Chaos der 10 Jahre

Chaos der 10 Jahre
Mao-Abzeichen
„Dem Volke dienen!“
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Die chinesische Kulturrevolution (chin. 無產階級文化大革命 / 无产阶级文化大革命, wúchǎnjiējí wénhuà dàgémìng „Große Proletarische Kulturrevolution“, oder kurz 文革 wéngé) war eine politische Kampagne zwischen 1966 und 1976, die von Mao Zedong ausgelöst wurde, um seine Macht gegenüber realen und vermeintlichen Gegnern in der kommunistischen Partei zu behaupten und die Volksrepublik China wieder ganz nach seinen persönlichen Vorstellungen umzugestalten. Ihre dreijährige Hochphase zeichnete sich durch exzessive Morde, Misshandlungen, Zerstörungen und Restriktionen aus.

Hierbei bediente Mao Zedong sich der leicht zu mobilisierenden und manipulierbaren Jugend (vor allem der Nachkommen der Funktionäre), die seit 1963/64 wieder verstärkt auf den „Vorsitzenden Mao“ eingeschworen worden war und ab 1966 dazu angestachelt wurde, den Klassenkampf gegen den vermuteten inneren Feind zu führen. Dies war zunächst die chinesische Kultur selbst, und somit ihre Träger, allen voran die Gebildeten und Gelehrten, sowie die kulturellen Güter und Lebensweisen des Landes. Ins Visier der Kulturrevolution gerieten rasch die verantwortlichen Parteimitglieder, d. h. die landesweite Verwaltung, die nach dem katastrophalen Großen Sprung nach vorn die Versorgungslage unabhängig vom Parteivorsitzenden wieder in den Griff bekommen hatte.

Inhaltsverzeichnis

Konzept und Begriff

Der Begriff und das Konzept einer Kulturrevolution sind keineswegs eine Schöpfung der Maoisten. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts forderten die Mitglieder der Neuen Kulturbewegung in der Bewegung des vierten Mai eine radikale und fundamentale Transformation der bis dahin feudalen Gesellschaft und Kultur Chinas. Angesichts des hohen Bedarfs an Reformen, um aus dem jahrtausendealten Feudalsystem Chinas eine moderne Gesellschaft zu machen, lehnten sie jegliches Fortleben von althergebrachten Traditionen ab und legten einen starken Akzent auf die menschliche Vernunft für den Fortschritt in Politik, Kultur und Wirtschaft.

Daran anknüpfend sollte China nach Maos Vorstellungen direkt aus dem Feudalismus in den Kommunismus übergehen. Hierfür entwickelte er das Schlagwort von der ewigen Revolution. Demnach sollte sichergestellt werden, dass nach erfolgreicher Machtübernahme durch die Kommunistische Partei auch die traditionelle chinesische Kultur in die Revolution einbezogen wird. Sie sollte eine schnelle Industrialisierung des Landes ermöglichen.

Wirtschaftliche Hintergründe

Nach dem Debakel des Großen Sprunges nach vorn gewannen pragmatischere Kräfte unter Liu Shaoqi und Deng Xiaoping an Einfluss. Die Wirtschaft erholte sich und die Versorgungslage besserte sich schnell. Das starke Wachstum wurde jedoch unter anderem auch durch die Wiedereinführung von Akkordlöhnen, Bonussystemen und nichtständige Beschäftigung erreicht. Gleichzeitig wurden viele der während des Großen Sprunges nach vorn am Land aufgebauten Wirtschaftsbetriebe, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen geschlossen. Das während des Großen Sprunges rückläufige Stadt-Land-Gefälle stieg wieder stark an. Jugendliche, die von den Städten aufs Land geschickt waren, kehrten in die Städte zurück. Mit dem Zuzug zahlreicher Landbewohner stieg die Arbeitslosigkeit in den Städten stark an. Es entstanden soziale Spannungen zwischen den fest angestellten Arbeitern in den Industriebetrieben und jenen, die jederzeit entlassen werden konnten.

Gesellschaftliche Hintergründe

Auf dem 8. Parteikongress der Kommunistischen Partei Chinas (1956) verkündete Liu Shaoqi, dass die Klassengesellschaft in China eliminiert und das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft erreicht sei. Nach marxistisch-leninistischer Definition der Klasse war dies in der Tat der Fall, denn das Privateigentum an Produktionsmitteln war abgeschafft und die marxistische Lehre unterschied zwischen den Klassen nur anhand des Besitzes von Produktionsmitteln.

In der Praxis waren jedoch gesellschaftliche Unterschiede weiterhin gang und gäbe. Schüler, deren Eltern vor der Errichtung der Volksrepublik einer anderen Klasse als Arbeiter oder Bauer angehört hatten, waren häufig Diskriminierungen ausgesetzt. Eine vermeintlich schlechte Klassenherkunft wurde häufig dazu genutzt, Mitbürger zu schikanieren. Gleichzeitig entstand mit der Staats- und Parteibürokratie eine neue Klasse, die sich von den normalen Bürgern durch die von der Partei verliehenen Privilegien – nach genauen Rangunterschieden klassifiziert – unterschied. So hatten Mitglieder des Staats- und Parteiapparates und deren Angehörige Zugang zu besserer Bildung, besseren Wohnungen und fortgeschrittenerer Gesundheitsversorgung.

Zu Beginn der 1960er Jahre machte Mao für alle überraschend die Gegner einer klassenlosen Gesellschaft in der Kommunistischen Partei selbst aus, indem er diejenigen Parteifunktionäre kritisierte, die den „kapitalistischen“ Weg gehen wollten. Hierbei berief er sich auf die Entwicklung in der Sowjetunion unter Chruschtschow, mit der es mittlerweile zu unüberbrückbaren Spannungen gekommen war. Mao warf seiner Partei vor, die „ewige Revolution“ nicht mehr ausführen zu können. Damit waren natürlich seine unmittelbaren Kontrahenten, zuallererst Deng Xiaoping und Liu Shaoqi, gemeint.

In mehreren Reden kritisierte der politisch geschwächte Mao Zedong diese Entwicklungen. Er zeichnete ein Bild von neuen Klassenkämpfen zwischen den Funktionären einerseits und den Arbeitern und Bauern andererseits. Es wurden ideologische Diskussionen darüber geführt, ob eine sozialistische Gesellschaft neue Klassen hervorbringen kann und ob die „alten Elemente“ daran schuld seien oder nicht. Die geplante Industrialisierung Chinas, die die gezielte Ausbildung von technischen Experten (auch im Ausland) beinhaltete, förderte die Bildung einer Bürokratenklasse, deren technische Fähigkeiten sich auch ohne ein revolutionäres Bewusstsein entfalten konnten.

Die Funktionäre in der Verwaltungsebene dagegen hatten sich nach der Hundert-Blumen-Bewegung und dem Großen Sprung nach vorn ins Privatleben zurückgezogen und vermieden es, durch Kritik ins Schussfeld neuer unberechenbarer Kampagnen zu geraten. Somit war ein relativ breitgefächerter Diskurs bereits vor Beginn der Kulturrevolution praktisch zum Erliegen gekommen.

Verlauf

Kulturrevolutionskomitee

Im Juli 1964 wurde auf Wunsch Mao Zedongs ein kleines Komitee ins Leben gerufen, welches eine Kulturrevolution vorbereiten sollte. Diesem Komitee gehörten Peng Zhen (Bürgermeister von Peking, Mitglied des Parteisekretariats), Lu Dingyi (Propagandachef der Partei), Kang Sheng (Stellvertretender Parteisekretär), Zhou Yang (stellvertretender Propagandachef) und Wu Lengxi (Chef der Nachrichtenagentur Xinhua) an. Unter diesen fünf Personen kann jedoch nur einer (Kang Sheng) als enger Verbündeter Maos gewertet werden.

Hai Rui wird seines Amtes enthoben

Deutsche Ausgabe der Mao-Bibel von 1972

Am 10. November 1965 erschien in der Shanghaier Literaturzeitung Wenhui bao ein Artikel Yao Wenyuans, der Wu Hans Schauspiel Hai Rui wird seines Amtes enthoben angriff. Stücke wie dieses waren damals sehr populär. Sie kritisierten implizit Vorgänge im gesellschaftlichen Leben, besonders jedoch Korruption und Machtmissbrauch, obwohl die Stücke zeitlich meist in der Kaiserzeit angesiedelt waren. Wu Han, der Vizebürgermeister von Peking war, wurde bezichtigt, Gift in der Gesellschaft zu verbreiten. Nach einigen Machtproben innerhalb der Führungsriege setzte Mao durch, dass Yao Wenyuans Artikel in allen Zeitungen gedruckt wurde. Mehrere Zeitungen fügten diesem Artikel Kommentare hinzu, die den Inhalt des Artikels teils unterstützten und teils vorschlugen, Yao Wenyuans Artikel rein akademisch zu diskutieren.

Im März und April 1966 begannen mehrere Artikel in verschiedenen Zeitungen, Wu Han und Peng Zhen schärfstens anzugreifen und sie antisozialistischer Aktivitäten zu beschuldigen. Bereits auf den Feierlichkeiten zum 1. Mai erschien Peng Zhen nicht mehr. Dies war das erste wirklich sichtbare Anzeichen für den Beginn der Kulturrevolution. Am 11. Mai wurde das Pekinger Parteikomitee, welches Peng Zhen geleitet hatte, aufgelöst. Peng Zhen war somit das erste Opfer der Kulturrevolution. Kurz darauf wurde auch das ursprüngliche Kulturrevolutionskomitee aufgelöst und ein neues gegründet, welches direkt dem Politbüro unterstellt war. Es wurde von Chen Boda, dem Chefredakteur der Zeitung Rote Fahne, und Kang Sheng als seinem Berater, geführt.

Aufruhr in den Schulen Pekings

Am 25. Mai 1966 erschien die erste Wandzeitung (大字报, dàzibào, wörtl. „Große-Zeichen-Plakat“) an der Peking-Universität. Dieses Plakat wurde von Nie Yuanzi, Parteisekretärin des Philosophieinstituts, geschrieben. Dazu wurde sie von Kang Sheng ermuntert. Sie beschuldigte den Rektor der Universität, Lu Ping, und einige seiner Kollegen, die Kulturrevolution zu sabotieren. Am 1. Juni wurde der Inhalt des Plakats in einer von Mao persönlich modifizierten Form im Radio und am 2. Juni im Parteiorgan Renmin Ribao veröffentlicht. Das Plakat forderte unter anderem, „die große rote Flagge des Mao-Zedong-Denkens hochzuhalten, sich um die Partei und Vorsitzenden Mao zu vereinen und (…) alle Subversionspläne der Revisionisten zu zerstören“.

An den 55 höheren Bildungseinrichtungen in Peking formierten sich Gruppen aus Gymnasialschülern und Studenten. Plakate ähnlich dem von Nie Yuanzi erschienen an allen Schulen der Stadt. Eines dieser Plakate wurde mit „Rote Garde“ unterzeichnet. Dieser Name wurde später überall populär, obwohl sich in der Anfangsphase der Kulturrevolution Rebellengruppen mit allen möglichen Namen bildeten. Diese Gruppen waren keineswegs homogen. Die Gründe, warum sich Schüler diesen Gruppen anschlossen, reichten vom Glauben an die von Mao propagierten revolutionären Ideale über akademische oder soziale Interessen bis hin zur einfachen Lust zur Rebellion gegen ungeliebte Lehrer.

Die Parteiführung um Liu Shaoqi versuchte, die Rebellion in geordnete Bahnen zu lenken und vor allem vor der Öffentlichkeit zu verbergen, und entsandte ab dem 5. Juni Parteigruppen zu den Roten Garden, um mit ihnen zu arbeiten. Das vorrangige Ziel war es, den Parteiapparat und dessen privilegierte Mitglieder, die Mao angreifen wollten, vor den Roten Garden zu schützen. Auch sollten die Rebellengruppen voneinander isoliert werden, was jedoch nicht gelang. Die Arbeitsgruppen der Partei waren jedoch bei den Rebellen sehr unbeliebt und aus einigen Pekinger Universitäten wurden die Arbeitsgruppen nur wenige Tage später wieder vertrieben. Trotzdem wurden die Energien auf Intellektuelle und Kommilitonen mit schlechtem Klassenhintergrund gelenkt. Am 18. Juni wurden bei der ersten „Kampf- und Kritiksitzung“ etwa 60 höhere Universitätslehrer durch Schläge, Fußtritte und andere physische Gewalt gedemütigt und dann mit großen Postern durch die Straßen getrieben. Diese Aktion wurde durch die Partei-Arbeitsgruppen bald beendet und sowohl durch die Mao-Fraktion als auch durch die Liu-Fraktion innerhalb der Partei verurteilt. Im ganzen Land begann eine Hatz auf die vermeintlichen Feinde der Entwicklung der arbeitenden Klasse. Angesichts der Rebellion an den Universitäten und Schulen wurden am 18. Juni die Aufnahmeprüfungen für die Universitäten ausgesetzt.

Es ist eine Ironie, dass jene Studenten, die offiziell aus „revolutionären“ Verhältnissen stammen, also in der existierenden Gesellschaft privilegiert sind, plötzlich an der Erhaltung des existierenden Systems interessiert waren und deshalb zu konservativen Kräften in der Kulturrevolution wurden. Demgegenüber wurden Studenten mit weniger Privilegien, weil sie z. B. einer früheren Landbesitzerfamilie entstammen, häufig extrem radikal, weil sie sich davon einige Vorteile für ihr späteres Vorankommen versprachen.

Ende Juli 1966 wurden auf Maos Betreiben hin die Parteigruppen, die mit den Roten Garden arbeiteten, abgeschafft. Dies beendete die „fünfzig Tage des weißen Terrors“. Die Roten Garden organisierten sich ab nun selbst. In einem Brief an die Roten Garden des Gymnasiums der Qinghua-Universität schrieb Mao, dass es „gerechtfertigt ist, gegen die reaktionären Elemente zu rebellieren“ und dass er die Bewegung unterstütze. Der Brief wurde sofort publiziert; Rote Garden bilden sich daraufhin im ganzen Land. Der Konflikt zwischen Liu Shaoqi und Mao Zedong wurde für alle offensichtlich, und Maos politisches Gewicht stieg rasant auf Kosten Lius. Anfang August wurden die sogenannten 16 Punkte veröffentlicht, die die Richtlinien für die Kulturrevolution darstellten und die Fraktion um Liu und Deng weiter schwächten.

Am 18. August versammelten sich auf dem Tiananmen-Platz eine Million Jugendlicher in der Uniform der Volksbefreiungsarmee, um die Kulturrevolution zu feiern. Mao Zedong erschien in gottgleicher Pose und begrüßte die Anwesenden. Demonstrativ wurde ihm von einer Mittelschülerin eine rote Armbinde umgebunden, womit er stillschweigend zum obersten Anführer der Roten Garden wurde. Die Roten Garden begrüßten Mao mit Armbinden, Mao-Ansteckern und Mao-Knöpfen sowie dem berühmten Roten Buch. Lin Biao rief die Roten Garden dazu auf, „alles alte, ausbeuterische Gedankengut, alte Kultur, Gebräuche und Gewohnheiten“ zu vernichten.

Roter Terror

Ab dem 19. August begann getreu Lin Biaos Aufruf der „Krieg gegen die Alte Welt“. Erst in Peking, später in allen Städten des ganzen Landes erschienen Plakate, die verlangten, alles zu vernichten, was kapitalistisch, feudal, reaktionär oder revisionistisch war und unter den Vier alten Dingen zusammengefasst wurde.

Erstes Ziel der Angriffe der Roten Garden waren Namen: Die Straße vor der sowjetischen Botschaft wurde in „Anti-Revisionismus-Straße“ umbenannt und jene, wo sich die vietnamesische Botschaft befand, wurde zur „Unterstützt-Vietnam-Straße“. Die Abteilung für Philosophie an der Akademie der Wissenschaften Chinas wurde in „Mao-Zedong-Denken-Abteilung“ umbenannt. Selbst Personen mussten ihre Namen ändern, wenn sie auf feudale oder kapitalistische Verbindungen schließen ließen. Überall wurden traditionelle Inschriften, etwa das einfache Zeichen fu (Wohlstand) mit revolutionären Slogans überschrieben. Ähnlich erging es vielen Geschäften, die ihre Namen – teilweise mit langer Tradition – in revolutionäre Namen ändern mussten.

Am 23. August drangen die Pekinger Roten Garden in die Theater, Opernhäuser und das Städtische Kulturbüro ein und brachten alle erbeuteten Gegenstände in den Hof des Konfuziustempels. Etwa dreißig bekannte Kulturschaffende wurden ebenfalls auf den Hof gezwungen. Die Kulturgegenstände wurden dort verbrannt. Die Köpfe der Gefangenen wurden kahlgeschoren und teilweise mit schwarzer Tinte übergossen, mit den Theaterrequisiten geschlagen und mit heißen Eisen misshandelt. Sie mussten stundenlang in einer Zwangshaltung in der heißen Sonne knien. Der schwer gezeichnete Leib des Schriftstellers Lao She wurde am Morgen des 25. August im Taiping-See gefunden. Er starb am Abend davor wahrscheinlich durch Suizid. Damit war er eines der prominentesten Opfer der Kulturrevolution. Ein ähnliches Schicksal erlitten der prominente Übersetzer Fu Lei und seine Frau, die sich am 3. September 1966 erhängten.

Generäle der Kuomintang, die von den Kommunisten offiziell begnadigt und rehabilitiert worden waren, wurden von den Roten Garden zur Zwangsarbeit gezwungen; einige wurden auch mit unbegründeten Anschuldigungen gefangen gehalten.

Beschädigter Fries, Suzhou

Viele bedeutende architektonische oder kulturelle Denkmäler wurden beschädigt oder ganz zerstört. Buddhistische sowie taoistische Tempel, Klöster oder Gräber, sowie Moscheen, die teils aus der Ming-Zeit stammten, wurden abgerissen, Bilder und Statuen zerstört und durch Mao-Porträts ersetzt. Ausgrabungsstätten wurden zerstört und zugeschüttet. Religiöse Praxis wurde weitgehend verboten und die meisten Mönche vertrieben, verhaftet oder getötet.

Von diesen Kulturgütern existieren heute teils nur noch Ruinen. Selbst Teile der Chinesischen Mauer wurden abgerissen und die Steine zur Reparatur von Straßen oder zum Dammbau verwendet. Die einzige Kulturstätte, die der Wut der Roten Garden unversehrt entging, war der Kaiserpalast im Herzen Pekings. Bereits kurz vor der Kampagne zur Zerstörung der „Vier alten Dinge“ hatte Premierminister Zhou Enlai die Schließung des Palastes und dessen Schutz durch Armeeeinheiten veranlasst.

Die Zerstörungen von Kulturgütern und Misshandlungen passierten im ganzen Land, jedoch nicht überall mit gleicher Intensität. Regionen wie Xinjiang, Tibet oder die Innere Mongolei waren davon nicht ausgenommen. Auch Jugendliche der nationalen Minderheiten waren unter den Roten Garden. So wurden in Xinjiang Moscheen gestürmt und teils jahrhundertealte Ausgaben des Korans verbrannt.

Da das Züchten von Blumen und das Halten von Haustieren als bürgerlich galt, wurden Parks und Gärten in Getreide- und Gemüsefelder umgewandelt. Auch vor Skurrilitäten schreckten die Roten Garden nicht zurück. Da „rot“ und „links“ als revolutionär galten, entschieden sie, dass der Rechtsverkehr durch Linksverkehr ersetzt werden sollte und dass an Ampelkreuzungen künftig „Rot“ das Zeichen für freie Fahrt sein sollte. Rote Garden stellten sich an Kreuzungen zusammen mit Polizisten auf, um den Verkehr nach ihren Vorstellungen umzuleiten, was zu Chaos und zahllosen Unfällen führte und schließlich von Premier Zhou Enlai verboten wurde.

Gleichzeitig mit der Zerstörung von Kulturgütern wurde bei massiven Hausdurchsuchungen meist alles beschlagnahmt, was in den Haushalten zu finden war. Opfer dieser Hausdurchsuchungen waren Haushalte, die in irgendeiner Form privilegiert waren. Sofern sich die Eigentümer wehrten, wurden sie nicht selten der Konterrevolution bezichtigt und hingerichtet.

Der Rote Terror ebbte mit den ersten kühlen Herbsttagen ab, als viele der Roten Garden feststellen mussten, dass andere Rote Garden ihre Elternhäuser durchsucht hatten und sie keine warme Winterkleidung mehr besaßen und dass sich auch niemand um die ordnungsgemäße Verwahrung der konfiszierten Sachen gekümmert hatte.

Bildung von Netzwerken

Bereits in den ersten Tagen der Kulturrevolution begannen Rote Garden aus verschiedenen Teilen Chinas nach Peking zu strömen. Teilweise waren sie eingeladen worden, an der Feier der Kulturrevolution teilzunehmen und von Mao empfangen zu werden. Viele andere jedoch kamen in die Hauptstadt, weil die lokalen Parteiführer die Kulturrevolution bekämpften und die Macht der Roten Garden zu beschränken suchten. Die Jugendlichen wollten daher bei Mao persönlich vorsprechen, um sich von ihm ideologisch beraten zu lassen. Eine erste große Gruppe machte sich von der Stadt Tianjin aus zu Fuß nach Peking auf. Das Revolutionskomitee in Peking sandte einen Sonderzug, um die Marschierenden nach Peking zu bringen.

Andererseits machten sich Rote Garden aus Peking, die von Schwierigkeiten ihrer Kollegen in anderen Städten hörten, auf den Weg in alle Landesteile der Volksrepublik. In vielen Städten wurden sie mit großer Skepsis empfangen und es brachen auch gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern jener Städte und den Roten Garden aus. Das Revolutionskomitee sah die reisenden Garden jedoch als eine Möglichkeit, Widerstand leistende lokale Parteiführer auf ihre Linie zu bringen. Mao veranlasste Zhou Enlai deshalb, auf dem zweiten Empfang für die Roten Garden (31. August) zu verkünden, dass das Bilden von Netzwerken und das Reisen in andere Regionen gut sei und von der Führung unterstützt werde.

Die nun leerstehenden Schulen und Universitäten wurden in Versorgungsstützpunkte für die reisenden Roten Garden umgewandelt. Mitglieder der Roten Garden erhielten Gratistickets der Eisenbahn. Das Transportsystem der Volksrepublik wurde aufs äußerste beansprucht, als plötzlich Millionen von Jugendlichen die Bahnhöfe, Busstationen und Binnenhäfen stürmten. In den Zügen kam es zu chaotischen Zuständen, weil deren Fassungskapazität zum Teil um das dreifache überschritten wurde. Zahlreiche Jugendliche fanden den Tod, als sie schlafend von Zugdächern fielen. Das Eisenbahnministerium bat die Parteiführung um Hilfe und es wurde verkündet, dass es der richtige Weg sei, die Netzwerke unter den Roten Garden zu Fuß zu bilden.

Im November 1966 war die Krise im Transportsystem keinesfalls behoben, obwohl in der Tat viele Rote Garden zu Fuß durch das Land marschierten. Das Revolutionskomitee fürchtete zudem, dass die Kulturrevolution dadurch, dass die Schulen leer und die Roten Garden auf Reisen waren, zum Stillstand kommen würde. Zudem brachen durch das kalte Wetter und die mangelhafte Ausstattung der Roten Garden Krankheiten aus. Die Führung verkündete deshalb das Ende der Netzwerkkampagne und die Wiederaufnahme für den Frühling. Erst als die Versorgungsstützpunkte die Roten Garden abwiesen, kamen wirklich alle Jugendlichen in ihre Heimatschulen zurück. Die Netzwerkkampagne für den Frühling wurde abgesagt.

Sturz von Liu Shaoqi

Die Abschaffung der Gruppen der Partei im Juli 1966, die mit den Roten Garden arbeiteten, war bereits ein deutliches Zeichen dafür, dass Mao und sein Kulturrevolutionskomitee den Sturz der pragmatischen Fraktion um Liu und Deng planten. Bereits im August 1966 wurden Plakate geklebt, auf denen zu lesen war, dass Liu Shaoqis Aussagen dem Mao-Zedong-Denken widersprachen. Die ersten Versuche von Roten Garden, die Macht von Liu und Deng zu untergraben, waren für Mao jedoch kontraproduktiv. Sie verursachten nur Widerstand gegen die Kulturrevolution bei den Bauern und Arbeitern, die von der Politik von Liu und Deng profitierten.

Im September 1966 begann das Kulturrevolutionskomitee deshalb, eine Reihe von Direktiven herauszugeben, die alle und jeden davor warnten, sich der Bewegung der Roten Garden entgegenzustellen. In den Medien wurden die Vorgänge in den Slogan „Kampf zwischen den zwei Linien“ gegossen.

Im Oktober wurden Liu und Deng auf einem zwanzigtägigen Arbeitstreffen der Parteiführung dazu gezwungen, zahlreiche Fehler zuzugeben und umfangreiche Selbstkritik zu üben. Nach diesem Treffen verkündeten die mittlerweile komplett von Mao kontrollierten Parteimedien den „Bankrott der kapitalistischen Revisionisten“. Das Kulturrevolutionskomitee veranlasste, dass die ersten Plakate, die den Sturz von Deng und Liu forderten, aufgehängt wurden. Nach wie vor traten die beiden auf den Empfängen für die Roten Garden auf, denn sie hatten immer noch eine sehr große Anhängerschaft und konnten nicht so einfach abgelöst werden. Für den 25. Dezember wurde vom Kulturrevolutionskomitee eine große Demonstration organisiert, die forderte, dass „Liu Shaoqi vor dem ganzen chinesischen Volk seine Verbrechen zugeben“ müsse und dass „Deng und Liu bis zum blutigen Ende bekämpft werden“ müssten.

Inzwischen hatten sich aber auch in den Roten Garden selbst Fraktionen gebildet, die die Absetzung zahlreicher hoher und verdienter Personen in Staat und Partei mit Unbehagen beobachteten. Auch die Theorie der Blutsverwandtschaft, die unter den Roten Garden zirkulierte und besagte, dass der Sohn eines Konterrevolutionärs ebenso für nichts zu gebrauchen sei, führte zur Bildung eines Widerstandes gegen Mao innerhalb der Garden. Alle jene, die Gefahr für die Posten ihrer Eltern sahen, sahen sich auch selbst ganz persönlich betroffen. Diese Fraktionen, die die Aktionen der Roten Garden entweder boykottierten oder bekämpften, befanden sich jedoch in der Minderheit und hatten letztlich wenig Einfluss. Die wichtigste unter ihnen nannte sich „Koordiniertes Aktionskomitee“ und überdauerte nur bis in den frühen Sommer 1968. Einzelpersonen aus den Reihen der Roten Garden, die es wagten, das Kulturrevolutionskomitee und insbesondere Lin Biao und Maos Frau Jiang Qing zu kritisieren wie etwa Yilin Dixi oder Li Hongshan, wurden aus den Garden nach den üblichen Kritik- und Kampfsitzungen ausgeschlossen und teilweise vom Ministerium für öffentliche Sicherheit verhaftet.

Ab Beginn des Jahres 1967 begann das Kulturrevolutionskomitee damit, bedeutende Figuren, die zum Kreis um Liu Shaoqi und Deng Xiaoping gehörten, zu eliminieren. Dabei zeichneten sich Maos Frau Jiang Qing und Kang Sheng durch besondere Grausamkeit aus. So wurde Tao Zhu, der mehrere wichtige Funktionen besetzte, systematisch in den Medien diskreditiert und letzten Endes abgesetzt. Kurz darauf startete die „Kritik an den Kadern“-Kampagne, nach welcher eine große Anzahl von langgedienten und verdienten Politikern aus Parteiführung und Regierung wie auch aus den Streitkräften von der Bildfläche verschwanden. Parallel dazu wurde der Familie des Staatspräsidenten Liu Shaoqi das Leben zur Hölle gemacht, indem Aussagen ihrer Kinder gegen Liu und seine Frau Wang Guangmei in langen Kritik- und Kampfsitzungen verwendet wurden. Premierminister Zhou Enlai versuchte unermüdlich, für Liu zu kämpfen und zumindest die Würde des Amtes des Präsidenten der Volksrepublik zu retten. Seine Anstrengungen waren jedoch vergebens.

Am 7. August 1967 schrieb Liu an Mao einen Brief, mit welchem er von seinem Amt zurücktrat. Mao reagierte jedoch nicht. Maos Plan war es, Liu auf dem Neunten Parteikongress, der zu Ende des Jahres 1967 stattfinden sollte, in aller Öffentlichkeit zu stürzen. Liu wurde im Zhongnanhai-Palast unter Hausarrest gesetzt und durfte seine Familie nicht mehr sehen. Seine Gesundheit verschlechterte sich aufgrund der physischen Gewalt der unzähligen Kritiksitzungen zusehends. Auf dem 12. Plenum des Parteikongresses, bei welchem allen Teilnehmern, die in der Kritik der Kulturrevolution standen, das Stimmrecht entzogen war, wurde Liu schließlich in Abwesenheit seiner revisionistischen und reaktionären Taten überführt und aus der Partei ausgeschlossen. Am 2. November verkündeten alle Zeitungen diese Nachricht.

Im Rahmen eines Staatsbesuchs sowjetischer Minister in Peking Ende Oktober befürchteten Mao und Lin einen gleichzeitigen sowjetischen Überraschungsangriff und ließen die gesamte Regierung inklusive Liu evakuieren. Liu überlebte die Evakuierung nicht und starb am 12. November 1969 in Kaifeng. Seine Leiche wurde anonym verbrannt, seine Angehörigen wurden über den Tod nicht informiert. Erst im Jahre 1980 wurde er mit den ihm zustehenden Ehren bestattet.

Einsatz der Volksbefreiungsarmee und Niederschlagung der „Roten Garden“

Um die Revolution wieder unter Kontrolle zu bringen, musste die oberste Führung schließlich die Volksbefreiungsarmee einsetzen. In blutigen Kämpfen, die das ganze Land erfassten, wurden die „Roten Garden“ schließlich im April 1969 niedergeschlagen. Die meisten Rotgardisten wurden zur „Umerziehung“ aufs Land, oft in die abgelegensten Teile Chinas, geschickt.

Auf dem 9. Parteitag 1969 wurde die Kulturrevolution für beendet erklärt und Marschall Lin Biao wurde offiziell zum Nachfolger Maos bestimmt. Der so genannten Viererbande unter der Führung von Maos Ehefrau Jiang Qing gelang es, das Prinzip der von Mao geforderten „ständigen Revolution“ weiterhin aufrechtzuerhalten. Dies dürfte die Hauptursache für den daraufhin sichtbar werdenden Konflikt zwischen Mao einerseits und Teilen der Volksbefreiungsarmee (VBA) andererseits gewesen sein. Während Lin Biao als Repräsentant der VBA die Rückkehr zur Normalität forderte, plädierten Mao und die Linken in der KPCh für eine Fortsetzung des Ausnahmezustands. Im September 1971 kam Lin Biao bei einem bis heute ungeklärten Flugzeugabsturz – wahrscheinlich versuchte er in die Sowjetunion zu fliehen – ums Leben.

Folgen

Erst nach Mao Zedongs Tod (1976) wurde die Kulturrevolution endgültig beendet. Die Viererbande wurde verurteilt und Deng Xiaoping rehabilitiert. Eine immer noch unbekannte Zahl von Toten (die Schätzungen der Todesopfer schwanken stark von Hunderttausenden bis zu einigen Millionen) und eine vollkommen traumatisierte, ja zerstörte Bildungsschicht waren ihr Erbe.

Heute bewertet die KPCh die Kulturrevolution als „schweren Fehler des Genossen Mao Zedong in seinen letzten Jahren“.

Literatur

  • Günther Roth: Politische Herrschaft und Persönliche Freiheit, Frankfurt/M. 1987; S. 87–136
  • Li Zhensheng: Roter Nachrichtensoldat; Berlin: Phaidon, 20042; ISBN 0-7148-9381-1
  • Y.C.Kuan: Mein Leben unter zwei Himmeln; München: Knaur, 2001; ISBN 3-426-77661-8 (Der 1931 in Kanton geborene und heute in Deutschland lebende Y. C. Kuan erzählt seine Lebensgeschichte, wie er als hoher politischer Beamter zur Zeit der Kulturrevolution in Verdacht gerät, ein Konterrevolutionär zu sein, und über Nacht aus seiner Heimat fliehen muss.)
  • Jung Chang: Wilde Schwäne; München: Knaur, 2001; ISBN 3-426-62640-3
  • Ken Ling, Miriam London, Li Ta-ling: Maos Kleiner General. Die Geschichte des Rotgardisten Ken Ling; Deutscher Taschenbuch Verlag 1974; ISBN 3-423-01024-X
  • Dai Sijie: Balzac und die kleine chinesische Schneiderin; München, Zürich: Piper, 2007; ISBN 978-3-492-25079-5 (Belletristik)
  • Emily Wu: Feder im Sturm. Meine Kindheit in China; Hamburg: Hoffmann und Campe, 2007; ISBN 978-3-455-50034-9
  • Gao Xingjian: Das Buch eines einsamen Menschen; Frankfurt/Main: Fischer, 2006; ISBN 978-3-596-15241-4

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