- Chinesische Kultur
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Als Chinesische Kultur (chin. 中華文化 Zhōnghuá wénhuà) bezeichnet man die Gesamtheit der spezifisch in China anzutreffenden kulturellen Aspekte wie Denkweisen, Ideen und Vorstellungen sowie deren Verwirklichung im Alltagsleben, in der Politik, in Kunst, Literatur, Malerei, Musik und anderen Bereichen menschlichen Lebens. In erheblichem Maße hat sie die Kultur anderer ost- sowie auch südostasiatischer Staaten wie insbesondere Japan, Korea und Vietnam beeinflusst.
Inhaltsverzeichnis
Wurzeln
Die heutige chinesische Kultur speist sich aus einer Reihe verschiedener philosophischer und weltanschaulicher Traditionen:
Die in der ersten Dynastie Chinas vorherrschende Religion war schamanistisch geprägt (siehe auch Fangshi) und Vorstellungen dieser Religion übten auch auf spätere Erscheinungen der chinesischen Kultur Einfluss aus, beispielsweise auf Ahnenverehrung und Naturphilosophie. Stärker mit den menschlichen Beziehungen befasste sich der im 5. Jahrhundert v. Chr. entstandene Konfuzianismus, der vielfach als Inbegriff der chinesischen Kultur überhaupt angesehen wird. Der von Laozi etwa zur selben Zeit begründete Daoismus stellt indes das Leben im Einklang mit der Natur in den Vordergrund. Han Feizi propagierte kurz vor der Zeitenwende den weitaus weniger folgenreichen Legalismus, nach dem ein geordnetes Zusammenleben der Mensch in erster Linie durch Kontrolle und Strafen zu erreichen sei. Wenig später wurde mit dem in Indien entstanden Buddhismus erstmals ein fremdes Element in den chinesischen Kulturkreis integriert, sehr bald aber den lokalen Verhältnissen angepasst („sinisiert“).
Im Anschluss kamen fast zweitausend Jahre lang keine wesentlich neuen Impulse mehr hinzu. Vielmehr wurden die vorhandenen, zeitweise heftig miteinander konkurrierenden Schulen ständig neu interpretiert. Insbesondere sind die seit dem 16. Jahrhundert zu verzeichnenden Bemühungen christlicher Missionare um Etablierung ihrer Religion im Reich der Mitte weitgehend im Sande verlaufen und gewannen keinen nachhaltigen Einfluss auf die chinesische Kultur.
Erst Anfang des 20. Jahrhunderts gelang mit dem Kommunismus erstmals wieder einer neuen Lehre der Einzug in China. Von 1949 bis in die frühen 1980er Jahre war er die alles beherrschende Staatsdoktrin. Auf dem Höhepunkt seines Einflusses gipfelte er 1966-1976 in Mao Zedongs Kulturrevolution, die ihren Namen gerade der In-Frage-Stellung und Bekämpfung der jahrtausendealten chinesischen Kultur und insbesondere ihres konfuzianischen Kerns verdankt. Letztlich war diesem Unterfangen im Verhältnis zu den Opfern wenig Erfolg beschieden. Gegenüber den von der Kulturrevolution unberührten chinesischen Kulturen in Hong Kong, Taiwan oder den zahlreichen Übersee-Gemeinschaften fallen dennoch die vergleichsweise geringere Bedeutung religiöser Brauchtümer und anderer traditioneller Werte und Rituale auf. Eine gewisse Erosion erlebt die klassische chinesische Kultur derzeit zudem im Zuge der Globalisierung und der damit verbundenen Nivellierung der Lebensstile.
Wesenszüge
Es lassen sich eine Reihe charakteristischer Wesenszüge der chinesischen Kultur feststellen. Verallgemeinerungen sollten freilich vermieden werden, zumal die Merkmale nicht zu allen Zeiten und in allen Teilräumen Chinas gleichermaßen ausgeprägt waren und überdies zwischen kulturellen Idealen und der Lebenswirklichkeit - wie in anderen Ländern auch - mitunter eine beträchtliche Divergenz besteht. Im folgenden können daher nur Grundlinien und zentrale Tendenzen dargestellt werden:
Gruppendenken und Insider-Outsider Diskriminierung
Im westlichen Kulturkreis wird oft ein Dreiklang besonderer Eigenheiten der chinesischen Kultur als Schlüssel zum Verständnis Chinas angeführt: „Gesicht“ (面子 miànzi), „Beziehungen“ (关系 guānxi) und „Höflichkeit“ (礼貌 lǐmào). In welchem Maß diese Merkmale und die nachfolgend dargestellten Wesenszüge der chinesischen Kultur sich im Verhalten des Einzelnen widerspiegeln, wird jedoch in erster Linie von der Gruppenzugehörigkeit der Interaktionspartner bestimmt.
Gruppendenken und Insider-Outsider-Diskriminierung sind zentrale Elemente der chinesischen Kultur. Sie determinieren gleichzeitig, in welchem Ausmaß und in welchen Situationen die übrigen kulturellen Charakteristika Niederschlag im gesellschaftlichen Leben finden. Sie manifestieren sich in einer Vielzahl oft unüberschaubarer und objektiv kaum identifizierbarer Linien. Relativ offensichtlich ist jedoch die auch in anderen Kulturkreisen übliche Unterscheidung zwischen Familienmitgliedern (家人 jiārén) und Nicht-Familienmitgliedern (非家人 fēi jiārén). Darauf folgt die Unterscheidung zwischen den „eigenen Leuten“ (自己人 zìjǐrén) und den „Outsidern“ (外人 wàirén) - wobei die Differenzierungskriterien hierbei überaus komplex sind und von der regionalen Herkunft, der Clan-Zugehörigkeit oder dem Familiennamen, der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen bis hin zur Abteilungszugehörigkeit am Arbeitsplatz oder dem Arbeitgeber bzw. Danwei reichen können. Für Außenstehende sind diese Kriterien und der genaue Verlauf der resultierenden Insider-Outsider-Demarkationslinie allerdings in der Regel kaum nachvollziehbar. Die letzte und wiederum relativ leicht nachvollziehbare Differenzierung ist die zwischen (ethnischen) Chinesen (中国人 Zhōngguórén) und Nicht-(ethnischen) Chinesen (外国人 Wàiguórén).
Vorstellungen, Erwartungen und Verhalten werden wie selbstverständlich an diesen Linien entlang variiert. An jeder der aufgezeigten Demarkationslinien zeigt sich zudem ein äußerst ausgeprägter Outgroup-Bias. Vor allem das eng mit der chinesischen Kultur verwobene Harmoniebedürfnis tritt hier oft in den Hintergrund und kann bis zur kompromisslosen Durchsetzung von Ingroup-Interessen (z. B. den Interessen von Familienmitgliedern, eigenen Leuten oder (ethnischen) Chinesen) gegenüber Outgroup-Interessen (z. B. den Interessen von Nicht-Familienmitgliedern, Outsidern oder Nicht-(ethnischen) Chinesen) führen. Innerhalb der jeweiligen Gruppen dominieren hingegen im Allgemeinen wieder Harmoniebestreben und Gruppendenken.
Harmonie
Ein prägendes Merkmal der chinesischen Vorstellungswelt war von jeher die Idee, dass sich der Kosmos in einem harmonischen Gleichgewicht befinde, das es zu erhalten und bei Bedrohungen wiederherzustellen gilt. Klassischen Ausdruck gefunden hat sie etwa im Yin-Yang-Denken oder auch in der Analogie der Fünf-Elemente-Lehre, wonach auch bestimmte Farben, Jahreszeiten, Stimmungen, Stoffe, Planeten, Körperteile einander entsprechen und aufeinander abzustimmen seien. Später hat insbesondere der Daoismus die harmonischen Beziehungen zwischen Himmel, Erde und Mensch umfassend thematisiert. Eine besondere Rolle bei der Wahrung der Harmonie kam dabei stets dem Kaiser als „Himmelssohn“ zu, in dessen Pekinger Palast nicht wenige Gebäude sogar die „Harmonie“ im Namen tragen.
Analog dazu wird aber auch Harmonie in den menschlichen Beziehungen angestrebt. Konflikte werden daher grundsätzlich als Störung empfunden und man versucht sie nach Kräften zu vermeiden.
Die kompromisslose Durchsetzung eigener Interessen gilt in China, selbst und gerade wenn sie unter Berufung auf verbindliches „Recht“ erfolgt, als unmoralisch und wird entsprechend sanktioniert. Vielmehr wird in aller Regel in langwierigen Prozessen versucht, eine alle Beteiligten zufriedenstellende Kompromisslösung zu suchen. Selbstverständlich verbietet sich vor dem Hintergrund auch ein schroffes „Nein“, was freilich häufig dazu führt, dass ein „Ja“ nicht immer als verbindlich betrachtet werden darf. Als Harmoniestörungen werden aber auch Kritik am Gegenüber, allzu heftige Äußerungen von Emotionen wie Wut, Ärger, Trauer oder Freude sowie das Preisgeben zu vieler Informationen über die eigene Person (mit Ausnahme finanzieller Dinge) wie auch das Belasten anderer Menschen mit eigenen Problemen, Sorgen oder Intimitäten betrachtet.
Geschätzt werden leises und zurückhaltendes Auftreten, ruhiges bis sanftes Sprechen, würdige Gesten sowie Gelassenheit gegenüber Ärgernissen. Letztere kommt insbesondere in der häufig gebrauchten Redewendung Méi yǒu guānxi (沒有關係; „Das hat keine Bedeutung“) zum Ausdruck. In manchen Zusammenhängen, wie etwa Gastbesuchen, wird auch überschwängliches Lob erwartet.
Soweit heute im Gegensatz hierzu lautes, rücksichtsloses Verhalten von Chinesen zu beobachten ist, hat das insbesondere eine Ursache: Die Harmoniepflicht gilt uneingeschränkt nur im Bereich der eigenen Danwei-Gemeinschaft, nicht aber in der weiteren Öffentlichkeit. Vom Drängeln an der Bushaltestelle kann daher keineswegs auf das Verhalten derselben Person in der Familie oder im Betrieb geschlossen werden.
Gesicht
Unter Gesicht wird im chinesischen Kulturkreis nicht nur das physische Antlitz verstanden, sondern auch die Meinungen, die andere über eine bestimmte Person haben, bzw. die Wertschätzung die ihr entgegengebracht wird. Auf ihr Gesicht legen Chinesen traditionell großen Wert.
Gesicht „verliert“ etwa, wer den an ihn in seiner sozialen Rolle etwa als Vater, Angestellter, Student etc. gestellten Anforderungen nicht genügt. Besonders stark ist der Gesichtsverlust dann, wenn dieses Defizit auch durch andere etwa durch Kritik, Zurechtweisung, Bloßstellung etc. vor Dritten ausdrücklich festgestellt wird, wobei in diesen Fällen meist auch der Kritisierende Gesicht verliert. Tief sitzt bei Chinesen von Kindheit an die Angst, ausgegrenzt oder „ausgelacht“ zu werden; Oskar Weggel spricht insofern von einer chinesischen Schamkultur, die er der westlichen Schuldkultur gegenüberstellt. Letztlich führt diese Haltung zu einem erhöhten Konformitätsdruck, der wiederum das unten angesprochene „Ritualisierungsprinzip“ verstärkt. Ebenfalls zu Gesichtsverlust führen Verstöße gegen das o.g. Harmoniegebot, etwa durch das Zeigen von Ärger und Wut.
Häufig hindert die Angst vor dem Gesichtsverlust Chinesen daran, auch nur geringe Wagnisse und Risiken einzugehen. So wird hiermit etwa die Scheu chinesischer Hotelangestellter erklärt, (ausnahmsweise) in Vertretung Aufgaben zu übernehmen, die ihnen nicht ausdrücklich zugewiesen worden sind. Auch das Ignorieren von Anfragen, die nur abschlägig beschieden werden könnten, hängt häufig mit der Gefahr des Gesichtsverlusts für beide Seiten zusammen.
Indirektheit
Das Harmonieprinzip wie auch die Lehre vom Gesicht erzwingen in der Kommunikation häufig ein erhebliches Maß an Indirektheit. Es wird vermieden, „mit der Tür ins Haus zu fallen“. „Heiße Eisen“ werden nicht unmittelbar behandelt, vielmehr bewegen sich die Gesprächspartner in zahlreichen Windungen und allgemeinen Bemerkungen auf das eigentliche Thema zu. Zentrale Aussagen werden oft kurz gehalten und obendrein an wenig exponierter Stelle, etwa in Nebensätzen versteckt. Eine wichtige Rolle kommt insofern auch der nonverbalen Kommunikation sowie der Verwendung von Gleichnissen und Symbolen zu.
Eine beliebte Technik ist das sogenannte Schattenschießen, bei der Kritik formal nicht gegen den eigentlichen Adressaten, sondern gegen eine andere Person gerichtet wird; häufig wird sie auch „Auf den Maulbeerbaum zeigen, die Akazie schmähen“ genannt. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die „Anti-Konfuzius-Kampagne“ des Jahres 1974, die sich mitnichten gegen den antiken Philosophen wandte, sondern vielmehr gegen seinen prominenten zeitgenössischen Verehrer, den Politiker Zhou Enlai. Auch kritisierte das Drama „Die Amtsenthebung des Hai Rui“ aus der Feder des stellvertretenden Oberbürgermeisters von Peking, Wu Han, keineswegs den Ming-Kaiser Jiajing, sondern vielmehr den großen Vorsitzenden Mao Zedong höchstpersönlich, der 1959 einen „modernen“ Hai Rui des Amtes enthoben hatte - nämlich den Marschall Peng Dehuai.
Aber selbst die Technik des Schattenschießens ist traditionell nur einflussreichen, fest im Sattel sitzenden Persönlichkeiten vorbehalten. Der gemeine Bürger muss etwaige Kritik noch subtiler vorbringen und ist häufig darauf beschränkt, die eigenen Leiden zu schildern ohne auf die sie hervorbringende Handlung des indirekt Kritisierten ausdrücklich einzugehen. Beispiele finden sich etwa in den Werken der Schriftsteller Mao Dun und Ding Ling. Bei dem Film „Bittere Liebe“ führte selbst bereits die Darstellung eines Menschen, der ein großes Fragezeichen in den Schnee malt, zu einer monatelangen Kampagne der KPCh gegen Buchautor und Regisseur.
Kollektivität
Im Denken der chinesischen Gesellschaften genießt von jeher die Gemeinschaft einen größeren Stellenwert als der Einzelne. Symptomatisch kommt sie bereits in der konfuzianisch geprägten Familie, vor allem aber im Dānwèi (單位) zum Ausdruck, kleine, überschaubare Kollektive, die etwa in einer Dorfgemeinschaft, einem Betrieb, einer Hochschule, einer Armee-Einheit oder dergleichen bestehen können.
Traditionell sorgt der Danwei für alle Belange seiner Mitglieder, mischt sich dafür aber häufig in erheblichem Maße in ihre Privatangelegenheiten ein: Zu den Aufgaben des Danweis konnten je nach Zeitperiode u. a. gehören: Zuweisung von Wohnung und Arbeit, Verteilung der Löhne, Prämien und Bezugsscheine, Bereitstellung lokaler Infrastruktur, Heirats-, Scheidungs- und Schulbesuchserlaubnis, Rekrutierung zum Milizdienst, Freizeitgestaltung, politische Schulung, Ausübung der Zensur, Streitschlichtung, niedere Justizaufgaben. Bei aller Kontrolle bietet der Danwei dem Einzelnen aber auch ein gewisses Maß an Demokratie, Partizipation und Mitbestimmung, von denen er im sog. Trans-Danwei-Bereich, also auf nationaler Ebene, ausgeschlossen ist.
Die Mitgliedschaft im Danwei ist grundsätzlich lebenslang, ein Wechsel in einen anderen Danwei normalerweise nicht vorgesehen. Auch erwartet der Danwei von seinen Mitgliedern unbedingte Loyalität sowie Solidarität untereinander. Bezeichnenderweise gelten die konfuzianischen sittlichen Pflichten in vollem Umfang nur im Danwei-, nicht aber im Transdanwei-Bereich – was etwa dazu führen kann, dass man dem Leid und Unglück Danwei-fremder Personen relativ reserviert und gleichgültig gegenübersteht und schon gar nicht helfend eingreift.
Stark ausgeprägt ist das Danwei-Wesen heute noch auf dem Land. In den Städten hat sich indes bereits vor längerer Zeit insofern eine Aufspaltung vollzogen, als das einzelne Individuum sowohl einer Wohn-, als auch einer Arbeitsdanwei mit unterschiedlichen Aufgaben angehört. Nachdem die Bedeutung der Danweis unter dem Maoismus einen historischen Höhepunkt erreicht hatte, ist seit Anfang der 1980er Jahre im Zuge der wirtschaftlichen Reformpolitik insofern ein Rückgang zu verzeichnen.
Das im Danwei-Wesen tief verwurzelte Kollektiv-Denken führt dazu, dass Chinesen bis heute gemeinschaftlichen Aktivitäten den individuellen vorziehen. Arbeit, Leben und Freizeitgestaltung vollziehen sich weitgehend in der Gruppe. Einzelgänger und Individualisten werden traditionell wenig geschätzt. Dementsprechend kommt auch der „Privatheit“ in China geringerer Stellenwert zu als im Westen. Zumindest innerhalb des eigenen Danweis werden etwa unangemeldete Besuche oder aus westlicher Sicht „zudringliche“ Fragen durchaus akzeptiert.
Hierarchiebewusstsein
Bereits Konfuzius hatte die menschlichen Beziehungen nach asymmetrischen Über-/Unterordnungs-verhältnissen wie Vater/Sohn, Ehemann/Ehefrau, Herr/Diener, Meister/Schüler unterteilt und auf ihrer Grundlage ein komplexes hierarchisches Gebäude entwickelt. Bereits in der Kaiserfamilie unterschied man strikt die Ränge der verschiedenen Gemahlinnen, Nebenfrauen, Konkubinen und Prinzen. Nach ihr kamen die ihrerseits in 18 Ränge unterteilten Beamten, es folgten die Bauern, die verschiedenen Handwerksberufe, dann die nach ihren Handelswaren unterschiedenen Kaufleute. Selbst bei den sozial Deklassierten am unteren Ende der Skala reihte man etwa Huren noch höher ein als Schauspieler. Auch innerhalb der Geschwisterreihen einer Familie wurden etwa die Brüder nach dem Alter sortiert, nach ihnen kamen die Schwestern. Der Niedergestellte schuldet jeweils dem Höhergestellten Gehorsam, Respekt und Unterstützung, dieser jenem indes Schutz und Belehrung.
Auch heute noch ist hierarchisches Bewusstsein tief im Denken der meisten Chinesen verankert. Innerhalb eines Danweis kommt jedem Mitglied ein fester Platz und Rang zu, der von internen wie externen Personen gleichermaßen zu achten ist. Vielfach wird er durch penibel überwachte Statussymbole wie die Größe des Büros, des Schreibtisches oder Dienstwagens abgesichert. Bei Konferenzen kommt er in der Sitzordnung zum Ausdruck: An Langtischen etwa sitzen sich die Delegationsleiter in der Mitte gegenüber, zu ihrer Rechten sitzt jeweils der 2., zu ihrer Linken der 3. Mann in der Rangfolge. Änderungen der äußerlichen Sitz-, Steh- oder Marschordnung werden von Chinesen zwangsläufig als Verschiebungen im Machtgefüge gedeutet. Als etwa Liu Shaoqi zu Beginn der Kulturrevolution bei offiziellen Anlässen nicht mehr wie bisher als Zweiter hinter Mao, sondern erst als Siebter durch die Tür kam, galt dies allgemein als politisches Todesurteil. Nachgeordnete Mitglieder haben sich in die Verhandlung nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Delegationsleiters einzubringen. Sie dürfen von der Gegenseite auch nicht direkt, sondern nur unter strikter Einhaltung des Dienstwegs angesprochen werden. An die Delegationsmitglieder verteilte Geschenke haben in ihrer Wertigkeit deren Rangunterschiede widerzuspiegeln.
Ins krasse Gegenteil verkehrt wurde das Hierarchieprinzip während der Kulturrevolution. Rangniedere Chinesen wurden ausdrücklich dazu aufgefordert, oft geradezu dazu gedrängt, gegen die traditionellen Autoritäten zu rebellieren. Ein extremes Beispiel sind etwa die Schüler, die sich zu "roten Garden" zusammenrotteten, um etwa ihre Lehrer zu verhöhnen, zu demütigen oder gar zu verprügeln. Wenn diese Zustände auch nicht von Dauer waren, so lassen sich Ausläufer davon noch in der heutigen Hooligan-Literatur beobachten, Werke junger Chinesen, die sich über jegliche Autorität hinwegsetzen.
Ritualisierung
Ein weiterer Grundzug chinesischer Kultur ist die Ritualisierung. Viele Handlungen und Prozesse des täglichen Lebens unterliegen oder unterlagen strikten, unbedingt zu beachtenden Vorschriften. Vorgegeben werden sie zumeist von der Tradition und damit letztlich von den Vorfahren bzw. dem Meister, womit sich der Kreis zur bereits angesprochenen Hierarchisierung schließt. Die hohe Wertschätzung des Lernens gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie die in China zu allen Zeiten stark ausgeprägte Bürokratie.
Abweichungen von den Vorgaben werden bestenfalls belächelt, oft aber auch sanktioniert. Spontanität, Improvisation, Originalität oder Selbstverwirklichung sind insofern weitgehend verpönt, was zusammen mit der Angst vor dem Gesichtsverlust zu einem erhöhten Konformitätsdruck und zur geringen Verbreitung von Exzentrikern in China führt. Das Kopieren von Vorbildern indes gilt vor diesem Hintergrund ausdrücklich als erwünscht, lobenswert und keineswegs als verwerflich, was zur Erklärung der heute gerade in China florierenden Produktpiraterie beiträgt.
Beispiele für die Ritualisierung sind etwa die verschiedenen traditionellen Grußformeln und Verbeugungen, die sich exakt am Status des Gegenübers auszurichten hatten, die Art und Weise wie Essen serviert, Tee eingeschenkt oder Visitenkarten überreicht werden. Auch beim Schreiben ihrer Schriftzeichen achten die Chinesen üblicherweise penibel darauf, dass die Striche exakt in der verbindlich vorgeschriebenen Reihenfolge gezogen werden, selbst wenn dies anhand des „Endprodukts“ gar nicht mehr festgestellt oder nachvollzogen werden kann. Auch bei den kaiserlichen Beamtenprüfungen wurde von den Kandidaten die akribische Kenntnis und Wiedergabe der konfuzianischen Klassiker erwartet. Als pietätsvoller konfuzianischer Sohn hatte man nach dem Tod des Vaters – unabhängig von der tatsächlichen Stimmungslage - exakt drei Jahre zu trauern.
Vielfach wurde damit der über Jahrhunderte hinweg erstaunlich statische Charakter des chinesischen Gemeinwesens erklärt. In der Tat sind etwa Gemälde oder Erzählungen aus der Qing-Dynastie stilistisch oft kaum von ihren Vorbildern aus der Tang-Zeit zu unterscheiden; gleiches gilt für philosophische oder politische Ideen: Spätestens ab der Zeitenwende wurden die klassischen Lehren der Achsenzeit, also Konfuzianismus, Daoismus und Legalismus nur noch neu interpretiert; aufgrund der „Verehrung“ der Alten kam jedoch nichts bahnbrechend Neues hinzu. Mitte des 19. Jahrhunderts sollte die hierdurch erzeugte „Starrheit“ freilich zum Zurückfallen Chinas gegenüber dem Westen und damit zum Niedergang des Reiches und seinem Fall in halbkoloniale Abhängigkeit beitragen.
Diesseitigkeit
Ein weiterer Wesenszug der chinesischen Kultur ist ihre starke Ausrichtung auf das Diesseits. Am stärksten ausgeprägt ist diese im Konfuzianismus: Dort haben Fragen wie Aufbau und Herkunft des Kosmos, das Schicksal der menschlichen Seele oder die gesamte Thematik um Sünde und Erlösung von vornherein nie im Vordergrund gestanden; vielmehr hat sich der Meister vorwiegend mit dem menschlichen Zusammenleben nach den Grundsätzen der Sittlichkeit (禮 Lì) befasst.
Im Allgemeinen richten sich daher die Wünsche der Chinesen auch nicht auf ein „besseres Leben nach dem Tod“, sondern vielmehr auf eine möglichst lange Dauer des Lebens. Der Tod wird von den Konfuzianern als negativ zu bewertender Einschnitt betrachtet, was etwa die mit drei Jahren extrem lange Trauerzeit erklärt. Der traditionell stark ausgeprägte Ahnenkult dient in erster Linie der Abwehr von der Seele des Verstorbenen im Jenseits drohenden Anfechtungen, deren Folgen im Extremfall auf die Hinterbliebenen zurückfallen können.
Angesichts der negativen Bewertung des Todes stellt die Langlebigkeit (壽 shòu) für die Chinesen traditionell ein zentrales Ziel dar; für kaum einen Begriff gibt es in China so viele Symbole (u. a. Kranich, Hirsch, Kiefer, Pfirsich u. v. m.). Die Steigerung davon ist die Unsterblichkeit (不朽 bùxiǔ), die aber insbesondere von den Daoisten angestrebt wurde.
Aber auch für die Zeit des Lebens selbst stehen meist materielle Wünsche im Vordergrund, u. a. etwa Glück (福 Fú), Reichtum (富 Fù), eine einträgliche Stellung (祿 Lù) und Söhne (兒子 Érzi). So wünscht man einander „Zehntausendfaches Glück“ (萬福 Wànfú), schenkt sich Kalligraphien mit dem Zeichen „Langes Leben“, oder betet zum in jedem Dorftempel anzutreffenden „Gott des Reichtums“. Haben sich in der Qing-Zeit noch ganze Romane mit der Erlangung eines Beamtenrangs durch einen jungen Mann befasst, so ist an deren Stelle für die aufstrebende chinesische Jugend von heute der lukrative Job bei einem transnationalen Unternehmen getreten. Auch die traditionelle chinesische Wertschätzung für gutes Essen und demonstrativen Konsum gehören in diesen Zusammenhang.
Deutlicher treten metaphysische Elemente im Daoismus und im chinesischen Buddhismus hervor. Auch hier haben sich aber im Laufe der Zeit stärker dem Diesseits zugewandte volkstümliche Varianten entwickelt: So pflegt man etwa die daoistischen Gottheiten durchaus häufig mit höchst irdischen Wünschen wie dem nach Reichtum oder Kindersegen zu behelligen. Selbst der himmlische Hofstaat rund um den Jadekaiser spiegelt recht detailgetreu die realen Verhältnisse im chinesischen Reich wider. Die in China vorherrschende Variante des Buddhismus, die Mahayana-Schule, sieht - anders als die indische Urform Hinayana - die Möglichkeit einer stellvertretenden Erlösung des Menschen durch Bodhisattvas (insbesondere die vielfach verehrte Guanyin und Buddha Amitabha) vor, wodurch dem Einzelnen ein erheblich geringeres Maß an nur durch Askese und Meditation zu erlangender spiritueller Reife abverlangt und eine stärkere Hinwendung zum irdischen Leben ermöglicht wird. Auch im Chan-Buddhismus sind diesseitige Elemente relativ stark ausgeprägt.
Sinozentrismus
Hauptartikel: Sinozentrismus
Spätestens seit der Reichseinigung durch den ersten Kaiser Shi Huangdi im 3. Jahrhundert v.Chr. hat sich China als Zentrum der Welt und den - als "Barbaren" betrachteten - anderen Völkern überlegen gefühlt. Exemplarisch kommt dies bereits in der Selbstbezeichnung Zhōngguó (中國) zum Ausdruck, was im Deutschen als "Reich der Mitte" übersetzt wird. Ursprünge dieses Denkens sind kosmologische Vorstellungen, wonach die Welt eine geometrische aufgebaute Scheibe sei, in deren Zentrum China, der Kaiserpalast und schließlich der Kaiser selbst steht, der als Himmelssohn ein besonderes Mandat innehat.
Dementsprechend wurden im Laufe der Jahrhunderte immer mehr Nachbarvölker unterjocht und auf ihre Kosten das eigene Staatsgebiet vergrößert, bis es schließlich unter Kaiser Qianlong im 18. Jahrhundert eine Ausdehnung von ca. 12 Mio. km² erreichte und sich von Sibirien bis in den Himalaya erstreckte. Andere Länder wie Korea oder Vietnam machte man zu Vasallenstaaten. Mit fremden Herrschern verkehrte der Kaiser niemals auf gleicher Ebene, vielmehr wurden absolute Unterordnung, Tributzahlungen und als äußeres Zeichen des Respekts konsequent der mehrfache Kotau verlangt. Das Ansinnen des englischen Königs Georg III. auf Aufnahme gleichberechtigter diplomatischer Beziehungen musste daher auf Unverständnis und Widerstand stoßen.
Der gesamte chinesische Machtbereich wurde konsequent "sinisiert", also der eigenen Kultur angepasst. Umgekehrt gelang den Chinesen zwei Mal sogar die Sinisierung der Kulturen fremder Eroberervölker, nämlich der Mongolen in der Yuan- und der Mandschuren in der Qing-Dynastie. Selbst soweit es ausnahmsweise einmal zum Import fremder Lehren kam, wurden diese teilweise so konsequent sinisiert, dass sie am Ende mit ihrem Vorbild wenig gemein hatten. Beispiele hierfür sind der Buddhismus sowie in neuerer Zeit der Kommunismus.
Traditionell war man in China davon überzeugt, dass alles Nützliche und Wünschenswerte im eigenen Land entdeckt bzw. erfunden worden sei und man fremde Waren und Ideen daher nicht nötig habe. Dementsprechend schroff wies Kaiser Qianlong auch 1793 die Warenangebote der Abgesandten der Macartney-Mission zurück. Soweit man dennoch Kultur- und Technik-Importe zuließ, etwa während der kulturell offenen Tang-Dynastie oder später von den europäischen Missionaren, behalf man sich häufig mit Klitterungen der Wissenschaftsgeschichte: Rasch fand sich ein Gelehrter, der nachwies, dass etwa Astrolabien und Seismografen bereits vorher von Chinesen erfunden worden, dann aber in Vergessenheit geraten waren.
Einen erheblichen Einbruch erlebte das sinozentrische Prinzip, als China nach dem 1. Opiumkrieg gedemütigt in einen Status halbkolonialer Abhängigkeit fiel. In jüngster Zeit erlebt es wieder eine gewisse Renaissance, ist China doch im Begriff, sich nicht zuletzt infolge beeindruckenden Wirtschaftswachstums wieder an die Spitze der Nationen zu schieben.
China in der kulturvergleichenden Forschung
In der GLOBE-Studie wurden 61 Kulturen miteinander verglichen. China zeichnete sich dabei im weltweiten Vergleich durch eine hohe Ausprägung auf den Dimensionen Leistungsorientierung, Unsicherheitsvermeidung und Kollektivismus aus. Die Zukunftsorientierung war im internationalen Vergleich dagegen niedrig ausgeprägt.[1]
Ausdrucksformen
Die genannten Wesenszüge der chinesischen Kultur kommen sowohl im Alltagsleben, als auch in Politik, Kunst und anderen Bereichen menschlichen Daseins vielfältig zum Ausdruck. Da selbst eine überblickartige Darstellung den Rahmen dieses Artikels sprengen würde, sei auf die einschlägigen Fachartikel verwiesen, insbesondere
- Chinesische Kunst, Chinesische Malerei, Chinesische Kalligrafie, Chinesisches Porzellan, Chinesische Lackkunst, Chinesische Tapete
- Chinesische Architektur, Chinesische Gartenkunst
- Chinesische Literatur
- Chinesische Musik, Chinesische Oper, Chinesisches Puppentheater, Chinesisches Schattentheater
- Chinesische Philosophie, Konfuzianismus, Neokonfuzianismus, Daoismus, Buddhismus in China, Legalismus, Chinesischer Volksglaube, Chinesische Mythologie
- Chinesische Sprache, Chinesische Schrift, Chinesische Symbole
- Traditionelle chinesische Medizin
- Chinesische Küche, Chinesische Teezeremonie
- Chinesische Kampfkunst
- Chinesische Beamtenprüfung
- Soziales Verhalten in China
- Mui Tsai
Siehe auch
Literatur
- Oskar Weggel: "Die Asiaten". Frankfurt 1997, ISBN 3-423-36029-1
- ders.: "China." München 1994, ISBN 3-406-38196-0
- Xuewu Gu, List und Politik, in: Harro Senger (Hsg.): "Die List". Frankfurt 1999, S. 424ff., ISBN 3-518-12039-5
- Françoise Hauser (Hrsg.): Reise nach China - Kulturkompass fürs Handgepäck, Unionsverlag, Zürich 2009 ISBN 978-3-293-20438-6
- Ladstätter, Linhart: "China und Japan; Die Kulturen Ostasiens". Carl Ueberreuter, Wien 1983
- Martin Woesler: Chinas Gegenwartskultur. Untergrundkultur und Dialog, Bochum 2004.6, ISBN 978-3-89966-038-8, 52 S., Reihe Scripta Sinica 20
- Martin Woesler: Phänomen ,Clash of Civilizations' und Trend ,Weltkultur'. Kulturelle Identität, Kulturrelativismus, „The Other“, Rassismus, Nationalstolz, Vorurteile, Integration, Bochum ²2005, ISBN 978-3-89966-147-7, 58 S., Reihe Scripta Sinica 29
- du Halde, Jean Baptiste: Ausführliche Beschreibung des Chinesischen Reichs und der großen Tartarey, Bd 1, 3, 4, ISBN 978-3-941919-14-3, 22-8, 33-4, Rostock 1747-1749, eBooks.
Weblinks
- Verschiedene Artikel über einzelne Erscheinungen der chinesischen Kultur (englisch)
- Kritischer Artikel zum Begriff der chinesischen Kultur
- Artikel über chinesische Mentalität und Psychologie der chinesischen Kultur
Einzelnachweise
- ↑ House, Hanges, Javidan & Gupta (Eds.) Cultures, Leadership and Organizations: A 62 Nation GLOBE Study. Thousand Oaks, California 2004
Kategorie:- Kultur (China)
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