Sprechstundenpsychiatrie

Sprechstundenpsychiatrie

Sprechstundenpsychiatrie ist eine von Erwin H. Ackerknecht für die Neurosenpsychiatrie gebrauchte Bezeichnung.[1] Nach dem triadischen System der Psychiatrie bezieht sich dieser 3. Teil der Psychiatrie auf eine für die Gesprächstherapie am besten geeignete Patientengruppe. Der Autor Walter Bräutigam bezeichnete diesen Teil der Psychiatrie auch als „kleine Psychiatrie“. Damit soll die im Hinblick auf Heilung relativ günstige Prognose zum Ausdruck kommen. Genannte Gruppe weist die leichtesten psychischen Beeinträchtigungen auf. Bräutigam spricht zur Charakterisierung dieser Patientengruppe auch von „Nähe und Verbindung zu normalpsychologischen Vorgängen“.[2]

Nähere Begriffsbestimmung

Klaus Dörner hat den Begriff der Sprechstundenpsychiatrie in seiner Darstellung der Geschichte der Psychiatrie aufgegriffen.[3] Gemeinsam mit dem Autor W. Bräutigam kommt er zu der Charakterisierung, dass mit dem Begriff der Sprechstundenpsychiatrie das eigene Selbstverständnis der Patienten im Vordergrund steht, das um eine Bestätigung im öffentlichen Diskurs bemüht ist.[2][3] Demgegenüber betont Bräutigam, dass die Symptomatik der endogenen Psychosen „in den allgemeinen verstehenspsychologischen Ansätzen nicht zu erfassen“ ist.[2] Hiermit wiederholt sich jedoch die sowohl von Ackerknecht als auch von Dörner in diesem Zusammenhang formulierte gesellschaftliche „Ausgrenzung der Unvernunft“.[1][3]

Soziale Frage

Wie sich im Verlauf der Entwicklung der Psychiatrie vor allem in Deutschland herausstellte, hat die Sprechstundenpsychiatrie vor allem durch die allgemeine Entwicklung hin zur Universitätspsychiatrie einen Aufschwung erlebt.[4] Es war ein Kennzeichen dieser Universitätspsychiatrie des 19. Jahrhunderts, dass die meist theoretischen Forderungen der Psychiker nach öffentlicher Anwendung von moralischen Maßstäben hier eine Gegenpol fanden, indem psychische Krankheit wie jede andere körperliche Erkrankung auch angesehen wurde und somit keiner speziellen „moralischen Behandlung“ bedurfte. Nach Auffassung der Psychiker schloss die Anwendung der moralischen Behandlung die Anwendung von Zwangsmaßnahmen nicht aus. Insofern bestätigt die geübte Praxis der Neurosenpsychiatrie die kritische Bemerkung von K. Dörner, dass wirtschaftlich besser gestellte Bürger es sich leisten konnten, „es an den Nerven zu haben“, während die Armen Irren weiter in Spezialeinrichtungen konzentriert wurden, vgl. das Problem der Anstaltspsychiatrie.[5] Durch die Nervenlehre seit Georg Ernst Stahl (1659-1734) in Deutschland und Thomas Willis (1621-1675) in England sowie die damit verbundene Neurologisierung der Psychiatrie, die auch den Begriff der Neurose hervorgebracht hat, wurde das Problem der geistigen Störungen nur teilweise im Weg der ambulanten Behandlung als ein Problem der Sprechstundenpsychiatrie gelöst. Der überwiegende Teil der psychisch Kranken wird auch heute weiter durch das Anstaltssystem versorgt. Sofern sich jedoch eine ambulante Versorgung dieser „schwerer erkrankten Patienten“ überwiegend auf die Verabreichung von Medikamenten bezieht, ist auch der Begriff Sprechstundenpsychiatrie fragwürdig geworden, da zum Sprechen wenig Zeit verbleibt. Auch die bekannten Patienten Freuds zählten zu den finanziell begüterten Kreisen, so z. B. Sergius Pankejeff (der Wolfsmann), Marie Bonaparte (Prinzessin von Griechenland) und Bertha Pappenheim (Anna O.). Der schlagendste Beweis für die Relativität des Begriffs Neurose und seine Abhängigkeit von politischer Einschätzung liegt für Klaus Dörner in dem ausgesprochen starken Begriffswandel, dem die „Neurose“ vor allem nach dem ersten Weltkrieg ausgesetzt war im Zusammenhang mit dem Problem der Kriegszitterer und den moralischen Bewertungsmaßstäben der Wehrkraftzersetzung.[3]

Einzelnachweise

  1. a b Ackerknecht, Erwin H.: Kurze Geschichte der Psychiatrie. Enke, Stuttgart 31985, ISBN 3-432-80043-6; Seite 29
  2. a b c Bräutigam, Walter: Reaktionen, Neurosen, Psychopathien. dtv Wissenschaftliche Reihe, Georg Thieme, Stuttgart 11968; Seite 1
  3. a b c d Dörner, Klaus: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. (1969) Fischer Taschenbuch, Bücher des Wissens, Frankfurt / M 1975, ISBN 3-436-02101-6; (a) Stw.-Übersicht der begrifflichen Verwendung von „Sprechstundenpsychiatrie“: Seiten 39, 129-131, 137, 203 f, 269, 317; (b-c) zu Stw. „Selbstverständnis versus öffentliches Verständnis“: Seite 39; (d) zu Stw. „Begriffswandel der »Neurose« und Problem der Kriegszitterer“: Seite 62 f.
  4. Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie. Springer, Berlin 91973, ISBN 3-540-03340-8, Anhang § 4 Historisches über Psychopathologie als Wissenschaft. - Anstaltspsychiatrie und Universitätspsychiatrie. Seite 705 f.
  5. Dörner, Klaus und Ursula Plog: Irren ist menschlich oder Lehrbuch der Psychiatrie / Psychotherapie. Psychiatrie-Verlag Rehburg-Loccum 71983, ISBN 3-88414-001-9; Seite 432

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