Lissabon-Urteil

Lissabon-Urteil
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Mit dem Lissabon-Urteil (BVerfGE 123, 267 = NJW 2009, 2267) entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) am 30. Juni 2009 über mehrere Anträge[1]. Sowohl der Vertrag von Lissabon (bzw. das entsprechende deutsche Zustimmungsgesetz) als auch die Umsetzung in deutsches Recht im dazugehörigen Begleitgesetz wurde auf die Vereinbarkeit mit dem deutschen Grundgesetz (Verfassungsmäßigkeit bzw. Verfassungswidrigkeit) überprüft.

Das deutsche Begleitgesetz verstieß nach dieser Entscheidung teilweise gegen das Grundgesetz. Der Vertrag von Lissabon sei zwar mit dem Grundgesetz zu vereinbaren, er dürfe aber erst durch Deutschland ratifiziert werden, wenn ein neues Begleitgesetz den nationalen Parlamenten mehr Rechte einräumte.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

Der Vertrag von Lissabon wurde zwischen den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union am 13. Dezember 2007 unter der portugiesischen Ratspräsidentschaft in Lissabon unterzeichnet. Es ging den teilnehmenden Mitgliedern darum, den europäischen Einigungsprozess voranzutreiben, insbesondere sollte die Union eine einheitliche Struktur und Rechtspersönlichkeit erhalten.

In Deutschland beschloss am 15. Februar 2008 der Bundesrat gemäß Art. 76 GG eine Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007[2], welche sein Ausschuss für Fragen der Europäischen Union[3] empfohlen hatte.[4] Am 24. April 2008 stimmte der Bundestag mit 515 Ja-Stimmen bei 58 Gegenstimmen und einer Enthaltung für den Vertrag. Am 23. Mai 2008 ratifizierte auch der Bundesrat den EU-Vertrag mit 66 Ja-Stimmen und drei Enthaltungen; 15 Länder stimmten zu, Berlin enthielt sich auf Bestreben der dort mitregierenden Partei Die Linke.[5] Noch am gleichen Tag reichte der Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler (CSU), der bereits 2005 gegen den Europäischen Verfassungsvertrag geklagt hatte, beim Bundesverfassungsgericht eine Individual- und eine Organklage gegen die deutsche Ratifizierung des Vertrages ein[6]. Die Klageschrift wurde im Wesentlichen verfasst und eingereicht durch den Staatsrechts-Professor Karl Albrecht Schachtschneider; das die Klagen tragende Gutachten stammt aus der Feder des Staatsrechtlers Dietrich Murswiek aus Freiburg[7], der die Klage auch vor dem Bundesverfassungsgericht vertrat. Auch die Bundestagsfraktion der Linken, vertreten durch den Bielefelder Hochschullehrer Andreas Fisahn [8], die Ökologisch-Demokratische Partei (ödp) unter ihrem Vorsitzenden Klaus Buchner[9] sowie weitere Einzelabgeordnete reichten Verfassungsbeschwerden ein. Das Bundespräsidialamt teilte am 30. Juni mit, dass Horst Köhler auf die formale Bitte des Bundesverfassungsgerichts hin die Ratifizierungsurkunde vor einer Urteilsverkündung nicht unterschreiben werde.[10] Am 8. Oktober 2008 hat der Bundespräsident zwar das Umsetzungsgesetz zum Vertrag von Lissabon unterschrieben und ausgefertigt; eine völkerrechtlich bindende Ratifikation liegt damit aber noch nicht vor, da noch die Unterschrift des Bundespräsidenten auf der Ratifikationsurkunde fehlt, die bei der italienischen Regierung hinterlegt werden muss.[11]

Das Urteil

Die mündliche Verhandlung fand am 10. und 11. Februar 2009 statt. Am 30. Juni 2009 verkündete das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung.[12] Der Vertrag von Lissabon und das deutsche Zustimmungsgesetz entspreche den Vorgaben des Grundgesetzes.[13]

Das deutsche Begleitgesetz[14] zum Vertrag von Lissabon verstoße jedoch insoweit gegen Art. 38 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG, als Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages und des Bundesrates nicht im erforderlichen Umfang ausgestaltet worden seien.[13]

Die europäische Vereinigung dürfe nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedsstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibe.[15] Dies gelte insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum prägten, sowie für solche politischen Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen seien, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten würden.[15]

Trotz seiner skeptischen Grundhaltung zur europäischen Demokratie unterstreicht das Urteil eine zusätzliche Legitimation europäischer Hoheitsgewalt durch eine partizipatorische Demokratie: „Derartige Formen dezentraler, arbeitsteiliger Partizipation mit legitimitätssteigerndem Potential tragen ihrerseits zur Effektivierung des primären repräsentativ-demokratischen Legitimationszusammenhangs bei.“[16]

Die Verfassungsorgane Deutscher Bundestag und Deutscher Bundesrat haben nach der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts neben der Bundesregierung und dem Bundesverfassungsgericht eine Integrationsverantwortung.

Vor Inkrafttreten der gesetzlichen Ausgestaltung der Beteiligungsrechte darf die Ratifikationsurkunde der Bundesrepublik Deutschland nicht hinterlegt werden.[13]

Vorgaben

In Umsetzung der gerichtlichen Vorgaben entstanden (neue) Begleitgesetze, die den Europa-Artikel weitreichend ergänzen und konkretisieren:[17]

  • Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union [Integrationsverantwortungsgesetz - IntVG]
  • neu: Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelehenheiten der Europäischen Union [EUZBBG]
  • neu: Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union [EUZBLG].

Relativierung durch den Mangold-Beschluss

Im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juli 2010 zur sogenannten Mangold-Entscheidung des EuGH[18][19] wird in ersten Kommentaren eine Kehrtwende des Lissabon-Urteils gesehen. Das Urteil enthalte zahlreiche Aussagen, die dem Geist der Lissabon-Entscheidung diametral entgegen stünden.[20]

Frühere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

Zum Verhältnis von Grundgesetz und Europarecht hatte sich das Bundesverfassungsgericht schon in früheren Beschlüssen und Urteilen geäußert. Zu verweisen ist auf:

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Aktenzeichen: 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08 und 2 BvR 182/09
  2. Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 der Bundesregierung, Drucksache 928/07, 20. Dezember 2007
  3. Ausschuss für Fragen der Europäischen Union des Bundesrates
  4. Empfehlungen des Ausschusses für Fragen der Europäischen Union des Bundesrates, Drucksache 928/1/07, 4. Februar 2008; Antrag der Länder Bayern, Saarland, Baden-Württemberg, Drucksache 928/2/07, 14. Februar 2008
  5. www.heute.de
  6. Süddeutsche Zeitung: Auf zum letzten Gefecht – diesmal in Karlsruhe, 23. Mai 2008.
  7. Dietrich Murswiek, Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz. Rechtsgutachten über die Zulässigkeit und Begründetheit verfassungsgerichtlicher Rechtsbehelfe gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon und die deutsche Begleitgesetzgebung, 2. Aufl. 2008, Download unter http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/6472/
  8. Fisahn, Andreas: Klage gegen das Zustimmungsgesetz zum Lissaboner Vertrag, http://www.jura.uni-bielefeld.de/Lehrstuehle/Fisahn/Veroeffentlichungen_Vortraege/KLagen-end-zusammen.pdf
  9. Darstellung auf der Website der ÖDP
  10. Der Spiegel online: Deutsches Ja zur EU-Reform gestoppt, 30. Juni 2008.
  11. Nach Ausfertigung durch den Bundespräsident wurde zwar das Umsetzungsgesetz im Bundesgesetzblatt (BGBl II, S. 1038) veröffentlicht (vgl. Süddeutsche Zeitung: „Köhler billigt EU-Vertrag“, 8. Oktober 2008). Zum Abschluss des Ratifikationsprozesses bedarf es jedoch noch der Unterschrift des Bundespräsidenten auf der Ratifikationsurkunde, vergleiche Art. 6 der Schlussbestimmungen des Vertrages von Lissabon, BGBl II/08, S. 1092.
  12. BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30. Juni 2009, Absatz-Nr. (1 - 421), http://www.bverfg.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html.
  13. a b c Bundesverfassungsgericht – Pressestelle: Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon mit Grundgesetz vereinbar; Begleitgesetz verfassungswidrig, soweit Gesetzgebungsorganen keine hinreichenden Beteiligungsrechte eingeräumt wurden. In: Pressemitteilung Nr. 72/2009. 30.Juni 2009, abgerufen am 1. Juli 2009: „Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat heute entschieden, dass das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Dagegen verstößt das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union insoweit gegen Art. 38 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG, als Bundestag und Bundesrat im Rahmen von europäischen Rechtssetzungs- und Vertragsänderungsverfahren keine hinreichenden Beteiligungsrechte eingeräumt wurden. Die Ratifikationsurkunde der Bundesrepublik Deutschland zum Vertrag von Lissabon darf solange nicht hinterlegt werden, wie die von Verfassungs wegen erforderliche gesetzliche Ausgestaltung der parlamentarischen Beteiligungsrechte nicht in Kraft getreten ist. Die Entscheidung ist im Ergebnis einstimmig, hinsichtlich der Gründe mit 7:1 Stimmen ergangen (zum Sachverhalt vgl. Pressemitteilungen Nr. 2/2009 vom 16. Januar 2009 und Nr. 9/2009 vom 29. Januar 2009).[...]“
  14. Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union BT-Drs. 16/8489 (geplantes deutsches Begleitgesetz zum Vertrag von Lissabon)
  15. a b BVerfG, Urteil des 2. Senats vom 30. Juni 2009, Az. 2 BvE 2/08 3. Leitsatz: „Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt. Dies gilt insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen, sowie für solche politischen Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten.“Abgerufen am 1. Juli 2009.
  16. http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html Urteil des 2. Senats vom 30. Juni 2009, Az. 2 BvE 2/08, RNr. 272. Vgl. hierzu: Bernd Hüttemann: Europäisches Regieren und deutsche Interessen. Demokratie, Lobbyismus und Art. 11 EUV, Erste Schlussfolgerungen aus „EBD Exklusiv“, 16. November 2010 in Berlin. In: EU-in-BRIEF. Nr. 1, Berlin 2011, ISSN 2191-8252 (http://www.europaeische-bewegung.de/fileadmin/files_ebd/eu-in-brief/EBD_PUB_EU-in-BRIEF_1_2011.pdf). S. 2.
  17. von Arnauld/Hufeld (Hrsg.), Systematischer Kommentar zu den Lissabon-Begleitgesetzen, IntVG I EUZBBG I EUZBLG, 1. Auflage Baden-Baden 2011, ISBN 978-3-8329-5339-3
  18. BVerfG: Mangold-Urteil des Europäischen Gerichtshofs stellt keine verfassungsrechtlich zu beanstandende Kompetenzüberschreitung dar. Abgerufen am 30. August 2010 (Pressemitteilung Nr. 69/2010 vom 26. August 2010).
  19. BVerfG: Beschluss des Zweiten Senats vom 6. Juli 2010 - 2 BvR 2661/06. Abgerufen am 30. August 2010.
  20. Joachim Wuermeling: Was bleibt noch vom Lissabon-Urteil? Europa-Union Deutschland Europa-Professionell, 30. August 2010, abgerufen am 30. August 2010: „... an die Ausübung der Ultra-vires-Kontrolle, die das Lissabon-Urteil etabliert hat, und die ein zentraler Stein des Anstoßes war, werden kaum zu erreichende Anforderungen gestellt ... Der Duktus, die Gedankenführung und die Sprache zu Europa in der neuen Entscheidung stehen in scharfem Kontrast zum Lissabon-Urteil. Auch beruft sich das Gericht in Zitaten auf ganz andere Rechtswissenschaftler als in dem Spruch vom letzten Jahr. Wer beide Urteile gelesen hat, kann kaum glauben, dass sie vom selben Gericht -und sogar von demselben Senat- kommen.“

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