Universitätspsychiatrie

Universitätspsychiatrie

Universitätspsychiatrie ist die an Universitäten in Theorie und Praxis betriebene Psychiatrie. Insofern ist Uwe Henrik Peters zuzustimmen, wenn er zum praktischen und historisch bedeutsamen Teil der Psychiatrie im 19. Jahrhundert schreibt: „Die europäische Psychiatrie hatte sich ca. ab 1800 zuerst als Anstaltspsychiatrie entwickelt, bis die Führung ab 1850-1860 an die Universitäten überging, von wo seitdem alle Neuerungen ausgingen.[1] Unberücksichtigt bleibt bei dieser Darstellung der sich auf Europa und die USA erstreckende theoretische Einfluss, der vor allem von der schottischen Universität Edinburgh und ihren Vertretern Robert Whytt (1714-1766), seinem Nachfolger William Cullen (1710-1790) und dessen Schüler John Brown (1735-1788) bereits im 18. Jahrhundert ausging. Dieser wirkte sich gerade auf die Gründung vieler Anstaltspsychiatrien sowie auf eine künftig zunehmend empirische Forschungsrichtung aus. Die von der schottischen Schule beeinflussten Gründer und Vordenker der Anstaltspsychiatrie waren in England William Battie (1703-1776) und Thomas Arnold (1742-1816), in Frankreich Philippe Pinel (1745-1826), in Italien Vincenzo Chiarugi (1759-1820), in Deutschland Johann Christian Reil (1759-1830) und in den USA Benjamin Rush (1745-1813).[2][3]

Inhaltsverzeichnis

Entwicklung in Deutschland

In Deutschland war J. C. Reil Wegbereiter der Romantischen Medizin, der die Gründung psychiatrischer, mit Lehrstühlen verbundenen Anstalten forderte. Umgesetzt hat diesen Gedanken in Deutschland vor allem Christian Roller (1802-1878) und die von ihm ausgehende Illenauer Schule.[4] Johann Gottfried Langermann (1768-1832) war dagegen eher ein Befürworter der moralischen Behandlung.[1] Dennoch ist seine Theorie der psychogenen Verursachung von Geisteskrankheit wohl auf den Einfluss von Georg Ernst Stahl (1660-1734) zurückzuführen, der seine Nervenlehre seit 1694 als Professor an der neu gegründeten Universität Halle entwickelte.[5] Langermann zählt neben Johann Christian Reil[6] jedenfalls zu den wenigen Autoren, die damals in Deutschland Abhandlungen zu psychischen Krankheiten geschrieben haben.[7] [5] Auch der schottischen Schule der Universität Edinburgh waren die Lehren G. E. Stahls und Albrecht von Hallers keineswegs fremd.[5] Wilhelm Griesinger (1817-1868) war nicht nur Wegbereiter der Universitätspsychiatrie in Deutschland, er löste mit seinen Reformplänen als Befürworter von sog. Stadtasylen aufs Neue den alten von Damerow mühsam beigelegten Streit wieder aus, der sich um das Versorgungssystem bzw. um die „relativ verbundenen Anstalten“ entsponnen hatte, in denen schwere chronische und leichte akute Fälle zusammen untergebracht waren.[3] Im Gegensatz zur Anstaltspsychiatrie hat sich die Universitätspsychiatrie hauptsächlich auf aktute psychiatrische Krankheitsbilder konzentriert. Dies bedingt eine gewisse methodische Einschränkung, wenn man berücksichtigt, dass Darstellungen des Fachgebiets Psychiatrie heute hauptsächlich von Universitätspschiatern erfolgen.[3] Die klassische deutsche Psychiatrie bestand historisch betrachtet hauptsächlich in Universitätspsychiatrie. Die Bewegung der Antipsychiatrie in den Jahren 1968-1980 ist von gemeinsamer Ablehnung der klassischen deutschen Psychiatrie geprägt. Damit wurde meist die Kritik am somatischen Krankheitsmodell verbunden und der mangelnden Berücksichtigung sozialer Faktoren.[3]

Karl Jaspers

Karl Jaspers, der nach E. H. Ackerknecht das Begriffspaar „Anstaltspsychiatrie – Universitätspsychiatrie“ geprägt hat,[5] sieht es als Vorzug der Universitätspsychiatrie an, dass sie zu einer „reineren Wissenschaft“ wurde, dass sich „auf manchen Gebieten eine kontinuierliche Entwicklung anbahnte“ und dass sich das „Untersuchungsgebiet außerordentlich erweiterte“. Zu diesen Erweiterungen zählt Jaspers das „Vordringen in die ärztliche Sprechstunde“ (Sprechstundenpsychiatrie), die Rolle der Psychiatrie bei soziologischen Fragen und die Annäherung an die Psychologie, so anfänglich vor allem an die experimentelle Psychopathologie. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts sei jedoch auch eine allgemeinere Öffnung gegenüber dem psychologischen Fachgebiet festzustellen. Zu den Berührungspunkten mit der Soziologie zählt Jaspers vor allem kriminalistische Untersuchungen (Forensische Psychiatrie). Die genannte kontinuierliche Entwicklung in kleinen, bisweilen sogar „kleinlich“ erscheinenden Schritten, stehe im Gegensatz zu den „großzügigen Gesichtspunkten“ der Anstaltspsychiatrie, die sich jedoch oft genug in einer Philosophie „ohne eigentliche Tiefe“ erschöpfe und somit „unklar“ bleibe. Karl Jaspers sieht keinen Anlass, einem der beiden Gebiete, der Universitätspsychiatrie oder der Anstaltspsychiatrie einen Vorzug einzuräumen. Auch gegenüber Stimmen, die behaupten, dass Anstaltspsychiatrie nichts Wissenschaftliches mehr leisten könne, sieht Jaspers die Bedeutung der Anstaltspsychiatrie keineswegs geschmälert. Er sieht sie in ihren Mitteln und ihrem Material dazu berufen, an die Fragen ihrer „ruhmvollen Vorzeit“ auch weiterhin anzuknüpfen. Jaspers verweist in diesem Zusammenhang auf die Kontroverse Dobrick und Weber.[4][8] Die Entwicklungstendenz der Öffnung gegenüber der Sprechstundenpsychiatrie hat insbesondere K. Dörner am Beispiel von Wilhelm Griesinger näher ausgeführt und bestätigt.[2] Da psychische Erkrankung als körperliche Erkrankung aufgefaßt wurde, erschien es auch sinnvoll, die No restraint-Bewegung zu unterstützen und Strafmaßnahmen in der Psychiatrie zu ächten.[2]

Belgien

Als frühen Vertreter der Universitätspsychiatrie in Belgien kann man Joseph Guislain (1797-1860) ansehen.

Einzelnachweise

  1. a b Peters, Uwe Henrik: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. Urban & Schwarzenberg, München 31984; (a) zu Wörterbuch-Stw. „Universitätspsychiatrie“: Seite 586; (b) zu Wörterbuch-Stw. „Langermann, Johann Gottfried“: Seite 326
  2. a b c Dörner, Klaus: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. (1969) Fischer Taschenbuch, Bücher des Wissens, Frankfurt / M 1975, ISBN 3-436-02101-6; (a) zu Stw. „Ausstrahlung der schottischen Schule“: Seite 62-65; (b) zu Stw. „Poliklinische Impulse der von Griesinger geforderten Universitätspsychiatrie“: Seite 316 f.; (c) zu Stw. „Unterstützung der No-restraint-Bewegung“: Seite 316
  3. a b c d Degkwitz, Rudolf et al. (Hrsg.): Psychisch krank. Einführung in die Psychiatrie für das klinische Studium. Urban & Schwarzenberg, München 1982, ISBN 3-541-09911-9; Spalten nachfolgend mit ~ angegeben: - (a) zu Stw. „Alle Stichworte »Universitätspsychiatrie«“: Seiten 201, 268 f., 351, 354, 360 f., 438, 440; (b) zu Stw. „Griesingers Reformpläne“: Seite 267~2, 268~1; (c) zu Stw. „Verteilung von chronischen und akuten Fällen in Universitäts- und Anstaltspsychiatrie“: Seiten 201~2, 351~1, 438~2; (d) zu Stw. „Psychiatrie und Antipsychiatrie“: Seite 436~1
  4. a b Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie. Springer, Berlin 91973, ISBN 3-540-03340-8, Anhang § 4 Historisches über Psychopathologie als Wissenschaft. - Anstaltspsychiatrie und Universitätspsychiatrie. Seite 705 f.
  5. a b c d Ackerknecht, Erwin H.: Kurze Geschichte der Psychiatrie. Enke, Stuttgart 31985, ISBN 3-432-80043-6; (a) zu Stw. „Theorie der psychogenen Verursachung“: Seite 35 f.; (b) zu Stw. „Psychiatrische Autoren“: Seite 39.; (c) zu Stw. „Nerventheorie Hallers und Stahls als Schrittmacher der medizinischen Forschung und die Beziehung zur schottischen Schule“: Seite 36 f.; (d) zu Stw. „Gebrauch des Begriffs »Universitätspsychiatrie« bei Ackerknecht“: Seiten 62, 72
  6. Reil, Johann Christian: Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen. (1803)
  7. Langermann, Johann Gottfried: De methodo cognoscendi curandique animi morbos stabilienda. (1797)
  8. Dobrick und Weber: Psychiatr. Wschr. 12, 383, 393, 437, 465

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