen: Les[schteanschtean] bzw. Les[schteane]) oder das Pluralsufix belassen werden kann (Les*en). Als recht junges Stilmittel ist kreative Weiterentwicklung zu erwarten.[2]

Eine weitere Form des ist die Kombination mit dem Binnen-I (z. B.: Bürger_Innen). Diese Variation soll einerseits alle Geschlechtsidentitäten darstellen, andererseits aber auch die weibliche Form besonders betonen.[8] Diese Praxis gilt als Kompromiss zwischen Queer-Theoretikern, die sich primär für das Gender Gap aussprechen, und Feministinnen, die das Weibliche bewusst hervorheben wollen.

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c d e Beate Hausbichler: Raum für _!, dieStandard.at, 26. Oktober 2008
  2. a b c d e Persson Perry Baumgartinger: Lieb[schtean Les[schtean], [schtean] du das gerade liest … – Von Emanzipation und Pathologisierung, Ermächtigung und Sprachveränderungen], 26. Juni 2008, in: Liminalis – Zeitschrift für geschlechtliche Emanzipation, 2008_02, S. 24
  3. Presseerklärung: Schüler_innen solidarisieren sich mit streikenden Lehrer_innen, Gesamtschüler_innenvertretung Bremen (GSV), 13. Februar 2009
  4. Bildungsinitiative Engagierter Schüler_Innen (Hg.): Lernst du nur oder denkst du schon …? – Broschüre zu den Projekttagen zur Politischen Bildung, 24. Juni 2007
  5. Beispielsweise: Übersicht der Ereignisse an der Gebär- und Findelanstalt der k. k. Carl-Franzens-Universität zu Grätz in Steyermark vom Anfange November 1835 bis Ende October 1836. Mitgetheilt von Franz Ser. Götz, o. ö. Professor der theor. und pract. Geburtshülfe. In: Johann Nepomuk von Raimann (Hg.), Sigmund Caspar Fischer, Anton Edler von Rosas, Johannes Wisgrill (Red.): Medicinische Jahrbücher des kaiserl. königl. österreichischen Staates. 24. Band bzw. 15. Band neue Folge. Carl Gerold, Wien 1838, S. 98 (Online-Version)
  6. Steffen Kitty Herrmann (aka S_he): Performing the Gap – Queere Gestalten und geschlechtliche Aneignung, Arranca!-Ausgabe 28, November 2003, S. 22–26
  7. Beatrice Fischer, Michaela Wolf: (Leitfaden für) Geschlechtergerechtes Formulieren, Institut für theoretische und angewandte Translationswissenschaft, Universität Graz, März 2009, Version: 9. April 2009
  8. Oliver Lauenstein: Oliver Lauenstein, Diplom-Psychologe, Abfruf am 22. Mai 2009

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