Klassische deutsche Psychiatrie

Klassische deutsche Psychiatrie
Einband der 6. Auflage des Kraepelinschen Lehrbuchs Psychiatrie. (1899)

Klassische (deutsche) Psychiatrie ist eine Bezeichnung für die psychiatriegeschichtich vorherrschenden naturwissenschaftlichen Tendenzen in der Psychiatrie ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die deutsche Psychiatrie eine richtungweisende Rolle einzunehmen begann. Kennzeichen dieser Psychiatrie sind positivistische Philosophie und die Festlegung einer psychiatrischen Krankheitssystematik sowie insbesondere die Phänomenologie, die Ausgangspunkt einer psychopathologischen Befunderhebung war. Namhafte Vertreter der klassischen deutschen Psychiatrie waren Emil Kraepelin (1856-1926), Karl Jaspers (1883-1969) und Kurt Schneider (1887-1967). Demnach wird vielfach auch das Erscheinen der 6. Auflage des Lehrbuchs von Kraepelin im Jahre 1899 als Beginn dieser Epoche angesehen. Die seit ca. 1955 einsetzende Psychopharmakologie hat das Ende der klassischen Psychiatrie eingeleitet. Anfänglich schien diese medikamentöse Therapie die Annahmen der deutschen klassischen Psychiatrie eher noch zu bestätigen und die Strukturen der Großkrankenhäuser zu verfestigen, vgl. auch den Begriff der endogenen Psychosen, doch stellte sich heraus, dass Akutfälle nun schneller behandelt werden konnten und die Existenz sog. „kustodialer Einrichtungen“ (schützender Anstaltseinrichtungen) nicht mehr benötigten.[1]

Inhaltsverzeichnis

Pharmakopsychiatrie und Psychotherapie

Die Strukturen psychiatrischer Großkrankenhäuser waren vor allem durch einen hohen prozentualen Anteil chronisch Kranker geprägt. Dies bedingte ihren Doppelcharakter als Heil- und Pflegeanstalten.[2] Die Wirksamkeit der Psychopharmaka gestattete es, Akutpatienten früher zu entlassen und damit den Anteil chronisch Kranker zu senken. Allerdings wiesen hohe Wiederaufnahmeziffern auf noch immer ungelöste Probleme hin. Durch die Einführung von Psychotherapie als Behandlungskonzept bei chronisch psychisch Kranken ist der erfolgreiche Versuch unternommen worden, auch diese Ziffern weiter zu senken. Psychotherapie darf sich dabei nicht nur darauf beschränken, zur Anpassung an das Leben in der Anstalt beizutragen (Anstaltssozialisierung, Soziotherapie)[2] Die Erfolge der Pharmakopsychiatrie und die Forderung nach Psychotherapie verliehen der seit ca. 1960 aufgekommenen antipsychiatrischen Bewegung ihren aniinstitutionellen Charakter. Mit Hilfe von Psychopharmaka wurde die Auflösung der Großkrankenhäuser praktisch angestoßen und verwirklicht.[3] Als Ende der klassischen Psychiatrie sind daher definitiv die 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts anzunehmen. Die 1971 in Auftrag gegebene Psychiatrie-Enquête zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik hatte erhebliche Mängel im Bereich psychiatrischer Krankenhäuser und Heime sowie bei ambulanten und gemeindenahen Diensten erwiesen.[1]

Geschichte der Psychiatrie

Klaus Dörner stellt fest, dass das naturwissenschaftliche Denken, wie es im 19. Jahrhundert in der Psychiatrie üblich war, bereits seit den 1920er Jahren und noch deutlicher seit 1945 einer erheblichen Kritik ausgesetzt war. Es wurden die vergegenständlichenden, verfügenden und atomisierenden Tendenzen beklagt. Auch wurde die Frage gestellt, ob kausalanalytische Forschungen dem Selbstverständnis der Psychiatrie angemessen sind und mit einem rein naturwissenschaftlichen Ansatz nicht mehr verloren geht als damit gewonnen wird.[4] Durch ein gewisses Zurückdrängen des paternalistischen Elements konnte sich die Sozialpsychiatrie gerade in Deutschland erneut ihrer langen europäischen Traditionen und Vorbilder bewusst werden.[4]

Ideologische Auseinandersetzungen

Hauptartikel: Endogene Psychosen

Ideologische Einseitigkeiten resultierten aus Auseinandersetzungen, die sich anfänglich im 19. Jahrhundert zwischen Psychikern und Somatikern[4] ergaben sowie zuletzt in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zwischen den Anhängern der Antipsychiatrie und der klassischen Psychiatrie.[5] Geistesgeschichtlich ist die klassische Psychiatrie wesentlich durch den Neukantianismus geprägt als deren Vertreter in der Psychiatrie neben dem bereits genannten Emil Kraepelin (1856-1926) vor allem Karl Ludwig Kahlbaum (1828-1899), Heinrich Schüle (1840-1916) und Richard von Krafft-Ebing (1840-1902) zu nennen sind.[4]

Richtungswechsel

Waren zu Zeiten der klassischen deutschen Psychiatrie die Universitäten ein Ort wissenschaftlicher psychiatrischer Forschung, so konzentrierte sich seit 1955 das Interesse nun vielmehr auf die außerhalb der Kliniken sich komplementär entwickelnden sozialpsychiatrischen Dienste an Gesundheitsämtern und Beratungsstellen mit vielfältigen Aufgabenschwerpunkten. Der Gegensatz zwischen Universitäts- und Anstaltspsychiatrie wurde verstärkt.[3]

Einzelnachweise

  1. a b Peters, Uwe Henrik: Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie. Urban & Fischer, München 62007; ISBN 978-3-437-15061-6; (a) zu Lexikon-Artikel „Psychiatrie, klassische (deutsche)“: Seite 428; (b) zu den Lexikon-Artikeln „Psychiatrie-Enquête“: Seite 427, Aktion psychisch Kranke: Seite 16; „Arbeitsgemeinschaften, psychosoziale“: Seite 48, „Enquete-Psychiatrie“: Seite 162 (online)
  2. a b Eikelmann, Bernd: Sozialpsychiatrisches Basiswissen. Enke, Stuttgart 1997, ISBN 3-432-27801-2; (a) zu Stw. „Epidemiologie chronisch psychisch Kranker“: Seite 23 ff.; (b) zu Stw. „Gegensätzlichkeit zwischen Pharmakologie und Psychotherapie“: Seiten 118, 178 ff.
  3. a b Finzen, Asmus: Das Ende der Anstalt. Vom mühsamen Alltag der Reformpsychiatrie. Psychiatrie-Verlag, Bonn 1985, ISBN 3-88414-061-2; (a) zu Stw. „Auflösung von Krankenhausstationen für chronisch psychisch Kranke und die Rolle von Psychopharmaka“: Seite 69; (b) zu Stw. „Universitäts- und Anstaltspsychiatrie“: Seite 36 f.
  4. a b c d Dörner, Klaus: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. [1969] Fischer Taschenbuch, Bücher des Wissens, Frankfurt / M 1975, ISBN 3-436-02101-6; (a) zu Stw. „Psychiatriegeschichtliche Relevanz naturwissenschaftlicher Ansätze“: Seite 16 f.; (b) zu Stw. „Sozialpsychiatrie": Seite 113, 202; (c) zu Stw. „Psychiker und Somatiker“: Seite 281 ff.; (d) zu Stw. „Neukantianismus“: Seite 208
  5. Dörner, Klaus und Ursula Plog: Irren ist menschlich oder Lehrbuch der Psychiatrie / Psychotherapie. Psychiatrie-Verlag Rehburg-Loccum 71983, ISBN 3-88414-001-9; zu Stw. „Antipsychiatrie“: Seite 439, zu Stw. „Psychiatrie-Enquête“: Seite 12, zu Stw. „Absolutheitsansprüche in der Psychiatrie“: Seite 440.

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