Antipsychiatrie

Antipsychiatrie

Als Antipsychiatrie werden mehrere politische und soziale Bewegungen bezeichnet, denen eine kritische bis ablehnende Haltung gegenüber der Psychiatrie gemeinsam ist. Neben einer romantisch orientierten französischen Antipsychiatrie, welche auf die Französische Revolution von 1789 folgte, und einer um 1900 in Deutschland von bürgerlichen Gruppen entwickelten Antipsychiatrie war insbesondere eine in den USA und in Europa um 1960 aufgekommene Antipsychiatrie von Bedeutung. Diese wendete sich insbesondere gegen die Erklärung der Schizophrenie als psychische Erkrankung und prangerte nicht nur Missstände in psychiatrischen Einrichtungen an, sondern stellte die Psychiatrie als solche grundlegend in Frage.[1] Psychische Krankheiten werden nach dieser Sichtweise oftmals als verständliche Reaktion auf „verrückte“ gesellschaftliche (Lebens-)Umstände betrachtet, als „Bewusstseinserweiterung“ und bzw. oder als reine Zuschreibungen der Gesellschaft. Die Psychiatrie wird daher als ein Normierungs- und Unterdrückungsapparat aufgefasst.[2]

Inhaltsverzeichnis

Einflüsse und Vertreter

Wichtige Einflüsse auf die Antipsychiatriebewegung der 1960er Jahre stammen aus den Werken des Philosophen und Historikers Michel Foucault, der selber jedoch nicht zur Antipsychiatrie gezählt wird. Foucault publizierte 1961 sein Werk Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, welches sich mit der Frage beschäftigt, an welchem Punkt in der europäischen Geistesgeschichte „die aufklärerische Vernunft sich endgültig vom Wahnsinn als ihrem manifesten Gegenteil losgesagt hat.“[3]

Der Terminus „Antipsychiatrie“ wurde erstmals 1967 von David Cooper verwendet,[4] der zusammen mit Ronald D. Laing und Thomas Szasz zu den wichtigsten Vertretern der Antipsychiatriebewegung zählt. Außerdem werden der Bewegung der Psychiater Jan Foudraine, Franco Basaglia, der Psychiater Félix Guattari sowie der Philosoph Gilles Deleuze zugeordnet.

Entwicklung und Hintergründe

Die antipsychiatrische Bewegung der 1960er Jahre umfasste verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Hintergründen. Gemeinsam war vielen dieser Gruppen eine antiautoritäre Haltung, die sich auch gegen die Psychiatrie als Teil der Medizin richtete. Kritikpunkte gegenüber der Psychiatrie bezogen sich auf die Einrichtungen der psychiatrischen Kliniken, das Verhältnis Patient-Arzt sowie auf die Frage der sozialen Bedingtheit der Klassifizierung psychischer Krankheiten und des Umgangs mit diesen.

Die Arbeiten des Soziologen Erving Goffman über die Lebensbedingungen der Patienten in psychiatrischen Asylen sowie auch populäre Darstellungen (wie beispielsweise der Roman Einer flog über das Kuckucksnest von Ken Kesey) führten unter Intellektuellen und in der Öffentlichkeit zu einer kritischen Haltung gegenüber der Psychiatrie.[5]

Weiterhin wurde unter Bezug auf das Werk von Philosophen wie Michel Foucault die medizinische Definition psychischer Krankheit hinterfragt. Die Diagnose psychischer Krankheiten sei primär das Produkt sozialer, politischer und juristischer Prozesse und damit historisch bedingt. Die Klassifizierung von Individuen als psychisch krank und der jeweilige Umgang gründe in Prozeduren der Macht, insbesondere der Ausschließung und Verdrängung der als krank klassifizierten Subjekte aus dem gesellschaftlichen Diskurs.[6] Medizin und Psychiatrie seien in diesem Sinne Instrumente, mit deren Hilfe die Ausgrenzung rationalisiert und wissenschaftlich legitimiert werde. Insbesondere durch Mechanismen der Naturalisierung erscheine „Krankheit“ fortan als ein unabhängig von sozialen Bedingungen und Zuschreibungen existierendes Faktum; so galt beispielsweise Homosexualität lange Zeit als behandlungsbedürftige psychische Störung.

Studien zur Validität und Reproduzierbarkeit psychiatrischer Diagnosen wurden ebenfalls als Beleg für eine willkürliche „Etikettierung“ von Individuen als psychisch krank gewertet. Im Rosenhan-Experiment ließen sich psychisch gesunde Testpersonen in eine psychiatrische Anstalt einweisen, indem sie Symptome psychischer Erkrankungen (Wahnsymptome) angaben. Obwohl sie danach keine Symptome mehr vorspielten, wurden sie erst nach längerer Zeit entlassen - nicht als "gesund" oder "geheilt", sondern lediglich als "symptomfrei".[7]

Die Klassifizierung psychischer Krankheiten als sozial bedingt führte in der Antipsychiatrie zu einer pauschalen Ablehnung psychiatrischer Diagnosen als falsch und inhuman. Statt der psychiatrischen Diagnose sollte der Blick auf die Ablehnung von sozial abweichendem Verhalten, dessen Bezeichnung als Krankheit sowie die darauf folgende Ausstoßung des Betroffenen aus der Gesellschaft gerichtet werden. Dieser Prozess sowie die Akzeptanz der Rolle des Kranken (Internalisierung, „Krankheitseinsicht“) durch den Betroffenen würde dazu führen, dass der Betroffene sich so verhalte, wie es einem angeblich psychisch Kranken entspreche. Da die Ursache beobachtbarer Symptome gesellschaftliche Strukturen und psychiatrische Kliniken seien, zogen einige Antipsychiater hieraus den Schluss, dass es überflüssig sei, psychisch Kranke zu behandeln. Ein radikaler Verfechter dieses Ansatzes war Thomas Szasz, der die Diagnose, Hospitalisierung und Behandlung psychisch Kranker als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnete, sofern sie unter Zwangsandrohung erfolgten.

Eine antipsychiatrische Organisation, die von Thomas Szasz gegründete Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte (KVPM), die Kampagnen wie „Psychiatrie tötet“ oder „Psychiatrie – ein globaler Fehlschlag“ organisiert, ist ein Zweig der Scientology-Kirche.

„Psychiatriemissbrauch“ aus Sicht der Antipsychiatrie

Für Erving Goffman waren psychiatrische Kliniken ein Beispiel für eine „totale Institution“, in der die Patienten systematisch der Willkür der höhergestellten Verantwortlichen (Ärzte, Pfleger und Verwaltung) ausgeliefert seien. Goffmans Verurteilung der klinischen Institutionen beruhte auf Erfahrungen, die er 1955 im Rahmen von Feldstudien im St. Elizabeths Krankenhaus (damals mit über 6000 Patienten) gesammelt hatte.[8]

Marxistisch orientierte Antipsychiater sahen in der Psychiatrie ein Mittel der „Kapitaleigner“, mit dem sie ihre herrschende Position in der Gesellschaft zu sichern versuchten.[9]

Feministisch orientierte Antipsychiaterinnen sahen den Psychiater als ein idealtypisches Beispiel patriarchalischer Macht über Frauen.[9]

Häufig werden von der Antipsychiatrie die somatischen psychiatrischen Therapien angegriffen. Während früher die Elektrokrampftherapie und die Lobotomie kritisiert wurden, stehen heute die Psychopharmaka im Vordergrund. Ihre Wirksamkeit wird angezweifelt und sie werden als "chemische Zwangsjacke" bezeichnet.[10]

Auswirkungen der Antipsychiatrie

Die Antipsychiatrie forderte die Einrichtung sogenannter Weglaufhäuser, die in Analogie zu den Frauenhäusern den Betroffenen Obdach und Schutz geben sollten. Versuche, antipsychiatrische Konzepte in die Praxis umzusetzen, waren unter anderem die von Ronald D. Laing und David Cooper konzipierten „Households“ (Wohngemeinschaft) in der Kingsley Hall in London, Station 21. Versuche in dieser Richtung in Deutschland waren das 1970 in Heidelberg gegründete Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) und die 1980 gegründete Irren-Offensive.

Insgesamt gelten solche Versuche, antipsychiatrische Konzepte in die Praxis umzusetzen, als gescheitert. Die Deinstitutionalisierung der Behandlung von psychisch Kranken, wie sie von der Antipsychiatrie propagiert wurde, führte zu einer Verelendung und Kriminalisierung der Betroffenen.[11]

Die Antipsychiatrie-Bewegung gab Impulse zu einer Verbesserung der Qualität der psychiatrischen Versorgung. Es ist das Soteria-Konzept entstanden, das auf gleichwertige Beziehungen zwischen Betreuer und Patienten zielt. In den USA hat die Antipsychiatrie sich zu einer patientenbasierten Verbraucherschutzbewegung hin entwickelt, die heute nicht mehr die Abschaffung der Psychiatrie verfolgt, sondern deren Reform im Sinne eines verstärkten „Verbraucherschutzes“ auf dem „Markt für geistige Gesundheit“ beabsichtigt. Die 1991 von der UN-Generalversammlung angenommenen Prinzipien für den Schutz von Personen mit geistigen Krankheiten werden als ein Erfolg der radikalen Antipsychiatrie-Bewegung angesehen.[12]

Kritik

Die Psychiatrie hat in ihren beiden Therapiesäulen Pharmakotherapie und Psychotherapie große Erfolge vorzuweisen, die die Lebensqualität von Menschen mit psychischen Störungen, etwa Angsterkrankungen oder Depressionen, und dem damit oft verbundenen hohen Leidensdruck, entscheidend verbessert: Empirik und Wirksamkeitsnachweis sprechen für die Psychiatrie.[13]

Neuropsychologisch betrachtet, haben viele psychiatrische Krankheiten ein inzwischen nachgewiesenes molekularanatomisches und/oder biochemisches Korrelat in Struktur oder Mechanismus; zum Teil mit genetischem/erblichem Charakter. Aus Sicht der Antipsychiatrie sind diese körperlichen Aspekte psychiatrischer Erkrankungen eher Wirkung als Ursache. Teilweise wird ihre Bedeutung für ein Krankheitsbild auch ganz bestritten.

Der Psychiater Theo Payk zieht die Bilanz, dass Umbenennungen und die Verleugnung von Krankheit in der psychiatrischen Praxis nichts gebracht, aber Patienten geschadet hätten, weil sie die Vielfältigkeit psychiatrischer Symptome ignoriert hätten. Die Angriffe auf die traditionelle Psychiatrie seien nicht sachlich, sondern ideologisch motiviert gewesen.[14]

Filme

  • Family Life (1971, GB, mit Sandy Ratcliff, Bill Dean; Regie: Ken Loach. Alternativ-Titel: Wednesday's Child.
  • Equus (1977, USA, GB) mit Richard Burton, Peter Firth; Regie: Sidney Lumet.
  • Titicut Follies (1967, USA), Regie: Frederick Wiseman. – In seinem ersten Film zeigt Wiseman die inhumanen Bedingungen im Bridgewater State Hospital in Massachusetts. Der Film durfte in den USA mehr als 20 Jahre lang nicht gezeigt werden.

Literatur

  • Peter R. Breggin: Giftige Psychiatrie, Auer, Heidelberg 1996, ISBN 3-927809-44-6
  • Peter R. Breggin: Giftige Psychiatrie Teil 2, Auer, Heidelberg 1997, ISBN 3-931574-38-5
  • David Cooper: Psychiatrie und Anti-Psychiatrie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1971
  • Rolf Degen: Lexikon der Psycho-Irrtümer, Piper, 2002
  • Gilles Deleuze/Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974
  • G. Deleuze/F. Guattari/G. Jervis u. a.: Antipsychiatrie und Wunschökonomie, Merve, Berlin 1976
  • Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993
  • Jan Foudraine: Wer ist aus Holz? Neue Wege der Psychiatrie (1973).
  • Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993
  • Theo R. Payk: Antipsychiater. In: Psychiater. Forscher im Labyrinth der Seele, Stuttgart 2000.
  • Heinz Schott/Rainer Tölle: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren – Irrwege – Behandlungsformen. München 2006.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Heiner Fangerau: Psychische Erkrankungen und geistige Behinderung. In: S. Schulz, K. Steigleder, H. Fangerau, N. W. Paul: Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006. S. 375
  2. Vgl. Erich Wulff: Antipsychiatrie, HKWM 1, 1994.
  3. Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung. 2. Auflage. Junius Verlag, Hamburg 2006. S. 31.
  4. Vgl. Nick Crossley: R. D. Laing and the british anti-psychiatry movement: A socio-historical analysis. In: Soc. Sci. Med. Vol. 47, Nr. 7/1998, S. 877-889, hier S. 877.
  5. E. Shorter: Geschichte der Psychiatrie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003. S. 410–412.
  6. Vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993, insb. S. 68 ff.; Vgl. auch E. Shorter: Geschichte der Psychiatrie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003, S. 410.
  7. Vgl. David L. Rosenhan: Gesund in kranker Umgebung. In: Paul Watzlawick (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus., Piper, München 1985, S. 111-137; kritisch hierzu siehe R. L. Spitzer: On pseudoscience in science, logic in remission, and psychiatric diagnosis: a critique of Rosenhan’s „On being sane in insane places“. Journal of Abnormal Psychology, Nr. 84 (5), S. 442-52 (1975).
  8. Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993; vgl. auch E. Shorter: Geschichte der Psychiatrie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003. S. 411.
  9. a b E. Shorter: Geschichte der Psychiatrie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003, S. 409.
  10. Hans Bangen: Geschichte der medikamentösen Therapie der Schizophrenie. Berlin 1992 S. 85-89 ISBN 3-927408-82-4
  11. Vgl. E. Shorter: Geschichte der Psychiatrie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003, S. 421.
  12. David J. Rissmiller, Joshua Rissmiller: Evolution of the Antipsychiatry Movement Into Mental Health Consumerism. Psychiatric Services, Vol. 57 (6), 2006.
  13. Vgl. Möller/Laux/Deister: Psychiatrie und Psychotherapie. [Genaue Angabe?].
  14. Vgl. Theo R. Payk: Antipsychiater. In: Psychiater. Forscher im Labyrinth der Seele, Stuttgart 2000.

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